Samstag, 9. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (4)

Vierte Buchbesprechung zu o. g. Werk


ISBN-10: 3596512255
Weiter geht's mit der Buchbesprechung, und ich befinde mich auf der 450. Seite. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil, ein Kopf ohne Welt, ist längst abgeschlossen. Bis dahin bin ich noch gut mitgekommen, es war noch gut nachvollziehbar. 

Im zweiten Teil, kopflose Welt, da stehe ich ja selbst Kopf :D. Erst recht bin ich sehr neugierig auf den dritten Teil, Welt im Kopf. Ob sich mein Kopf bis dorthin wieder in die richtige Lage gedreht hat????

Der Erzähler hat mich getäuscht. In der letzten Buchbesprechung ging es ja darum, dass Kien von seiner Ehefrau Therese aus der Wohnung verwiesen wurde. Das klang alles recht authentisch, auch wenn es mir ein wenig unglaubwürdig erschienen, dass der  Professor mit solch einer hohen Intelligenz sich von seiner Frau hinaus werfen lässt. Aber im Leben ist alles möglich, bei den Menschen können sich sämtliche Charaktere erschließen lassen.

Der Rauswurf aus seiner Wohnung war nur inszeniert. Eigentlich wollte Kien nicht nur seine Leserin auf den Arm nehmen, sondern auch seine Frau, in erster Linie seine Frau. Er wollte sie eigentlich nur los werden, weg von ihr, und so sicher wie nur möglich. Indem er ihr die Macht übertrug, über die Wohnung und über seine Bibliothek zu verfügen, wurde er sie schließlich endgültig los. Sein Plan war es, von ihr hinausgeworfen zu werden, und hat alles so in Szene gesetzt, dass es soweit kommen musste... .

Nun beginnt eine fiktive Welt, für mich oder für den Professor, eine recht surreale Welt... . Befinde ich mich im Märchenland?, in dem ich mich schwer zurechtfinde, wobei mir die Bilder sehr gut tun, sie amüsieren mich der Kunst wegen, auch wenn das Thema im Hintergrund ein recht ernstes ist.

Der Professor speichert die neuen Bücher, die ihm in den Buchhandlungen ins Auge fassen, in seinem Hirn ab und es ist so, als würde er die Bücher kaufen, sie ins Hotelzimmer tragen, um sich eine neue Bibliothek anzulegen, und das alles im Kopf.
In den Hotels benutzt er nur Aufzüge, damit die Bücher beim Treppensteigen nicht aus den Regalen fallen, nein, nicht aus dem Kopf fallen :D. Doch als er sich in sein Hotelzimmer begibt, um die einzige Mahlzeit des Tages einzunehmen, versucht er seine Bücher surreal abzulegen, jedoch nicht auf den für ihn zu schmutzigen Teppichboden, sondern auf Packpapier, das er sich von dem Zimmermädchen bringen lässt:
So wurde es für eine zeitlang zu seiner Gewohnheit, jeden Abend neben dem Essen Packpapier zu bestellen; das alte ließ er des Morgens liegen. Die Bücher türmten sich höher und höher, aber auch wenn sie fielen, schmutzig wurden sie nicht, da alles mit Packpapier belegt war. Wenn er manchmal nachts voller Unruhe erwachte, so hatte er bestimmt ein Geräusch wie von fallenden Büchern gehört.
Eines Abends waren die Türme selbst ihm zu hoch; er besaß schon erstaunlich viele neue Bücher. Er verlangte eine Leiter. Auf die Frage, wofür er sie brauche, erwiderte er schneidend streng: " Das geht Sie nichts an!" 
Tja, selbst wenn das das Dienstmädchen wüsste, wofür Kien die Leiter braucht, sie würde ihn für verrückt halten. Ich stelle mir das Bild vor, *lach*, als der Professor die Leiter besteigt, um an die höheren Regale zu gelangen.

Seine Frau Therese beschäftigt ihn schon noch, und er ist der Meinung, dass sich ihre Habgier auf ihn, die Büchergier, übertragen hat.
Nun kommt das Märchenland; der Professor befindet sich im Idealen Himmel und lernt dort, von der Größe her, einen tückischen und buckligen Zwerg namens Fischerle kennen. Dieser Zwerg ist Schachmeister, und so wie der Professor Bücher und die Wissenschaften dazu liebt, so liebt der bucklige Zwerg das Schachspiel und auch hier die dazugehörige, komplizierte Theorie. Somit haben beide etwas Gemeinsames, während für den Professor die meisten Menschen untauglich sind, um Bücher zu lesen und um sie zu halten, so sind für den buckligen Zwerg Menschen, die kein Schach spielen, keine wirklichen Menschen, sondern alles nur Deppen... .
Fischerle wendet sich mit folgenden Fragen an den  Professor: "Spielen Sie  Schach?" Kien bedauerte sehr. 
"Ein Mensch, was ka Schach spielt, ist ka Mensch. Im Schach sitzt die Intelligenz, sag ich. Da kann einer vier Meter lang groß sein (eine Anspielung auf Kien, der recht groß ist, Anm. d.  Verf.), Schach muss er spielen, sonst ist er ein Tepp, (Tepp, statt Depp, ka statt kein..., Anm. d. Verf.). Ich kann Schach. Ich bin auch kein Tepp. Jetzt frage ich Sie; wenn Sie wollen, antworten Sie mir. Wenn Sie nicht wollen, antworten Sie nicht. Wozu hat ein Mensch den Kopf? Ich sag's Ihnen selbst, sonst  zerbrechenS` Ihnen noch den Kopf, und er wär´schad drum. Zum Schach hat er den Kopf.  
Kien erkennt sich in dem Zwerg erstaunt wieder und macht nun selbst die Erfahrung als Nichtschachspieler von einem anderen abgewertet zu werden...
Und beide haben eine Frau, und beide haben ihre Frauen nicht gut behandelt. Der Professor sieht in dem Zwerg auch hierin  einen Spiegel. 

Hier fängt es nun an, richtig kompliziert zu werden. Ich höre auf, mir viele Gedanken zu machen, ich ziehe jetzt einfach mit den Figuren nur mit.

Zwerg Fischerle beherrscht den Umgang nur mit den hölzernen Figuren, mit Menschen aus Holz, sowie der Professor nur die Menschen beherrscht, die aus Buchstaben bestehen. Dem Professor wird es bewusst, indem er gewisse kontroverse Szenen beobachtete, die zwischen den beiden Zwergen - Eheleuten mitbekommt. Auch der falsche Ton zwischen den Eheleuten, vorallem Fischerles gegenüber der  Frau, wird von Kien wahrgenommen. Fischerle, der seine Frau verbal völlig herunter macht und abwertet. Dies versetzt den Professor in Erstaunen und denkt an seine Frau zurück:
Noch nie hatte sich Kien so tief in einen Menschen eingefülht. Ihm war´s geglückt, sich von Therese zu befreien. Er hatte sie mit ihren Waffen geschlagen, sie überlistet und eingesperrt. Da saß sie nun auf einmal an seinem Tisch, forderte wie früher, geifte wie früher und hatte es, das einzige, was neu an ihr war, zu einem passenden Beruf gebracht. Doch ihr zerstörendes Treiben galt nicht ihm, ihn beachtete sie wenig, es galt dem Mann gegenüber, den die Natur durch eine traurige Etymologie ohnehin schon zum Krüppel geschlagen hatte. Kien stand tief in der Schuld dieses Menschen. Er musste etwas für ihn tun. Er achtete ihn. Wäre Fischerle nicht so fein geartet, er würde er ihm geradezu Geld anbieten. Sicher könnte er es brauchen.
Sicherlich kann der Zwerg Geld gebrauchen, die Wahrnehmung des Professors stimmt hierin überein, doch was er nicht weiß, ist, dass der Zwerg es auf seine Geldbörse mit den vielen dicken Scheinen abgesehen hat, um nach Amerika zu kommen... .  Kien nimmt  den Zwerg bei sich auf, und macht ihn zu seinem Famulus
" Kien fühlte sich verpflichtet, diesem Menschen, dem ersten, dem er in seinem Leben begegnet war, zu einer neuen und würdigen Existenz zu verhelfen. "Ich bin kein Kaufmann, ich bin Gelehrter und Bibliothekar!" sagte er und beugte sich entgegenkommend zum Zwerg hinunter. " Treten Sie in meine Dienste, und ich werde für Sie sorgen."
"Wie ein Vater", ergänzte der Kleine . "Habe ich mir gedacht. Also geh´n mir!" Er holte gewaltig aus. Kien trottete hinterher. Er suchte in Gedanken nach nach einer Arbeit für seinen neuen Schüler. Ein Freund darf nie drauf kommen, dass man ihn beschenkt. Er könnte ihm abends beim Abladen und Aufstellen der Bücher helfen.
Nicht vergessen, dass es sich hier um eine surreale Bibliothek handelt. 

Der Professor macht den Zwerg mit seiner neuen Aufgabe vertraut:
"Dann helfen Sie mir, bitte, beim Abladen der Bücher!" sagte Kien blindlinks und staunte über die eigene Kühnheit. Um alle lästigen Fragen abzuschneiden, holte ein ein Stoß aus dem Kopf hervor und reichte sie dem  Kleinen hin. Der bekam ihn mit seinen langen Armen geschickt zu fassen und sagte:" So viel! Wohin soll ich sie legen?"
" Viel?" rief Kiem ihm gekränkt." Das ist erst ein Tausenstel!"
Der Zwerg scheint dem Professor gut zu tun, noch nichts ahnend von seinen tückischen Listen, allerdings ist der nicht daran interessiert, den Zwerg zu einem Gelehrten zu machen, weil er der Meinung ist, der Zwerg sei dem nicht gewachsen genug. (Steht der Zwerg nicht für ein Sinnbild???)

Kien befand sich wieder, wie jede Nacht auch, bevor er einschlief, in China. Den besonderen Erlebnissen des Tages gemäß hatte seine Vorstellungen heute eine veränderte Form. Er sah einer Popularisierung seiner Wissenschaft ins Auge, ohne sofort aufzustocken. Er fühlte sich vom Zwerg verstanden. Er gab zu, dass man Gleichgesinnte Naturen findet. Wenn es einem gelang, diesen ein Stück Bildung, ein Stück Menschentum zu schenken, so hatte man etwas geleistet. Aller Anfang ist schwer. Auch ging es nicht an, eigenmächtig Vorschub zu leisten. Durch den täglichen Umgang mit solchen Mengen von Bildung würde der Hunger des Kleinen danach größer und größer; plötzlich würde man ihn dabei ertappen, wie er sich an ein Buch heran machte und es zu lesen versucht. Das durfte nicht sein, es wäre schädlich für ihn, er würde sich sein bisschen Geist verderben. Wie viel vertrug der arme Kerl schon? Man müsste ihn mündlich vorbereiten. Die persönliche Lektüre eilte nicht. (...).
Dieser ganze Absatz spricht mich voll an, denn hier zeigt sich der Professor auch ein wenig pädagogisch. So einfühlend kannte ich ihn bisher noch nicht. Und auch seine Weisheit, vgl.den Fettdruck oben, inspiriert mich völlig, wie an vielen anderen Textstellen auch.
Auch auf der Seite 391 findet man eine Veränderung in positiver Weise bei dem Professor vor:
Wenn Kien jemanden ansprach, verzog er keine Miene. Nur die Lippen bewegte er wie zwei scharfgeschliffene Messer. In erster Linie war es ihm um das Loskaufen der armen Bücher, in zweiter um die Besserung der Menschenbestien zu tun. In Büchern kannte er sich gut aus, in Menschen, wie er  zugeben musste, weniger. Er beschloss also, zum Menschenkenner zu werden.
Ich bin wirklich einmal gespannt, ob es ihm gelingen wird. Auf der Seite 429 bezeichnet Kien die Menschheit noch immer als Bücherschänder und als Bestien. 

Zur Abwechslung möchte ich jetzt wieder eine amüsante Textstelle wiedergeben. Es geht um die adäquate Körperhaltung des Professors, zur Schonung seiner geistigen Bibliothek, zu der sich Fischerle besorgt  zuwendet:
Auf Fischerles wiederholte Frage, ob er mit den Büchern anfangen dürfe, zuckte Kien gleichgültig die Achseln. Das Interesse für seine Privatbibliothek, die ohnehin in Sicherheit war, hatte abgenommen. Fischerle vermerkte die Änderung. Er witterte eine List, hinter die es zu kommen galt, oder eine Ritzel, durch die man ein paar kleine, aber schmerzhafte Hiebe versuchen konnte. Immer wieder erkundigte er sich nach den Büchern. Ob sie dem Herrn Bibliothekar nicht doch schon schwer fielen? Die momentane Lage sei weder der Kopf noch die Bücher gewohnt. Er wolle ja nicht reinreden, aber für die Unordnung im Kopf stehe er nicht gut. Ob man nicht wenigstens mehr Kissen verlangen solle, damit der Kopf in eine senkrechte Lage komme? Riss Kien den Kopf gar herum, so rief der Kleine mit allen Zeichen der Angst: " um Gottes willen, passen Sie auf!" Einmal sprang er sogar auf ihn zu und hielt die Hände unter sein rechtes Ohr, um Bücher aufzufangen ."Sie fallen ihnen heraus!" sagte er vorwurfsvoll.
Erkälten darf sich der Professor eigentlich auch nicht, denn in diesem Zustand droht ein großer Bücherverlust. Witzig wie Fischerle alle Anstrengungen unternimmt, diese zu retten:
Kiens Nase geriet in Fluss, und nachdem er es längere Zeit, ohne sich zu bewegen, geschehen ließ, beschloss er, aus Ordnungsliebend, gegen den großen, schweren Tropfen an der Spitze einzuschreiten. Er zog ein Taschentuch hervor und wollte sich auch gleich schnäuzen. Da stöhnte Fischerle laut auf.
" Halt, halt, warten Sie, bis ich komm!" Er riss ihm das Taschentuch aus der Hand, selber hatte er keins, näherte sich vorsichtig der Nase und fing den Tropfen wie eine kostbare Perle auf. "Wissen Sie was?", sagte er," ich bleib nicht bei Ihnen! Jetzt hätten Sie sich geschnäuzt, und die Bücher wären zur Nase herausgekommen! Wie die ausgeschaut hätten, brauchen Sie nicht zu sagen. Sie haben kein Herz für ihre Bücher! Bei so einem bleibe ich nicht!" Kien wurde sprachlos. Zumindest gab er ihm recht. (…)." Fischerle zeigt sich weiter in seiner Empörung: "Stellen Sie sich vor, ich schnäuze mich! Was würden Sie dazu sagen? Auf der Stelle entlassen würden Sie mich! Ein intelligenter Mensch benimmt sich nicht so. Fremde Bücher kaufen Sie los, und die eigenen behandeln sie wie einen Hund.
Sind das nicht schöne Textstellen? Ich finde sie so toll zu lesen... . Ich kann mir solche Bilder sehr gut vorstellen.
Aber dieses Wohlwollen des Zwerges ist keineswegs aufrichtig. Ich kann mich allerdings noch nicht in ihn hineinversetzen, weshalb ich mir ein paar Anmerkungen noch sparen werde.
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"Die rechte Vernunft liegt im Herzen". (Theodor Fontane)

SuB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 40