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Samstag, 2. Mai 2020

Umzugsvorbereitungen

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit Prousts Briefen von Seite 482 - 502 

Umzugsplanung von der 45 rue de Courcelles, in die rue 102 Boulevard Haussmann, Paris.
Proust steckt im November und Dezember 1906 noch immer mitten in den Umzugsvorbereitungen.

Ich bin sehr neugierig, wie Proust das Leben in der neuen Wohnung bewältigen wird, da vor den Fenstern sehr viele Bäume stehen, und er als Pollenallergiker damit gesundheitliche Probleme bekommen müsste. Er hat diese Wohnung nur genommen, weil er hier als Untermieter einziehen konnte, die Miete dadurch nicht überteuert ist, und weil sie ihn an seine Mutter erinnern würde. Laut Internetrecherche wird Proust in der neuen Wohnung zwölf Jahre zubringen, bevor er ein weiteres und letztes Mal seines Lebens umziehen wird. Jede Menge Vorbereitungsarbeiten müssen zuvor bewältigt werden, vor allem die Last mit den vielen Möbeln der Eltern bleibt nicht aus, womit sich Proust überfordert fühlt. Einige Möbel landen ins Möbellager, da auch der Bruder Robert daran nur wenig Interesse zeigt, wobei Robert mit seiner neugeborenen kranken Tochter derzeit genug Probleme hat.

An Marie-Marguerite Catusse
Anfang November 1906
… ich hatte Robert gesagt, er solle wegen mir keine Vorsichtsmaßnahmen wegen der Ansteckungsgefahr treffen, man achtet nicht auf die Krankheiten seiner Angehörigen, außer um sich Sorgen zu machen (und es sorgt mich sehr, dass dieses Kind, in dem, wie ich mir gern vorstelle, vielleicht etwas von Mama und Papa überlebt, sein Leben so traurig beginnt).

Da kann man nur hoffen, dass die Kleine keinen proustischen Gendefekt hat, siehe am Ende der Besprechung.
… und die blauen Möbel meines Schlafzimmers kommen ins Möbellager (aber erst nach dem Versuch, mein Schlafzimmer zu bewohnen). Vorerst bleibt mein Schlafzimmer mein Schlafzimmer und nimmt alle meine blauen Möbel auf. (484f)

Viele Erinnerungen lösen diese Umzugsvorbereitungen aus. Weiter schreibt er:
Ich werde alle Photographien behalten, um eine Auswahl zu treffen, denn ich will, dass meine Großeltern und sogar ihre Eltern, die ich nicht gekannt habe, die Mama aber geliebt hat, in meiner Nähe sind. (486)

Diese Umzugsaktion verarbeitet Proust auch in seiner Recherche Die Gefangene, wie aus der Fußnote zu entnehmen ist. Schade, dass ich die Briefe nicht vor der Recherche gelesen habe. Wenn man das alles nur vorher wüsste, hätte man sich anders richten können, wobei die Briefe im Suhrkamp Verlag erst 2016 herausgebracht wurden. Prousts Recherche hatte ich einige Jahre vorher schon gelesen. 
Ich hatte niemals wie (Bloch) versucht, meine Wohnung künstlerisch zu möblieren, Innenräume zu komponieren; dazu war ich zu träge und zu gleichgültig gegenüber dem, was ich alle Tage zu sehen gewohnt war. Da mein Geschmack keinen Anstoß daran nahm, hatte ich das Recht, die Ausstattung meines Zimmers unverändert zu lassen. (487)

Wobei ich diese Gleichgültigkeit keineswegs in Prousts Umzug nachempfinden kann. Irgendwie kommt er mir richtig alleine vor, was die Verteilung der elterlichen Möbel betrifft.
Nach Mamas Tod wollte ich eine Wohnung zu 1500 Francs mieten. Aber da Robert keinerlei Möbel übernehmen wollte, war ich gezwungen, teure und größere Wohnungen zu suchen, nicht ohne ihm deutlich gemacht zu haben, wie unangenehm mir das war. Er meinte, ich bräuchte das Überfüllige nur verkaufen. Da ich das nicht wollte, habe ich meine Ausgaben, , meine Anlagen, mein Leben anders eingerichtet, und der boulevard Haussmann, für den ich mich aus den emotionalen Gründen entschieden habe, die ich ihnen nannte, ist sogar klein gemessen an dem, was ich gesucht habe. Diese Möbelfrage ist über hundertmal besprochen, und alles, was ich bei Robert erreichen konnte, ist, dass er die Hälfte der Tapisserien und Papas Schreibtisch übernimmt.

Da Robert im Gegensatz zum Bruder seine eine eigene Familie und einen eigenen Hausstand gegründet hat, hat er wahrscheinlich selbst keinen Platz mehr, ein Teil Möbel seiner Eltern bei sich unterzubringen. Robert rät dem Bruder weiter mit folgenden Tipps:
 >Füll den boulevard Haussmann so gut du kannst, was nicht hineinkann, lagere es ein, später sehen wir weiter.<
 
Dazu schreibt Proust weiter Madame Catusse, die ihm beim Umzug wohl behilflich ist:
Worauf ich geantwortet habe, dass ich das Beste in die Wohnung stecken werde, und das habe ich Sie zu tun gebeten, und seit dem gestrigen Zwischenfall bitte ich Sie noch mehr darum. Statten wir den Haussmann nur mit erlesenen Dingen aus. Lagern wir alles ein, was nur mittelmäßig ist. So wird viel gerettet werden.

Auch wenn ich nicht weiß, wann durch die Corona–Krise Reisen wieder erlaubt sein wird, aber ich freue mich wahnsinnig darauf, die Häuser aufzusuchen, in denen Proust und seine Familie gewohnt haben. Aber soviel ich weiß, wird man die Möbel nicht besichtigen können, da sie nicht mehr vorhanden sind. Nur ein Bett von Proust wäre in einem Museum aufgestellt.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns dieses Mal nicht so ausführlich ausgetauscht. Wir haben uns ein Zitat näher angeschaut, bei dem ich vergessen hatte, die Fußnote zu lesen. Prousts Nichte, die erst sehr kurz auf der Welt war, war laut der Fußnote nicht an Diphtherie erkrankt, sondern an Angina. Mir kam daraufhin der Gedanke und die Hoffnung, dass die Kleine nicht die Lungenkrankheit ihres Onkels vererbt bekommen hat. Das werden wir wahrscheinlich aber nicht erfahren, da Proust in den Briefen, die im Buch abgedruckt sind, selten über seinen Bruder und dessen Familie schreibt.

Proust hat nicht nur Geschichten geschrieben, sondern auch Bücher rezensiert. Darüber wurde schon in den Briefen zuvor geschrieben, aber irgendwie hatte ich sie nicht ernstgenommen. Ich hatte mich damals gefragt, ob sich Proust tatsächlich mit Buchbesprechungen abgibt? Ja, das tut er. Nach x-tem Male nachlesen, ist diese Tätigkeit nun auch bei mir angekommen, weshalb ich es hier nun endlich erwähnen möchte.

Außerdem finden wieder jede Menge literarische Gespräche statt, auch entnimmt man, dass Proust noch immer Schreibverbot hat, er sich weitest möglich daran halten möchte, was verständlicherweise nicht immer gelingt. Proust das Schreiben zu verbieten, ist, wenn man einem Pianisten verbieten würde, Klavier zu spielen.

Ausgelöst durch die Werke von John Truskin, britischer Kunsthistoriker und Sozialkritiker, kommt Proust ins Schwelgen.

An
Marie-Marguerite Catusse
Mitte Dezember 1906
Wenn ich reich wäre, würde ich nicht Meisterwerke zu kaufen suchen, die würde ich den Museen überlassen, sondern Bilder, in denen der Duft einer Stadt oder die Feuchtigkeit einer Kirche weiterlebt und die wie Trödelkram so viele Träume auslösen, wie sie in sich selbst enthalten.

John Ruskin scheint Proust nicht mehr loszulassen. Obwohl er sich mit der Übersetzung schon so schwer getan hat, bekommt er wiederholt den Auftrag, eine deutschsprachige Ausgabe zu rezensieren.

An Auguste Marguillier
Februar 1907
Ich habe das Buch von Madame Broicher soeben erhalten, gestehe Ihnen aber, dass mein Deutsch sehr schlecht ist und dass es sehr schwierig werden wird. Als meine arme Mama noch da war, nannte sie mir alle Wörter, die ich nicht wusste (es waren viele!), da sie sehr gut Deutsch konnte – wie übrigens auch alles andere. Wenn Sie also einen Mitarbeiter hätten, dem es leichter fiele, würde ich es gerne auf ihn abwälzen. Wenn Sie hingegen niemanden bei der Hand haben, werde ich mich mit einem Wörterbuch bewaffnen und dieses Werk lesen. (501)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass es sich hierbei um den zweiten und dritten Band von John Ruskin und sein Werk handelt. Essays von Charlotte Broicher, Jena 1907. (Proust hatte den (1902 erschienenen) ersten Band in der Chronique des Arts et de la Curiosité von 2. Januar 1904 besprochen. (502)

Erstaunlich dass Proust, obwohl er von seinen Kompetenzen her an seine Grenzen stößt, dennoch den Auftrag nicht absolut ablehnen kann. Sich mit einem Wörterbuch zu bewaffnen, das fand ich wieder so schön ausgedrückt, reicht eigentlich nicht, denn jeder weiß, der nur etwas von Fremdsprachen versteht, dass man mit einem Wörterbuch alleine kein Werk übersetzen kann. Wieso hat er trotzdem immer und immer wieder Aufträge bekommen? Es zeigt wiederholt deutlich und klar, das Proust in seiner Szene ein viel geschätzter Mann war.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 513 bis 523.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 19. April 2020

Seelische Krise

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten 466 und 469 bis 481 

Durch Prousts schwere Erkrankungen und durch den Tod seiner Mutter im September 1905, wo 1903 schon der Vater an einem Hirnleiden verstorben ist, und zuvor die Großeltern mütterlicherseits, erleidet er eine seelische Krise auch durch den Tod seines Onkel. Proust bewundert den Erfolg anderer Mitstreiter, bei denen die Probleme sich in Wohlwollen aufzulösen scheinen. Er schreibt neidvoll an

Geneviève Strauß
21.07.1906, hier ist Proust 35 Jahre alt
Seltsam zu denken, dass das Leben, sowenig es sonst einem Roman gleicht, dies ausnahmsweise einmal tut. Ach, wir alle haben in den letzten zehn Jahren viel Kummer, viele Enttäuschungen, viele Qualen durchgemacht. Und für niemanden von uns wird die Stunde schlagen, in der unser Kummer in Freudenrausch, unsere Enttäuschungen in unverhoffte Erfolge und unsere Qualen in köstliche Triumphe verwandelt werden. Ich werde immer kränker sein, die Wesen, die ich verloren habe, werden mir immer mehr fehlen. (466)

Eigentlich mag ich Neid absolut nicht, obwohl jeder mal in eine neidvolle Phase geraten kann, aber hier, in diesen Zeilen, schmerzt mich Prousts Kummer sehr, weil er durch seine Erkrankungen, durch seinen Verlust wichtiger Familienmitglieder*innen tatsächlich vom Leben stark gebeutelt ist.
Alles, was ich mir vom Leben erträumen konnte, wird mir immer unerreichbarer sein. Aber für Dreyfus und Picquart ist es nicht so. Ihr Leben wurde wie in Märchen und Fortsetzungsromanen >von einer guten Fee geleitet<. Denn unsere Trauer beruht auf Wahrheiten, physiologischen Wahrheiten, menschlichen und emotionalen Wahrheiten. Ihre Leiden beruhen auf Irrtümern. Selig die Opfer von Justizirrtümern oder Ähnlichem. Sie sind die einzigen Menschen, für die es Vergeltung und Wiedergutmachung gilt. (Ebd.)

Aus der Fußnote ist dazu zu entnehmen:
Das Kassationgericht revidierte in einem Beschluss vom 12. Juli 1906 das Urteil von Rennes gegen Dreyfus. Daraufhin stimmten die Abgeordneten am 13. Juli für zwei Erlasse: Der erste erkannte Dreyfus`Unschuld an und gliederte ihn wieder in die Führung der Armee ein; der zweite rehabilitierte Picquart und beförderte ihn in den Rang des eines Brigadegenerals. (469)

Dass er neidvoll auf Picquart blickt, kann ich irgendwie nachvollziehen aber gegen Dreyfus, der politisch geplagt war, fehlt mir hierfür doch das tiefere Verständnis.
Wenn ich daran denke, was für eine Mühe ich hatte, Picquart auf den Mont Valérien, wo er gefangen gehalten wurde >>Les Plaisirs et les jours<< zukommen zu lassen, habe ich fast keine Lust mehr, ihm jetzt >>Sésame et les Lys<< zu schicken. (466)

Der Tod scheint kein Ende zu nehmen. Ein Jahr später, nachdem die Mutter an einer Urämie verstorben ist, verstirbt auch der Onkel, der Bruder der Mutter, an dieser grausamen Erkrankung.

Vier Wochen später schreibt er noch mal an dieselbe Dame:
Ich fühle mich seit zwei Tagen so schlecht, dass ich Ihnen nicht schreiben kann, ich will Ihnen nur sagen, dass ich wegen der Krankheit meines Onkels nicht abreisen konnte und deswegen in Versailles in den Réservoirs Quartier bezogen habe und prompt krank geworden bin. (471)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust, der gerade in die Ferien aufbrechen wollte, richtete sich stattdessen in Versailles ein, um seinen schwer erkrankten Onkel Georges-Denise Weil oft in Paris besuchen zu können (dieser starb am 25. August). Prousts Gesundheitszustand erlaubte es ihm schließlich nicht, seinen Onkel mehr als einmal zu besuchen, und er konnte nicht einmal dem Begräbnis beiwohnen. Zu Beginn seines Aufenthalts glaubte er wohl noch, er würde seinen Onkel jeden Tag (…) aufsuchen können, sobald er sich eingerichtet und von der Reise erholt hätte. (470f)

Auch durch den Tod seines Onkels fühlt sich Proust stark mitgenommen. Er schreibt an

Marie-Marguerite Catusse
Anfang September 1906
Mein armer Onkel war zu diesem Zeitpunkt äußerst krank, deswegen bin ich nicht weiter fortgefahren und hatte doch Paris nur verlassen, weil ich gehofft hatte, dass die Veränderungen mir ermöglichen würde, wieder vor die Tür zu kommen, was seit so vielen Monaten nicht der Fall gewesen war, und so meinen Onkel zu besuchen, was ich kein einziges Mal konnte. Als er im Sterben lag, bin ich hingegangen, ohne dass er mich wiedererkannte, und ich war derart krank von dieser Reise, dass ich nicht zu seiner Beerdigung gehen konnte, obwohl ich es unbedingt wollte. Er starb an derselben Krankheit wie Mama, einer Urämie, die ich ihm seit Jahren vorausgesagt hatte und die vielleicht hätte verhindert werden können, wenn man auf mich gehört hätte. (473)

Auch seine Mutter wollte nicht wahrhaben, wie schwer krank sie war, und hat jede Behandlung abgelehnt, bis es schließlich zu spät war.
Die Form war nicht dieselbe wie bei Mama, er hatte nicht diese Art von Lähmung, er war nie beim Sprechen behindert, dafür hatte er zwei Monate lang Höllenqualen gelitten, da diese Urämie (…) auf die Muskeln geschlagen ist, er konnte keine Bewegung machen, ohne zu schreien. (Ebd.)

Proust hatte sich intensiv mit der Erkrankung seines Onkels befasst. Er konnte sehr gut die unterschiedliche Auswirkung zwischen die seiner Mutter, und die seines Onkels benennen.
Was ich jetzt sagen werde, ist schrecklich, aber körperliches Leiden bedeutet für meine arme Mama so wenig, niemand kann ihre bewundernswerte Tapferkeit in Zweifel ziehen, im Gegenteil, sie fand in ihrem starken Herzen derart unerschöpfliche Kräfte, seelische Qualen durchzustehen, dass ich nicht weiß, ob ich für sie nicht am Ende Schmerzen vorgezogen hätte, die ihr körperlich zugesetzt, aber nicht wie die Sprachstörung und die Lähmung die Vorstellung aufgezwungen hätten, dass sie zum Tode verurteilt war und mich bald verlassen würde. Ich weiß, was ich sage, klingt barbarisch, aber ich, der seit ihrem Tod keine Stunde ohne den Versuch verbracht hat nachzuempfinden, was sie seit ihrer Rückkehr aus Evian denken und leiden mochte, erlebe dabei derartige Qualen, dass ich körperliche Schmerzen für sie tausendmal vorgezogen hätte, die ihr, wie ich weiß, so wenig bedeutet haben. (475)

Ich bin sicher, dass er meint, was er sagt, aber ich glaube, dass er körperliche Schmerzen stark unterschätzt. Körperliche Schmerzen können nämlich Menschen in den Wahnsinn treiben, je nach dem, von welcher Erkrankung sie ausgehen.
Ich weiß wohl, dass es alle, angefangen bei mir selbst, körperliches Leiden fürchterlicher ist als seelisches, aber nur, weil ich feige und egoistisch bin. Und Mama war frei von Feigheit und Egoismus in einem Ausmaß, das fast übermenschlich ist. (Ebd.)

Ich habe mich wiederholt gefragt, woher er das wissen kann? Was ein Mensch innerlich durchleidet, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, da niemand in das Innenleben eines anderen hineinsehen kann. Dadurch, dass die Mutter vom Sprechen her beeinträchtigt war, könnte ich mir vorstellen, dass Proust ihre Stimme, ihre Worte vermisst hatte. Aber Krankheiten sind rigoros, sie kennen keine Kompromisse und gehen auch keinen Deal mit den kranken Menschen ein.

Den nächsten Brief fand ich rührend, als Proust die Ohrringe seiner Mutter an eine Arztfrau zu vermachen versucht. Mutig, dass er es schafft, sich von Gegenständen zu trennen, die seiner Mutter wichtig waren. Aber es macht auch Sinn, die Dinge an Lebenden weiterzugeben, damit diese an anderen Personen weiterleben können, statt sie in einer Schatulle aufzuheben.

An Dr. Ladislas Landowski
26. September 1906
Chér dokteur,
 Würden Sie uns, Robert und mir, als Fürsprecher dienen wollen, und Madame Landowska bitten, diese kleinen Ohrringe anzunehmen, die Maman gehört haben? Ich habe sie eigentlich nie ohne diese Ohrringe gesehen, und wir empfänden es als zu grausam, uns von ihnen zu trennen, wenn es uns nicht andererseits ein wohltuender Gedanke wäre, sie künftig in Besitz einer Frau zu wissen, für die Maman eine tiefe Sympathie empfand. (476f)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Dr. Landowski ein Schüler von Prousts Vater gewesen ist.

Nun würde mich und Anne noch interessieren, ob die Dame das Erbe angenommen hat oder nicht? Ohrringe, die man ein Leben lang getragen hat, sind etwas Intimes, das ist, wie die Haut einer anderen Person zu tragen. Aber das werden wir nie erfahren, da uns die Antwortbriefe dazu fehlen.

Auf der nächsten Seite werden Möbel gerückt, oder rausgeschmissen, Proust weiß nicht so recht, wohin mit der großen Einrichtung, die seine Eltern hinterlassen haben, und er aus dem Elternhaus ausziehen möchte. Interessant finde ich, dass Prousts Eltern viele farbige Möbel gehabt hatten, was ich persönlich sehr liebe. Dadurch, dass die Prousts sehr häufig umgezogen sind, und das Haus, in dem sie zuletzt gelebt hatten, abgerissen wurde, kann man diese Möbel größtenteils in keinem Proust-Museum besichtigen. Soviel ich weiß, konnte in Paris nur ein einziges Möbelstück gerettet werden, und das war Prousts Bett, das in einem Museum untergebracht und zu besichtigen ist. Durch diese verflixte Corona-Krise musste meine Proust-Reise im April dieses Jahres storniert werden, sodass ich vorerst nicht mehr dazu komme, auf Prousts Spuren zu wandeln. Deshalb habe ich Lust, mir diesbezüglich eine Textpassage aus seinem Brief herauszuschreiben.

An Genevève Strauß
Anfang Oktober 1906
Da ich gezwungen war, mich von der rue de Courcelles zu trennen, habe ich seit über einem Monat täglich Wohnungen suchen lassen, und mein Zögern, meine Ängste, meine in die Wege geleiteten und dann im Moment der Unterzeichnungen rückgängig gemachten Mietvereinbarungen haben mir den ganzen Schlaf geraubt, ich habe kaum die Kraft, Ihnen zu schreiben. Letzten Endes konnte ich mich nicht dazu entschließen, in einem Haus zu leben, das Mama nicht gekannt hat, und so habe ich dieses Jahr als Übergangslösung eine Wohnung in unserem Haus am boulevard Haussmann als Untermieter genommen, wo ich oft mit Mama zum Abendessen war, wo wir zusammen meinen alten Onkel in dem Zimmer sterben sahen, das ich bewohnen werde. (478)

Das müssen kostbare Möbel gewesen sein, wie man auf der Seite 480 entnehmen kann.

Welch eine Unruhe, dieses ständige Umziehen. Selbst in der Wohnung, in der er als Untermieter billig leben wird, ist das Wohnen zeitlich begrenzt.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich die Frage gestellt, weshalb Proust billige Mietwohnungen suchen lässt? Ist er doch nicht so wohlhabend, wie man dies glauben möchte? Weshalb muss er auf jeden Cent achten? Eigentlich ist er wohlhabend, ich denke schon, sagte ich, dass die Eltern ein Vermögen hinterlassen haben, das mit dem Bruder Robert geteilt ist. Nur, wo ist das Vermögen hin? Wir wissen, dass Proust schlecht mit Geld umgehen kann. Aber kann man innerhalb eines Jahres das gesamte Kapital veräußert haben? Auch hier haben wir eine Lücke, die wir entweder aushalten müssen, oder aber sie wird sich mit der Zeit anhand anderer Briefe noch füllen.

Weiterhin sind wir gespannt, wie Proust sein Leben ohne seine Mutter bewältigen wird. Derzeit befindet er sich noch in tiefer Trauer, vermisst seine Mutter schmerzlichst. Gewundert haben wir uns, dass er Probleme hat, in eine Wohnung zu ziehen, mit der er noch nicht mit der Mutter darin gewohnt hatte.

Unsere Frage außerdem: Wer sorgt für ihn, wenn er so schwer krank ist? Es gibt eine Magd, die auch über den Tod der Eltern hinaus in Prousts Haushalt hantiert.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 482 – 492.

Nachtrag, 27.04.2020
Die Seiten von 482 - 429 haben Anne und ich gelesen, aber da es wieder hauptsächlich um die Möbelproblematik geht, da Proust einen Umzug plant, ist meine Buchbesprechung hierzu recht kurz geworden, die ich nicht posten werde. Oder ich knüpfe sie mit der nächsten Buchbesprechung. Mal schauen wie es passen wird.


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 492 bis 502.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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