Posts mit dem Label Jeanne Proust werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Jeanne Proust werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 22. März 2020

Marcel Proust und seine kranke Mutter

Weiter geht es mit den Seiten von 423 bis 434 

Marcel Proust ist noch immer krank, und sicher immens gebeutelt, dass er als ein großer Gesellschafter in gesunden Tagen keine einzige Party verpassen möchte, so ist er jetzt dazu verdammt, sich zurückzuhalten und das Bett zu hüten. Seine multiplen Erkrankungen führen ihn in eine  langwierige Zwangsisolation. Wer Proust kennt, der kann sich schwer vorstellen, dass er monatlich nur eine Stunde ausgeht. Hinzu kommt seine plötzlich schwer erkrankte Mutter, die ihm große Sorgen bereitet.

An Robert Dreyfus
Mitte Mai 1905, noch ist Proust 33 Jahre alt
Ich gehe ungefähr einmal im Monat für eine Stunde aus und liege danach eine Woche im Bett, habe Fieber, ganz zu schweigen von meinen Asthma-Anfällen. Was meinen Freund angeht, so kann ich Dich, wenn es dienlich sein sollte, nur brieflich mit ihm in Verbindung setzen. (423)

Aber Proust macht das Beste daraus. Er weiß sich zu Hause geistig zu betätigen. Das zeigt die große Anzahl seiner Briefe.
Ich hoffe, das Leben ist Dir hold und dass Du das Glück in fruchtbarer Arbeit findest. Meinerseits bin ich zurzeit, da Du Dich so liebenswürdig danach erkundigst, nicht allzu unglücklich. Ich schaffe es, ein wenig zu arbeiten – außer seit meinen entsetzlichen Anfällen – und führe ein sehr sanftes Leben, das aus Ruhe, Lektüre und einem ganz arbeitsamen Zusammensein mit Mama besteht. (424)

Auf den folgenden Seiten erkrankt allerdings auch seine Mutter seit zwei Wochen an einer schweren Harnvergiftung. Proust ist besorgt, verzweifelt, sie verweigert sogar seit zwei Wochen die Nahrung, während die Mutter sehr unvernünftig mit ihrem Leiden umgeht. Er schreibt an eine Freundin.

An Geneviève Straus
25.09.1905, Proust ist hier 34 Jahre alt
Sie ist gegenwärtig in einem entsetzlichen Zustand. Mama, die uns so sehr liebt, begreift nicht, wie grausam es von ihr ist, sich nicht behandeln lassen zu wollen. Sie ist schon mit einer akuten Urämie nach Evian gefahren, von der niemand etwas ahnte und die sich erst in Paris herausgestellt hat, denn in Evian selbst war sie nicht zu bewegen, eine Analyse durchführen zulassen. Während ich allein mit ihr in Evian war, musste ich zu meinem Kummer und trotz allen Zuredens mitansehen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schwindelanfälle schon am frühen Morgen in den Salon des Hotels hinunterging und sich dabei auf zwei Personen stützen musste, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer Schwäche, von deren Ausmaß Ihnen allein schon die Tatsache, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr zu sich genommen hat, eine Vorstellung zu geben vermag, lässt sie sich auch weiterhin jeden Morgen wecken, waschen, peinlich genau ankleiden, was Gift für sie ist. (433)

Schon kompliziert. Die Erkrankung nicht einsehen zu wollen, und ich mich beim Lesen dieser Zeilen gefragt habe, ob sich Madame Proust für unsterblich hielt? Nun wird mir auch klar, wieso Prousts Eltern die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Erkrankung so wenig in Betracht haben ziehen können. Die Krankheiten scheint man in diesem Haus sehr leichtfertig hingenommen zu haben. Mir scheint, dass Jeanne Proust wie eine Pubertierende bockt, da sie nicht einmal einen Arzt an sich heranlassen möchte.
Und unmöglich, sie dazu zu bringen, ein Medikament zu nehmen oder etwas zu essen. (…) Immerhin geht es seit gestern etwas besser, nur ganz geringfügig, doch der Arzt (sofern Mama seine Besuche zulässt), versichert uns, dass Mama, sollte sie die Krise überwinden, wieder zu ihrer alten Gesundheit zurückfinden wird. Mir fällt es schwer, das zu glauben. (…) Ich habe mir immer gewünscht, nach ihr zu sterben, damit ihr der Schmerz erspart bliebe, mich zu verlieren. (Ebd)

Marcel Proust hat sich durch seine eigene schwere Erkrankung bereits in jungen Jahren mit Leben und Tod befasst. Sein Wunsch, nach seiner geliebten Mama zu sterben, um ihr den Trauerschmerz zu ersparen, ist sehr außergewöhnlich. Aber der Sohn erkennt ohnehin, dass sein Leben ohne seine Mutter ebenso qualvoll empfunden werden kann, besonders, weil er auch bis zum Schluss eine enge Bindung zu ihr gehalten hatte, obwohl er mittlerweile durch und durch zu einem erwachsenen Mann herangewachsen ist. Es war seine Mutter, die ihn an kranken Tagen am meisten versorgt hatte.
Aber ich weiß nicht, ob ihre Angst bei dem Gedanken, vielleicht von uns zu gehen, mich, der ich so unfähig dazu bin, allein im Leben zurückzulassen, oder vielleicht eingeschränkter, gebrechlicher noch weiterzuleben, ihr vielleicht noch größere Qualen bereitet. (433)

Die Mutter überlebt die Krankheit bedauerlicherweise nicht und stirbt mit 56 Jahren an den Folgen ihres Leidens. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Wie Marcel Proust am selben Tag an Robert de Billy schreibt, (…) war seine Mutter an einer Urämie (...) erkrankt. Sie stirbt knapp zwei Wochen später, am 26. September, in Paris. (432)

Telefongespräch mit Anne 
Wir haben nicht nur aber hauptsächlich über Prousts kranke Mutter gesprochen. Anne nannte sie die sture Kranke, passte zu meiner Interpretation die bockige Pubertierende. Jeanne Proust nahm ihr Leiden zu leichtfertig hin, was sie letztlich in den Tod führte. Sie hätte mit zeitiger und richtiger medizinischer Behandlung genesen können. Anne und ich sind neugierig, wie Marcel nun sein Leben fortsetzen wird, nachdem seine wichtigste Bezugsperson nur noch auf dem Friedhof zu finden sei. Wir haben uns beide daran erinnert, wie sehr Prousts Erkrankung von den Eltern auch auf die leichte Schulter genommen wurde, mit dem Vorwurf, er würde seine Leiden zu arg hochspielen. Anne zeigte sich betroffen darüber, dass die Mutter zwei Wochen lang die Nahrung verweigert hatte und hat versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Wie ist das, zwei Wochen lang nichts zu essen und nichts zu trinken?, war ihre Frage. Als gesunder Mensch ist das auch schwer vorstellbar. 

Auch sprachen wir über die intellektuellen Gespräche, die Proust mit seinen Briefpartner*innen weiterhin führte. Probleme zeigten sich wiederholt mit Robert de Montesquiou, und lässt sich darüber in einem Brief an Maurice Duplay aus. Montesquiou hatte Marcel ein Fragment aus seinem neuen Buch vorgelesen. Montesquiou bat Proust, sieben Personen seiner Wahl für eine Lesung einzuladen. In einem Brief hatte Proust gebeten, noch weitere Personen hinzuzufügen, mitunter auch Maurice Duplay einzuladen, wies der Schriftsteller ab, da dies den Charakter seiner Lesung verändern würde. (426f). Uns beiden, Anne und mir, wird dieser Montesquiou immer unsympathischer. Siehe auch letzte Briefe, letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es nächstes Wochenende auf den Seiten von 434 – 447.

___________________
Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


Gelesene Bücher 2020: 06
Gelesene Bücher 2019: 34
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

__________________
Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 27
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

_______________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 25
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Montag, 14. Oktober 2019

Eine belastende Mutter-Sohn-Beziehung

Auf den folgenden Seiten von 321-330 sind Anne und ich über den Konflikt zwischen Mutter und Sohn ein wenig schlauer geworden.

In dieser Besprechung werde ich nur auf einen Brief eingehen, und zwar geht es um einen recht langen Brief an die Mutter, den ich unbedingt analysieren möchte. Die anderen Briefe geben mir nicht so viele Inputs und lasse sie aus.

Des Weiteren erfährt man aus den Fußnoten wiederholt, dass Proust mehrere selbst verfasste literarische Texte im Pseudonym herausgebracht hat. Warum bringt er seine Schriftstücke im Pseudonym heraus? Eine Antwort ist aus den Briefen nicht herauszulocken. Das werden wir sicher in den späteren Briefen noch erfahren.

An Jeanne Proust
09.03.1903, Marcel ist hier noch 31 Jahre alt.

Schon die ersten Zeilen dieses Briefes wirken selbst für uns als Leserinnen recht belastend. Immer wieder bekommt man zu lesen, wie kränklich Proust ist, und dass die Mutter wenig Entgegenkommen und Verständnis für ihn aufbringen kann.

Auch sind wir dahintergekommen, weshalb Marcel in den letzten Briefen seine Dienstboten abgezogen bekommen hat. Seine Mutter möchte, dass der Sohn endlich auf die Beine kommt, und für sich selber sorgt. Was seine Erkrankungen betreffen, verlangt die Mutter von ihm, dass er eine gesündere Lebensweise einnimmt. Vor allem sein Tag / Nachtrhythmus sei dermaßen gestört, dass sich dies negativ auf die physische und auf die psychische Gesundheit auswirken würde.
Ma chére petite Maman, 
mit dem verqueren Vorauswissen könntest Du keinen passenderen Moment finden, um mit Deinem Brief gleich im Keim die dreifache Reform zu ersticken, die am Tag meiner letzten Abendgesellschaft (…) ins Werk gesetzt werden sollte und die durch meine erneute Erkältung aufgeschoben worden ist.

Unter der dreifachen Reform könnte, laut Fußnote, gemeint sein:

Den Tag / Nacht Rhythmus einhalten; nachts schlafen und am Tag Aktivitäten nachgehen.
Die Einhaltung der Essenszeiten und der Verzicht auf Schlafmittel.

Wie man weiter unten im Text entnehmen kann, ist Proust in den Frühjahrsmonaten erst am Abend aus dem Bett gestiegen. Das kann ich mir vorstellen, dass es der Mutter übel aufgestoßen ist. Aber wenn der Sohn unter Heuschnupfen leidet? Diese Krankheit schien damals noch wenig erforscht gewesen zu sein. Sehr wahrscheinlich gab es noch nicht einmal entsprechende Medikamente. Weiter geht es im Brief:
Das ist schade, denn nachher wird es zu spät sein. Von Mai bis Ende Juni wäre ich, keinesfalls vor sieben Uhr abends aufgestanden, weil ich nur zu gut weiß, was dabei in dieser Jahreszeit für mein Asthma herauskommt. Aber Du dachtest offenbar, dass, wenn ich die Absicht hätte, ein anderer zu werden, es genügen würde, mir zu sagen:  >Ändere Dich, oder aus Deiner Einladung wird nichts<, was mich sofort auf jede Änderung hätte verzichten lassen – wobei ich mich dabei nicht hätte als leichtfertig und launisch, sondern als ernst und vernünftig erwiesen hätte-. und dass, wenn ich eine solche Absicht nicht gehabt hätte, mich weder Drohungen und Versprechen dazu hätten bewegen können- denn wie hätte ich denn wohl vor mir selbst und vor Dir dagestanden?

Die Mutter setzte demzufolge Druckmittel ein. Wenn er sich nicht ändert, bestraft sie ihn in der Form, dass Marcel im Hause Proust keine Abendgesellschaft geben dürfe, was für Marcel schwer zu akzeptieren ist. Denn so wäre er gezwungen, die Dinnerparty in einer Gaststätte steigen zu lassen, was allerdings mit hohen Kosten verbunden wäre. Und Proust kann diese Kosten selber gar nicht aufbringen, da er mit seinem Schreiben nicht ausreichend zu verdienen scheint. Proust vergleicht, was für den Bruder oder für den Vater für ein gesellschaftliches Abendessen investiert wird.
Denn ich werde das Essen unweigerlich im Restaurant geben müssen, da Du mir verweigerst, es hier zu geben. Und ich mache mir nicht die geringste Illusion: Auch, wenn du sagst, es sei keine Repressalie, wirst du mir sicher, wenn ich es im Restaurant gebe, nicht die gleiche Summe bewilligen, die es dich hier gekostet hätte. (…) Ich verstehe also nicht, warum diese Abendessen, bei denen ich euch, trotz meines Gesundheitszustandes, der mir solches beschwerlicher macht als euch, nie meine Mithilfe verweigert habe, möglich sind, wenn sie Papa oder Robert nützen, und unmöglich, wenn sie mir nutzen könnten.

Und wieder kommt Proust in die Rechtfertigung, zeigt auf, dass er trotz Krankheit nicht untätig zu Hause rumsitzt, sondern seine Zeit mit der Ruskin-Übersetzung sinnvoll nutzt.
Heute Nacht habe ich, trotz starkem Fieber, an Ruskin gearbeitet und bin sehr erschöpft, was überhaupt das mich beherrschende Gefühl ist bei allen Widrigkeiten, die das Leben allen meinen Versuchen, es wieder an sich zu ziehen, ständig entgegensetzt; und so schreibe ich Dir nicht länger. Anfang Dezember, als Du Dich über meine geistige Untätigkeit beklagtest, sagte ich Dir, Du wärest unmöglich, wenn Du angesichts meiner Auferstehung, statt alles, was sie ermöglicht hatte, zu preisen und zu lieben, sofort von mir verlangtest, ich solle mich wieder an die Arbeit machen. Gleichwohl machte ich mich an die Arbeit, die Du wünschest. 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die ambitionierte Mutter die Ruskin-Arbeit favorisierte, und sie andere schriftliche, literarische Tätigkeiten als weniger seriös gegenüberstand. Das Buch Jean Seanteuil war z. B. noch gar nicht abgeschlossen.
Ob es mich weniger angesträngt hätte, wenn ich es an einem gesünderen Ort ohne Ofenheizung hätte tun können, weiß ich nicht, ich glaube es, offengestanden, nicht. Nichtsdestoweniger lebe ich noch halbwegs, und trotz der gewaltigen Menge Arbeit, die ich geleistet habe, berichtest Du mir täglich von Leuten, die angeblich ihr Erstaunen darüber äußern und glücklich sein sollen, mich so wohlauf zu sehen.
In diesem Brief wird nun endlich der Konflikt deutlich ausgesprochen. Unter einem wahnsinnigen Leistungsdruck steht dieser Marcel, der sogar arbeitet, obwohl er krank ist. Und dass die Leute ihn so wohlwollend erleben, lassen den Eltern seine multiplen Erkrankungen anzweifeln.

Immer wieder liest man in diesem Brief, wie schlecht für diesen Marcel gesorgt wird, obwohl er kränklich ist. Mal schreibt er nachts der Mutter einen Brief, statt sich schlafen zu legen, mal schreibt er, dass er in einem kalten Speisezimmer zu Abend gegessen hat, und er ausgehen muss, um sich an der Luft gehend aufzuwärmen, und er dadurch erneut einen Fieberanfall erlitten hatte. Das ärgert den Sohn.
Du kannst mir nicht auf positive Weise Gutes tun und bist auch nicht auf dem richtigen Weg dahin. Aber wenn Du allzu häufige Erkältungen von mir fernhieltest, würdest Du mir auf negative Weise helfen, und zwar erheblich. Das würde ein Leben, das ich aus vielerlei Gründen lieber in einer getrennten Wohnung führen würde, weniger schwierig gestalten.

Warum der Proust – Kreis dies für ein starkes Stück hält, dass er für seine Medizin selbst aufkommt, ist uns nicht verständlich. Mit Anfang dreißig darf man das ruhig verlangen.
Ich finde mich also mit dem Leben ab, wie es ist. Die Betrübnis, in der ich lebe, schenkt mir wenigstens den Trost der Philosophie.

Das haben Anne und ich nicht ganz verstanden. Wieso findet er sich mit seinem Leben ab, als wäre es in Stein gemeißelt? Er kann von zu Hause ausziehen, sich einen Job suchen, um sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Scheinbar versucht Proust, es seiner Mutter in allem recht machen zu wollen, ohne ihren Ansprüchen tatsächlich gerecht werden zu können.
Dies hat indes den Nachteil, dass man die Betrübnis der anderen auf fast genauso natürliche Weise hinnimmt wie die eigene. Aber wenigstens liegt es, wenn ich Dir Kummer mache an Umständen, die nicht von mir abhängen.

Wahrscheinlich spielt er hier auf seine Erkrankungen an.
In allem anderen versuche ich stets, nur das zu tun, was Dir Freude bereiten kann.

Diesen Ansprüchen kann kein Kind gerecht werden, deshalb wäre es gut, wenn Junior auszieht und seinen Lebensweg so bestreitet, wie er es selbst für richtig hält.
Von Dir kann ich nicht das Gleiche sagen. Ich stelle mir vor, ich sei an Deiner Stelle, und male mir aus, wie es wäre, wenn ich Dir nicht ein, sondern hundert Abendessen abzuschlagen hätte. Aber ich bin Dir deswegen nicht böse und bitte Dich nur, mir keinen Brief mehr zu schreiben, auf den ich antworten müsste, denn ich fühle mich wie gerädert und sehne mich nur noch danach, all diese Mühseligkeiten hinter mir zu lassen.

Dies war ein sehr trauriger Brief. Aber dennoch wird es Zeit, dass erwachsene Kinder recht schnell pflüge werden, um den Eltern nicht weiter auf der Tasche zu liegen. Anne und ich hatten uns erinnert, als wir von zu Hause ausgezogen sind. Auch wir hatten es nicht leicht, und trotzdem war der Auszug eine Notwendigkeit, um richtig erwachsen werden zu können. Für Eltern bleibt man immer klein, was keinem Kind hilft, sich zu lösen.

Marcel Proust hatte viele Fähigkeiten, er hätte sich eine Arbeit suchen können, die ihn geistig fordert und körperlich schont. Wir fragten uns, in was für einer Welt Proust lebt? Anne hat sich zurückerinnert, als Proust beruflich noch in der Bibliothek Mazarine beschäftigt war, und er mehrere Jahre wegen der Krankheit mit der Arbeit aussetzen durfte, und er später versucht hatte, eine Unbefristung zu erwirken. Kein Arbeitgeber würde dies bewilligen, auch Prousts Arbeitgeber nicht, weshalb ihm schließlich gekündigt wurde.

Soviel zu Proust und zu der belastenden Mutter-Sohn-Beziehung.

Einen Nachgedanken gibt es noch hinzuzufügen 
Anne und ich fragten uns, warum Proust immer Briefe schreiben muss, um die Konflikte zu Hause zu klären? Ich bin in mich gegangen, weil ich Proust in dieser Hinsicht auch sehr gut verstehen kann. Mir geht es ähnlich, ich schreibe lieber über Probleme, als sie mündlich auszusprechen. Dies scheint dem Marcel nicht anders zu ergehen. Schreibend kann man sich häufig besser ausdrücken, als es mit gesprochenen Worten der Fall ist. 

Nächstes Wochenende fällt Proust aus, da ich mich auf der Frankfurter Buchmesse befinde, und ich jede Menge Bucherlebnisse/Interviews transkribieren muss.

Weiter geht es dann am übernächsten Wochenende von Seite 331 – 341.

_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 22
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86