Freitag, 8. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (3)

  Dritte Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


ISBN-10: 3596512255
Der Verlauf des Romans geht in immer weitere abstruse Etappen über, mit denen ich absolut nicht gerechnet habe, ich es aber auch liebe, wenn Autorinnen es schaffen, ihre Leserinnen zu überraschen. Die Kälte, die ich zu Beginn des Romans gegenüber des Protagonisten empfunden hatte, wandelte sich in mir schlagartig, so dass ich derzeit eher mehr Mitgefühl empfinde, wobei es in mir gerade emotional genauso chaotisch zugeht, wie den Figuren in dem Buch. Eine große, innere Unruhe schleicht sich in mir ein, aber ich leite jetzt erst mal über zu den Fakten, wobei ich es auch für interessant halte, zu beobachten, was ein Buch in der Leserin verursacht und was es mit ihr macht.

Eine große Veränderung geht bei der Frau des Professors hervor, die es nun ganz und gar auf das Vermögen und dessen gesamten Besitz abgesehen hat. Wenn Sie von ihm schon nicht geliebt werden kann, wie sie sich das als Ehefrau wünscht, und sie auch ein Recht darauf hat, denn immerhin hat er um ihre Hand angehalten, so möchte sie nun seinen gesamten Besitzstand an sich reißen. Es artet in eine richtige Gier aus, mit dezent wahnhaften Zügen besetzt. Mit ihrer List versucht sie den Namen seiner Bank herauszubekommen, und die Höhe seines Vermögens, denn
"was nützt ihr der Mann, wenn sie die Bank nicht hat? Der Mann sagt die Bank nicht. Ist das ein Mann, der die Bank nicht sagt? Es ist ja kein Mann. Ein Mann sagt die Bank!"
 Therese ist siebzehn Jahre älter als Kien,  siebenundfünfzig also, und bildet sich ein, in ihrer Erscheinung so jung wie dreißig zu wirken.  Das melden ihr ein paar Männer zurück, die sie ein wenig auf die Schippe nehmen, sie aber so naiv ist, und diese nicht durchschaut.
 Auf der Straße schauen mir alle Männer nach. Bei einer Frau kommt es auf die prachtvollen Hüften an.
Dass sie von ihrem Mann nicht wie seine Frau behandelt wird, eher noch wie seine Haushälterin, erträgt sie erst mit Wut, dann mit Reue und schließlich mit Vergeltung, und sich dies wie ein Prozess über viele, viele Seiten hinzieht. Diese vielen Widersprüche, die in der Frau verankert sind, kann ich so gar nicht wiedergeben, sie würden mich eher verr... machen... . Als Kien von der Leiter fiel, pflegte sie ihn sechs Wochen lang und nun erwartet sie so etwas wie eine Gegenleistung von ihm. Das folgende Zitat hat mich ein wenig amüsiert, weil es ihre Naivität authentisch zum Ausdruck bringt:
"Erst rettet die Frau dem Mann das Leben, dann darf sie hinaus. Der Mann war tot. Wer hat den Hausbesorger geholt? Der Mann vielleicht? Der lag unter der Leiter. Bitte, warum hat er den Hausbesorger nicht selbst geholt? Er hat sich nicht rühren können. Erst war er tot, dann hat er der Frau nichts gegönnt. (…) Die Bank muss sich melden. Eine Frau will wieder heiraten. Hab ich vielleicht vom Mann was gehabt? Auf einmal bin ich vierzig :D, und die Männer schauen mir nicht mehr nach. Die Frau ist auch ein Mensch. Bitte, die Frau hat ein Herz!"
An diesem Zitat wird deutlich, wie sehr Therese sich in eine Traumwelt, noch sei sie eine junge Frau, flüchtet... .
Therese ist heiß auf Kiens Testament und durchwühlt während seiner  Rekonvaleszenzphase seine gesamten Schubladen... Als sich das Testament nicht auffinden ließ, beharrte sie schließlich vehement darauf, endlich ein Testament zu schreiben und beim Notar zu hinterlassen... . Als sie den Erbbetrag auf dem Testament schließlich entnimmt, ist sie enttäuscht von der aus ihrer Sicht geringen Summe und begibt sich in eine Fälschung, indem sie dem Testament noch zwei Nullen hinzufügt. Die Nullen hatte sie ausreichend eingeübt... . Aus der Zahl 12.650 wird die Zahl 1.265.000.
Kien fielen die hässlichen Testamentschuppen von den Augen. Er sah sie sehr arm, um Liebe bettelnd, sie wollte ihn verführen, so hatte er sie noch nie gesehen. Für die Bücher hatte er sie geheiratet, ihn liebte sie. Ihr schluchzen macht ihm Angst.
Diese plötzliche Veränderung ihres Charakters ist zurückzuführen auf die menschliche Leere, die sie im Hause des Professors erfährt und für sie schwer aushaltbar ist.
Sie darf seine Luft atmen. Mehr will er mit ihr nichts zu tun haben. Sie gibt  sich mit seiner Luft zufrieden. Er vergisst, sich zu fragen, ob die Bank, wo sein Geld liegt, auch sicher ist. Sie zittert, er könnte sein Geld verlieren. Ihre eigenen Ersparnisse sind so geringfügig, um ihn längere Zeit über Wasser zu halten.
Als der Professor sich auf einen Spaziergang begibt, gesteht er sich ein, dass er von seiner Frau geliebt wird. Er sucht nach einem Mittelweg aber er weiß auch, dass er niemals ein "Lebemann" werden würde. Wirkliche Liebe würde sich nie beruhigen und würde ihm nur neue Sorgen bereiten, "bevor die alten tot sind".
Während des gemeinsamen Mittagessens wagt sich Therese nicht zu rühren, nicht einmal ihren Mund wagte sie aufzumachen, um die Mahlzeit einzunehmen, denn es könnten aus dem Mund Worte herausfallen :).

Ich bin so begeistert von dem bildhaften Ausdruck des Autors. Worte aus dem Munde herausfallen, einfach toll.

Hier erscheint Therese recht gefügig und anpassungswillig aber das scheint nur so.

Mit dem Vermögen des Professors plant sie in Zusammenkunft mit Geschäftspartnern ein Möbelgeschäft zu gründen, aber die Pläne wandeln sich auch wieder und so denkt sie über eine Übernahme einer Fremdbibliothek neben des Wohnhauses des Professors nach. In der Wohnung einfach die Wände runter reißen und eine Verbindung zu der Fremdbibliothek schaffen... .
Auf den weiteren Seiten dreht Therese immer mehr ab, sie ist kaum wieder zu erkennen, so dass auch der Professor glaubt, in einer Psychiatrie zu sein.
"Ich erlaube nicht, dass der Mann den Rock anrührt! Der Rock gehört mir! Hat der Mann den Rock gekauft? Ich habe den Rock gekauft! Hat der Mann den Rock gestärkt,  gebügelt? Ich hab den Rock gestärkt und gebügelt. Sind denn die Schlüssel im Rock? Ach wo, die denken nicht daran. Ich geb die Schlüssel nicht her. Und wenn der Mann den Rock zerbeißt, ich geb die Schlüssel nicht hier, weil die nicht drin sind! Eine Frau tut alles für ihren Mann. Den Rock und sie nicht! Den Rock tut sie nicht!"
Kien fuhr sich über die Stirn. "Ich bin in einer Irrenanstalt", sagte er, so leise, dass sie es nicht hörte.
Therese ist so abgedreht, dass sie ihrem Mann verbietet, mit Ausnahme seiner  Bibliothek, die Räume zu betreten, auch Küche und Bad sind tabu. Die Schlüssel verwahrt sie in ihrem Rock. Es folgen weitere, makabere Szenen, die Frau wird gegenüber ihrem Mann gewalttätig, so massiv gewalttätig, dass er sein Bewusstsein verliert und er erneut über einen längeren Zeitraum das Bett hüten und gepflegt werden musste. Kien wehrte sich nicht, obwohl er viel größer ist als sie. Er lässt sich schlagen, verprügeln, als wäre er ein kleiner Junge... . Ich habe mich selbst gefragt, wie ich mich verhalten würde, wenn ich einen solchen Mann geheiratet hätte, und der mich nur enttäuschen würde und ich diese Einsamkeit in dieser Zweisamkeit nicht ertragen wurde? Dann würde ich meine Koffer packen und wäre gegangen, statt ihn so zu betrügen, statt die Leere mit seinen Gütern ausfüllen zu wollen. Aber das wäre ja dann zu einfach und der Roman schon abgeschlossen :D.
Sein Verbrechen, für das sie ihn so grausam bestraft hatte, war mehr als gesühnt, aber nicht vergessen.
Als er sich von den vielen Prügeln erholt hatte, flüchtete der Professor nun auch in seine Gedankenwelt. Eigentlich würde er sich nur mit der Zukunft befassen wollen aber auf keinen Fall mit der Gegenwart:
Die Zukunft, die Zukunft, wie kommt er in die Zukunft hinüber? Lassen wir die Gegenwart vorüber sein, dann kann sie ihm nichts mehr tun. Ach, wenn sich die Gegenwart ausstreichen ließe! Das Unglück der Welt rührt daher, dass sie zu wenig in der Zukunft leben. Was hat das in hundert Jahren zu bedeuten, wenn er heute Schläge bekommt? Lassen wir die Gegenwart vergangen sein, und die Beulen merken wir nicht. An allen Schmerzen ist die Gegenwart schuld. Er sehnt sich nach der Zukunft, weil dann mehr Vergangenheit auf der Welt sein wird. Die Vergangenheit ist gut, sie tut niemand was zu leide, zwanzig Jahre hatte er sich frei in ihr bewegt, er war glücklich.  
Dieses Spektakel weitet sich soweit aus, bis Kien von seiner Frau ganz aus der Wohnung hinausgeschmissen wird. 
"Hinaus aus meiner Wohnung!" Sie speit, sie speit in sein Gesicht. Er spürt alles. Es tut weh. Er ist kein Stein. Dass sie nicht zerbricht, zerbricht seine Kunst. Alles ist Lüge, es gibt keinen Glauben. Es gibt keinen Gott. Er weicht aus. Er wehrt sich. Er schlägt zurück. Er trifft sie, er hat spitze Knochen." Ich mache die Anzeige! Diebe werden eingesperrt! Die Polizei wird es finden! Diebe  werden eingespart! Hinaus aus meiner Wohnung!" schrie sie ihn an. Sie zerrt auf seinen Beinen, um ihn zu Fall zu bringen. Am Boden wird sie sich gütlich tun, wie damals, es gelingt ihr nicht, er ist stark. Da packte sie ihn am Kragen und schleift ihn zur Wohnung hinaus. Die Tür wirft sie krachend hinter ihm zu. Auf dem Boden lässt er sich zu Boden fallen. Müde ist er doch. Die Tür öffnet sich wieder. Therese schleudert Mantel, Hut und Aktentasche hinaus. "Unterstehe dich nicht, wieder zu betteln!" schreit sie und verschwindet. Die Aktentasche gibt sie her, weil nichts drin ist. Alle Bücher behält sie in der Wohnung. 
Wie sehr der Professor vor seiner Frau nun geschrumpft ist... .
Bis auf sein Sparbuch hat der Professor nun alles verloren. Nichts gehört ihm mehr, weder seine Wohnung, noch seine Bibliothek, die als seine eigentliche und wichtige Wohnstätte galt.
Das Bankbuch hat er in der Tasche. Er presst es glücklich an sich, obwohl es ein Bankbuch ist. Therese ahnt nicht, was ihr mit dem Bettler entgeht. Bitte, wo gibt es einen Dieb, der sein Verbrechen immer bei sich hat?
Das ist eine sehr traurige Szenen, auch wenn der Professor sehr knauserig mit seinem äußeren Leben umging, gewünscht war es ihm nicht. Nun wandelt er durch die Gassen, mit einem Stadtplan, auf dem er alle Buchhandlungen und Bibliotheken rot eingekreist hat. Er verbringt dort seinen Tag, sammelt im Geiste neue Bücher und baut sich eine neue Bibliothek auf. Aber jede Buchhandlung in der Stadt besuchte er nur ein einziges Mal, da er auch dort nicht gerade erwünscht ist, aufgrund seiner äußerlichen Erscheinung und aufgrund seiner Art,wie er sich sprachlich gibt. 
Täglich übernachtete er in einem anderen Hotel. Wie sollte er die zunehmende Last fortschleppen? Da er ein unzerstörbares Gedächtnis besaß, trug er die gesamte neue Bibliothek im Kopf. Die Aktentasche blieb leer.
Das liest sicher so, als gäbe es kein Zurück mehr, kein Zurück in seine alte Bibliothek, kein Zurück mehr zu seiner Frau. Er hätte ja auch die Wahl gehabt, sich von ihr scheiden zu lassen und umgedreht auch. Da ich aber jetzt nun noch mehr als fünfhundert Seiten vor mir habe, gehe ich davon aus, dass der Professor nicht ganz zu einem Landstreicher wird. Jedenfalls bin ich neugierig, wie er überleben wird.

(Anm. die fettgedruckten Zeilen sind von mir hervorgehoben worden.) 
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"Die rechte Vernunft liegt im Herzen" (Theodor Fontane)

 UB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 40