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Sonntag, 19. April 2020

Seelische Krise

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten 466 und 469 bis 481 

Durch Prousts schwere Erkrankungen und durch den Tod seiner Mutter im September 1905, wo 1903 schon der Vater an einem Hirnleiden verstorben ist, und zuvor die Großeltern mütterlicherseits, erleidet er eine seelische Krise auch durch den Tod seines Onkel. Proust bewundert den Erfolg anderer Mitstreiter, bei denen die Probleme sich in Wohlwollen aufzulösen scheinen. Er schreibt neidvoll an

Geneviève Strauß
21.07.1906, hier ist Proust 35 Jahre alt
Seltsam zu denken, dass das Leben, sowenig es sonst einem Roman gleicht, dies ausnahmsweise einmal tut. Ach, wir alle haben in den letzten zehn Jahren viel Kummer, viele Enttäuschungen, viele Qualen durchgemacht. Und für niemanden von uns wird die Stunde schlagen, in der unser Kummer in Freudenrausch, unsere Enttäuschungen in unverhoffte Erfolge und unsere Qualen in köstliche Triumphe verwandelt werden. Ich werde immer kränker sein, die Wesen, die ich verloren habe, werden mir immer mehr fehlen. (466)

Eigentlich mag ich Neid absolut nicht, obwohl jeder mal in eine neidvolle Phase geraten kann, aber hier, in diesen Zeilen, schmerzt mich Prousts Kummer sehr, weil er durch seine Erkrankungen, durch seinen Verlust wichtiger Familienmitglieder*innen tatsächlich vom Leben stark gebeutelt ist.
Alles, was ich mir vom Leben erträumen konnte, wird mir immer unerreichbarer sein. Aber für Dreyfus und Picquart ist es nicht so. Ihr Leben wurde wie in Märchen und Fortsetzungsromanen >von einer guten Fee geleitet<. Denn unsere Trauer beruht auf Wahrheiten, physiologischen Wahrheiten, menschlichen und emotionalen Wahrheiten. Ihre Leiden beruhen auf Irrtümern. Selig die Opfer von Justizirrtümern oder Ähnlichem. Sie sind die einzigen Menschen, für die es Vergeltung und Wiedergutmachung gilt. (Ebd.)

Aus der Fußnote ist dazu zu entnehmen:
Das Kassationgericht revidierte in einem Beschluss vom 12. Juli 1906 das Urteil von Rennes gegen Dreyfus. Daraufhin stimmten die Abgeordneten am 13. Juli für zwei Erlasse: Der erste erkannte Dreyfus`Unschuld an und gliederte ihn wieder in die Führung der Armee ein; der zweite rehabilitierte Picquart und beförderte ihn in den Rang des eines Brigadegenerals. (469)

Dass er neidvoll auf Picquart blickt, kann ich irgendwie nachvollziehen aber gegen Dreyfus, der politisch geplagt war, fehlt mir hierfür doch das tiefere Verständnis.
Wenn ich daran denke, was für eine Mühe ich hatte, Picquart auf den Mont Valérien, wo er gefangen gehalten wurde >>Les Plaisirs et les jours<< zukommen zu lassen, habe ich fast keine Lust mehr, ihm jetzt >>Sésame et les Lys<< zu schicken. (466)

Der Tod scheint kein Ende zu nehmen. Ein Jahr später, nachdem die Mutter an einer Urämie verstorben ist, verstirbt auch der Onkel, der Bruder der Mutter, an dieser grausamen Erkrankung.

Vier Wochen später schreibt er noch mal an dieselbe Dame:
Ich fühle mich seit zwei Tagen so schlecht, dass ich Ihnen nicht schreiben kann, ich will Ihnen nur sagen, dass ich wegen der Krankheit meines Onkels nicht abreisen konnte und deswegen in Versailles in den Réservoirs Quartier bezogen habe und prompt krank geworden bin. (471)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust, der gerade in die Ferien aufbrechen wollte, richtete sich stattdessen in Versailles ein, um seinen schwer erkrankten Onkel Georges-Denise Weil oft in Paris besuchen zu können (dieser starb am 25. August). Prousts Gesundheitszustand erlaubte es ihm schließlich nicht, seinen Onkel mehr als einmal zu besuchen, und er konnte nicht einmal dem Begräbnis beiwohnen. Zu Beginn seines Aufenthalts glaubte er wohl noch, er würde seinen Onkel jeden Tag (…) aufsuchen können, sobald er sich eingerichtet und von der Reise erholt hätte. (470f)

Auch durch den Tod seines Onkels fühlt sich Proust stark mitgenommen. Er schreibt an

Marie-Marguerite Catusse
Anfang September 1906
Mein armer Onkel war zu diesem Zeitpunkt äußerst krank, deswegen bin ich nicht weiter fortgefahren und hatte doch Paris nur verlassen, weil ich gehofft hatte, dass die Veränderungen mir ermöglichen würde, wieder vor die Tür zu kommen, was seit so vielen Monaten nicht der Fall gewesen war, und so meinen Onkel zu besuchen, was ich kein einziges Mal konnte. Als er im Sterben lag, bin ich hingegangen, ohne dass er mich wiedererkannte, und ich war derart krank von dieser Reise, dass ich nicht zu seiner Beerdigung gehen konnte, obwohl ich es unbedingt wollte. Er starb an derselben Krankheit wie Mama, einer Urämie, die ich ihm seit Jahren vorausgesagt hatte und die vielleicht hätte verhindert werden können, wenn man auf mich gehört hätte. (473)

Auch seine Mutter wollte nicht wahrhaben, wie schwer krank sie war, und hat jede Behandlung abgelehnt, bis es schließlich zu spät war.
Die Form war nicht dieselbe wie bei Mama, er hatte nicht diese Art von Lähmung, er war nie beim Sprechen behindert, dafür hatte er zwei Monate lang Höllenqualen gelitten, da diese Urämie (…) auf die Muskeln geschlagen ist, er konnte keine Bewegung machen, ohne zu schreien. (Ebd.)

Proust hatte sich intensiv mit der Erkrankung seines Onkels befasst. Er konnte sehr gut die unterschiedliche Auswirkung zwischen die seiner Mutter, und die seines Onkels benennen.
Was ich jetzt sagen werde, ist schrecklich, aber körperliches Leiden bedeutet für meine arme Mama so wenig, niemand kann ihre bewundernswerte Tapferkeit in Zweifel ziehen, im Gegenteil, sie fand in ihrem starken Herzen derart unerschöpfliche Kräfte, seelische Qualen durchzustehen, dass ich nicht weiß, ob ich für sie nicht am Ende Schmerzen vorgezogen hätte, die ihr körperlich zugesetzt, aber nicht wie die Sprachstörung und die Lähmung die Vorstellung aufgezwungen hätten, dass sie zum Tode verurteilt war und mich bald verlassen würde. Ich weiß, was ich sage, klingt barbarisch, aber ich, der seit ihrem Tod keine Stunde ohne den Versuch verbracht hat nachzuempfinden, was sie seit ihrer Rückkehr aus Evian denken und leiden mochte, erlebe dabei derartige Qualen, dass ich körperliche Schmerzen für sie tausendmal vorgezogen hätte, die ihr, wie ich weiß, so wenig bedeutet haben. (475)

Ich bin sicher, dass er meint, was er sagt, aber ich glaube, dass er körperliche Schmerzen stark unterschätzt. Körperliche Schmerzen können nämlich Menschen in den Wahnsinn treiben, je nach dem, von welcher Erkrankung sie ausgehen.
Ich weiß wohl, dass es alle, angefangen bei mir selbst, körperliches Leiden fürchterlicher ist als seelisches, aber nur, weil ich feige und egoistisch bin. Und Mama war frei von Feigheit und Egoismus in einem Ausmaß, das fast übermenschlich ist. (Ebd.)

Ich habe mich wiederholt gefragt, woher er das wissen kann? Was ein Mensch innerlich durchleidet, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, da niemand in das Innenleben eines anderen hineinsehen kann. Dadurch, dass die Mutter vom Sprechen her beeinträchtigt war, könnte ich mir vorstellen, dass Proust ihre Stimme, ihre Worte vermisst hatte. Aber Krankheiten sind rigoros, sie kennen keine Kompromisse und gehen auch keinen Deal mit den kranken Menschen ein.

Den nächsten Brief fand ich rührend, als Proust die Ohrringe seiner Mutter an eine Arztfrau zu vermachen versucht. Mutig, dass er es schafft, sich von Gegenständen zu trennen, die seiner Mutter wichtig waren. Aber es macht auch Sinn, die Dinge an Lebenden weiterzugeben, damit diese an anderen Personen weiterleben können, statt sie in einer Schatulle aufzuheben.

An Dr. Ladislas Landowski
26. September 1906
Chér dokteur,
 Würden Sie uns, Robert und mir, als Fürsprecher dienen wollen, und Madame Landowska bitten, diese kleinen Ohrringe anzunehmen, die Maman gehört haben? Ich habe sie eigentlich nie ohne diese Ohrringe gesehen, und wir empfänden es als zu grausam, uns von ihnen zu trennen, wenn es uns nicht andererseits ein wohltuender Gedanke wäre, sie künftig in Besitz einer Frau zu wissen, für die Maman eine tiefe Sympathie empfand. (476f)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Dr. Landowski ein Schüler von Prousts Vater gewesen ist.

Nun würde mich und Anne noch interessieren, ob die Dame das Erbe angenommen hat oder nicht? Ohrringe, die man ein Leben lang getragen hat, sind etwas Intimes, das ist, wie die Haut einer anderen Person zu tragen. Aber das werden wir nie erfahren, da uns die Antwortbriefe dazu fehlen.

Auf der nächsten Seite werden Möbel gerückt, oder rausgeschmissen, Proust weiß nicht so recht, wohin mit der großen Einrichtung, die seine Eltern hinterlassen haben, und er aus dem Elternhaus ausziehen möchte. Interessant finde ich, dass Prousts Eltern viele farbige Möbel gehabt hatten, was ich persönlich sehr liebe. Dadurch, dass die Prousts sehr häufig umgezogen sind, und das Haus, in dem sie zuletzt gelebt hatten, abgerissen wurde, kann man diese Möbel größtenteils in keinem Proust-Museum besichtigen. Soviel ich weiß, konnte in Paris nur ein einziges Möbelstück gerettet werden, und das war Prousts Bett, das in einem Museum untergebracht und zu besichtigen ist. Durch diese verflixte Corona-Krise musste meine Proust-Reise im April dieses Jahres storniert werden, sodass ich vorerst nicht mehr dazu komme, auf Prousts Spuren zu wandeln. Deshalb habe ich Lust, mir diesbezüglich eine Textpassage aus seinem Brief herauszuschreiben.

An Genevève Strauß
Anfang Oktober 1906
Da ich gezwungen war, mich von der rue de Courcelles zu trennen, habe ich seit über einem Monat täglich Wohnungen suchen lassen, und mein Zögern, meine Ängste, meine in die Wege geleiteten und dann im Moment der Unterzeichnungen rückgängig gemachten Mietvereinbarungen haben mir den ganzen Schlaf geraubt, ich habe kaum die Kraft, Ihnen zu schreiben. Letzten Endes konnte ich mich nicht dazu entschließen, in einem Haus zu leben, das Mama nicht gekannt hat, und so habe ich dieses Jahr als Übergangslösung eine Wohnung in unserem Haus am boulevard Haussmann als Untermieter genommen, wo ich oft mit Mama zum Abendessen war, wo wir zusammen meinen alten Onkel in dem Zimmer sterben sahen, das ich bewohnen werde. (478)

Das müssen kostbare Möbel gewesen sein, wie man auf der Seite 480 entnehmen kann.

Welch eine Unruhe, dieses ständige Umziehen. Selbst in der Wohnung, in der er als Untermieter billig leben wird, ist das Wohnen zeitlich begrenzt.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich die Frage gestellt, weshalb Proust billige Mietwohnungen suchen lässt? Ist er doch nicht so wohlhabend, wie man dies glauben möchte? Weshalb muss er auf jeden Cent achten? Eigentlich ist er wohlhabend, ich denke schon, sagte ich, dass die Eltern ein Vermögen hinterlassen haben, das mit dem Bruder Robert geteilt ist. Nur, wo ist das Vermögen hin? Wir wissen, dass Proust schlecht mit Geld umgehen kann. Aber kann man innerhalb eines Jahres das gesamte Kapital veräußert haben? Auch hier haben wir eine Lücke, die wir entweder aushalten müssen, oder aber sie wird sich mit der Zeit anhand anderer Briefe noch füllen.

Weiterhin sind wir gespannt, wie Proust sein Leben ohne seine Mutter bewältigen wird. Derzeit befindet er sich noch in tiefer Trauer, vermisst seine Mutter schmerzlichst. Gewundert haben wir uns, dass er Probleme hat, in eine Wohnung zu ziehen, mit der er noch nicht mit der Mutter darin gewohnt hatte.

Unsere Frage außerdem: Wer sorgt für ihn, wenn er so schwer krank ist? Es gibt eine Magd, die auch über den Tod der Eltern hinaus in Prousts Haushalt hantiert.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 482 – 492.

Nachtrag, 27.04.2020
Die Seiten von 482 - 429 haben Anne und ich gelesen, aber da es wieder hauptsächlich um die Möbelproblematik geht, da Proust einen Umzug plant, ist meine Buchbesprechung hierzu recht kurz geworden, die ich nicht posten werde. Oder ich knüpfe sie mit der nächsten Buchbesprechung. Mal schauen wie es passen wird.


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 492 bis 502.

___________________
Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 22. März 2020

Marcel Proust und seine kranke Mutter

Weiter geht es mit den Seiten von 423 bis 434 

Marcel Proust ist noch immer krank, und sicher immens gebeutelt, dass er als ein großer Gesellschafter in gesunden Tagen keine einzige Party verpassen möchte, so ist er jetzt dazu verdammt, sich zurückzuhalten und das Bett zu hüten. Seine multiplen Erkrankungen führen ihn in eine  langwierige Zwangsisolation. Wer Proust kennt, der kann sich schwer vorstellen, dass er monatlich nur eine Stunde ausgeht. Hinzu kommt seine plötzlich schwer erkrankte Mutter, die ihm große Sorgen bereitet.

An Robert Dreyfus
Mitte Mai 1905, noch ist Proust 33 Jahre alt
Ich gehe ungefähr einmal im Monat für eine Stunde aus und liege danach eine Woche im Bett, habe Fieber, ganz zu schweigen von meinen Asthma-Anfällen. Was meinen Freund angeht, so kann ich Dich, wenn es dienlich sein sollte, nur brieflich mit ihm in Verbindung setzen. (423)

Aber Proust macht das Beste daraus. Er weiß sich zu Hause geistig zu betätigen. Das zeigt die große Anzahl seiner Briefe.
Ich hoffe, das Leben ist Dir hold und dass Du das Glück in fruchtbarer Arbeit findest. Meinerseits bin ich zurzeit, da Du Dich so liebenswürdig danach erkundigst, nicht allzu unglücklich. Ich schaffe es, ein wenig zu arbeiten – außer seit meinen entsetzlichen Anfällen – und führe ein sehr sanftes Leben, das aus Ruhe, Lektüre und einem ganz arbeitsamen Zusammensein mit Mama besteht. (424)

Auf den folgenden Seiten erkrankt allerdings auch seine Mutter seit zwei Wochen an einer schweren Harnvergiftung. Proust ist besorgt, verzweifelt, sie verweigert sogar seit zwei Wochen die Nahrung, während die Mutter sehr unvernünftig mit ihrem Leiden umgeht. Er schreibt an eine Freundin.

An Geneviève Straus
25.09.1905, Proust ist hier 34 Jahre alt
Sie ist gegenwärtig in einem entsetzlichen Zustand. Mama, die uns so sehr liebt, begreift nicht, wie grausam es von ihr ist, sich nicht behandeln lassen zu wollen. Sie ist schon mit einer akuten Urämie nach Evian gefahren, von der niemand etwas ahnte und die sich erst in Paris herausgestellt hat, denn in Evian selbst war sie nicht zu bewegen, eine Analyse durchführen zulassen. Während ich allein mit ihr in Evian war, musste ich zu meinem Kummer und trotz allen Zuredens mitansehen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schwindelanfälle schon am frühen Morgen in den Salon des Hotels hinunterging und sich dabei auf zwei Personen stützen musste, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer Schwäche, von deren Ausmaß Ihnen allein schon die Tatsache, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr zu sich genommen hat, eine Vorstellung zu geben vermag, lässt sie sich auch weiterhin jeden Morgen wecken, waschen, peinlich genau ankleiden, was Gift für sie ist. (433)

Schon kompliziert. Die Erkrankung nicht einsehen zu wollen, und ich mich beim Lesen dieser Zeilen gefragt habe, ob sich Madame Proust für unsterblich hielt? Nun wird mir auch klar, wieso Prousts Eltern die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Erkrankung so wenig in Betracht haben ziehen können. Die Krankheiten scheint man in diesem Haus sehr leichtfertig hingenommen zu haben. Mir scheint, dass Jeanne Proust wie eine Pubertierende bockt, da sie nicht einmal einen Arzt an sich heranlassen möchte.
Und unmöglich, sie dazu zu bringen, ein Medikament zu nehmen oder etwas zu essen. (…) Immerhin geht es seit gestern etwas besser, nur ganz geringfügig, doch der Arzt (sofern Mama seine Besuche zulässt), versichert uns, dass Mama, sollte sie die Krise überwinden, wieder zu ihrer alten Gesundheit zurückfinden wird. Mir fällt es schwer, das zu glauben. (…) Ich habe mir immer gewünscht, nach ihr zu sterben, damit ihr der Schmerz erspart bliebe, mich zu verlieren. (Ebd)

Marcel Proust hat sich durch seine eigene schwere Erkrankung bereits in jungen Jahren mit Leben und Tod befasst. Sein Wunsch, nach seiner geliebten Mama zu sterben, um ihr den Trauerschmerz zu ersparen, ist sehr außergewöhnlich. Aber der Sohn erkennt ohnehin, dass sein Leben ohne seine Mutter ebenso qualvoll empfunden werden kann, besonders, weil er auch bis zum Schluss eine enge Bindung zu ihr gehalten hatte, obwohl er mittlerweile durch und durch zu einem erwachsenen Mann herangewachsen ist. Es war seine Mutter, die ihn an kranken Tagen am meisten versorgt hatte.
Aber ich weiß nicht, ob ihre Angst bei dem Gedanken, vielleicht von uns zu gehen, mich, der ich so unfähig dazu bin, allein im Leben zurückzulassen, oder vielleicht eingeschränkter, gebrechlicher noch weiterzuleben, ihr vielleicht noch größere Qualen bereitet. (433)

Die Mutter überlebt die Krankheit bedauerlicherweise nicht und stirbt mit 56 Jahren an den Folgen ihres Leidens. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Wie Marcel Proust am selben Tag an Robert de Billy schreibt, (…) war seine Mutter an einer Urämie (...) erkrankt. Sie stirbt knapp zwei Wochen später, am 26. September, in Paris. (432)

Telefongespräch mit Anne 
Wir haben nicht nur aber hauptsächlich über Prousts kranke Mutter gesprochen. Anne nannte sie die sture Kranke, passte zu meiner Interpretation die bockige Pubertierende. Jeanne Proust nahm ihr Leiden zu leichtfertig hin, was sie letztlich in den Tod führte. Sie hätte mit zeitiger und richtiger medizinischer Behandlung genesen können. Anne und ich sind neugierig, wie Marcel nun sein Leben fortsetzen wird, nachdem seine wichtigste Bezugsperson nur noch auf dem Friedhof zu finden sei. Wir haben uns beide daran erinnert, wie sehr Prousts Erkrankung von den Eltern auch auf die leichte Schulter genommen wurde, mit dem Vorwurf, er würde seine Leiden zu arg hochspielen. Anne zeigte sich betroffen darüber, dass die Mutter zwei Wochen lang die Nahrung verweigert hatte und hat versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Wie ist das, zwei Wochen lang nichts zu essen und nichts zu trinken?, war ihre Frage. Als gesunder Mensch ist das auch schwer vorstellbar. 

Auch sprachen wir über die intellektuellen Gespräche, die Proust mit seinen Briefpartner*innen weiterhin führte. Probleme zeigten sich wiederholt mit Robert de Montesquiou, und lässt sich darüber in einem Brief an Maurice Duplay aus. Montesquiou hatte Marcel ein Fragment aus seinem neuen Buch vorgelesen. Montesquiou bat Proust, sieben Personen seiner Wahl für eine Lesung einzuladen. In einem Brief hatte Proust gebeten, noch weitere Personen hinzuzufügen, mitunter auch Maurice Duplay einzuladen, wies der Schriftsteller ab, da dies den Charakter seiner Lesung verändern würde. (426f). Uns beiden, Anne und mir, wird dieser Montesquiou immer unsympathischer. Siehe auch letzte Briefe, letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es nächstes Wochenende auf den Seiten von 434 – 447.

___________________
Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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