Sonntag, 31. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein Büchelchen, das ich in einer kurzen Sprache erlebt habe. Kurz deshalb, weil die Sätze kurz waren, des Weiteren noch gepackt in vielen Absätzen und die Seiten waren nicht immer ganz gefüllt. Die Geschichte hat auf ihre Art Tiefgang, aber dennoch hat sie sich bei mir innerlich nicht wirklich festsetzen können. Das Buch habe ich seit ein paar Tagen ausgelesen, und es fällt mir schwer, mich an die Details zu erinnern. Ich habe überlegt, woran das gelegen haben könnte. Es lag an der Erzählstruktur. Die Episoden waren mir zu sprunghaft und zu abgehackt. Mir hat eine gewisse Chronologie gefehlt. Auch die Sprache war eine sehr kühle und distanzierte Sprache. Die Figuren waren für mich nicht ausreichend greifbar. Ich konnte keine innere Verbindung zu ihnen herstellen.

Und dennoch habe ich das Buch mit einer hohen Punktzahl votiert, weil ich im Nachklang mithilfe meiner Stichpunkte beim Durchblättern der Seiten nochmals durch viele interessante Kernstücke habe hervordringen können.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Heldin dieses Romans ist Kim, als sie 1978 im Alter von zehn Jahren zusammen mit ihrer wohlhabenden Familie aus Vietnam wegen des Kambodschanischen-vietnamesischen Krieges floh. Die Menschen flüchteten vor dem Kommunismus, der ihnen alles wegnahm, was sie besaßen.

Als die Kommunisten in Saigon einmarschierten, überließ meine Familie ihnen die Hälfte unseres Besitzes, denn wir waren verwundbar geworden. Eine Backsteinwand wurde im Haus errichtet, um zwei Adressen zu schaffen: eine für uns und eine für das Polizeirevier des Viertels. (35)

Die Angst vieler Menschen vor der Flucht über dem Meer war nicht so verbreitet wie die Angst vor den Kommunisten, und so nahmen diese Menschen alle Strapazen auf sich, sich hoffnungsvoll in abenteuerliche Aufbrüche zu begeben, um woanders eine neue Existenz aufzubauen. Das Erlebnis in einem Flüchtlingsschiff:

Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt. (11)

Die Flucht glückte trotz aller Nöte und Missstände bis nach Kanada ... In Quebec angekommen, wurde Kim in ihrem zweiten Aufenthaltsjahr auf eine Kadettenschule geschickt. Hier sollte sie auf Wunsch der Mutter zügig Französisch und Englisch lernen, damit sie schnellstmöglich in ihr neues Umfeld integriert werden könne, um am späteren gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt partizipieren zu können. Ihre Muttersprache musste sie aufgeben und stattdessen Englisch und Französisch lernen. Doch Kim verstummte zeitweise durch die Flucht.

Meine Mutter wollte, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. (25)

Kim schafft es aber, in ihrer neuen Heimat erwachsen zu werden. Sie selbst kreierte eine eigene Familie. Sie hat zwei Söhne, Pascal und Henri, während einer davon Autist ist. Sie möchte ihren Kindern ein Stück Geschichte ihres Herkunftslandes vermitteln …

… um ein Stück Geschichte in Erinnerung zu bewahren, das nie Eingang in die Schulbücher finden wird. (45)

Diese flüchtenden Menschen träumen alle einen amerikanischen Traum mit westlichen Werten und Lebensstandards ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eine Szene in Quebec.

Madame Girard hatte meine Mutter als Haushälterin eingestellt, ohne zu wissen, dass sie bis zu ihrem ersten Arbeitstag nie einen Besen in der Hand gehabt hat. (84)

Das ist für mich eine Degradierung ihrer beruflichen und sozialen Herkunft.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass der Familie die Flucht geglückt ist und sie in Kanada eine neue Heimat hat finden können, wenn sie auch auf das Anderssein aufmerksam gemacht wurde und man sie daran erinnerte, dass sie als ehemalige Asiat*innen nicht wirklich zur kanadischen Gesellschaft dazugehören würde. 

Zur gleichen Zeit hatte mein Chef einen Artikel aus einer Montrealen Zeitung ausgeschnitten, in dem darauf gepocht wurde, dass das >Volk Quebecks< weiß sei und ich mit meinen Schlitzaugen automatisch einer anderen Kategorie angehörte, obwohl Quebec mir meinen amerikanischen Traum geschenkt und mich dreißig Jahren lang beherbergt hatte. (92)

Meine Gedanken dazu
Diese Probleme hat nur die Spezies Mensch, die Menschen anderer Nationen bewusst / unbewusst als Fremde, als Exoten aussortiert. Tiere und Pflanzen kennen das nicht und können sich problemlos in neue Gegenden beheimaten. Ich denke hierbei an Stefano Mancusos Buch, wie Pflanzen, die eigentlich im Gegensatz zu uns Menschen als sesshaft zählen, es dennoch schaffen mithilfe anderer Lebewesen über ganze Ozeane zu migrieren und sich auf neue Kontinente zu verpflanzen; Gewächsarten, die wir heute als unsere heimischen Pflanzen betrachten. Bei vielen dieser sog. heimischen Pflanzen ahnt man nicht mal, dass sie ihren eigentlichen Ursprung einst auf einem anderen Kontinent hatten. Warum gelingt es aber Menschen nicht, Menschen mit anderer Hautfarbe … als einen Artgenossen zu betrachten? Auch bei uns in Deutschland gibt es exotische Pflanzen, die mittlerweile heimisch sind. Zum Beispiel die deutsche Kartoffel. Warum wird die deutsche Kartoffel nicht auf ihre Wurzeln runtergestuft, während ein*e Migrant*in keine Chance hat, sich jemals als Deutsche*r bezeichnen zu dürfen? Mal ganz blöd gefragt: Sind uns die Kartoffeln ähnlicher als ein Mensch eines anderen Landes?  Fragen, an denen ich jedes Mal verzweifeln könnte, wenn Menschen anderer Länder immerzu auf die Wurzeln ihrer Vorfahren reduziert werden. 

Eine andere Sichtweise hierbei zu gewinnen wäre wohl einer menschlichen Entwicklung geschuldet, die bei jedem Zeit und noch mehr Zeit benötigt. Sie beginnt sich erst bei einem Einzelnen zu formen und mit der Zeit werden es immer mehr werden, bis ein Kollektiv, somit eine ganze Gesellschaft, von diesem Ideal getragen wird, mit dem Wissen, dass wir in einer Vielfalt alles Menschen einer einzigen Menschenrasse sind.

Doch glücklicherweise stehe ich nicht mehr alleine mit meiner Meinung da. Der Rassenbegriff soll lt. dem Darmstädter Echo vom Dez. 2020 aus dem Grundgesetz gestrichen werden. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Anh Phi und Tante Sechs. Tante Sechs verhalf Kim dazu, ihren eigenen Traum zu träumen. (Tante Sechs ist das sechste Kind in ihrer Familie, für Kim dadurch die sechste Tante).

Als ich fünfzehn wurde, schenkte mir meine Tante Sechs, die damals in einer Hühnerverwertungsfabrik arbeitete, eine viereckige Aluminium-Teedose mit Bildern von chinesischen Feen, Kirschbäumen und roten, goldenen schwarzen Wolken. Im Tee versteckt waren zehn gefaltete Zettel, auf die Tante Sechs je ein Metier, ein Beruf, einen Traum für mich aufgeschrieben hatte: Journalistin, Kunsttischlerin, Diplomatin, (...). Dies Geschenk lehrte mich, dass es andere Berufe gab als Arzt und dass ich meinen eigenen Traum träumen durfte. (89)

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Ich habe eher eine distanzierte Haltung zu den Figuren entwickelt, dies wohl auch an dem Schreibstil der Autorin liegt.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Hat mich beides sehr angesprochen. Der Titel konnte für mich schlüssig werden. Nicht nur, wie sich die Fremde anfühlt, sondern auch welchen Klang eine Flucht haben könnte, fand ich auch spannend.

Zum Schreibkonzept
Der Roman ist auf 159 Seiten gepackt. Zu Beginn gibt es eine kleine Widmung Für die Menschen im Land. Es gibt keine Kapitel, und auch keine richtige Chronologie, wie ich oben schon geschrieben habe. Dennoch werden neue Kapitel mit den ersten Worten mit Großbuchstaben eingeleitet. Teilweise sind die Kapitel sehr kurz und füllen mit einem Absatz nicht mal die Hälfte der Seite.

Der Schreibstil ist eher in Tagebuchform und / oder im Telegrammstil verfasst. Die Sprache wirkt recht distanziert und ist in der Ichperspektive der erwachsenen Kim erzählt.

Insgesamt passt ihr Schreibstil eher in eine Dichtersprache, da sie manchmal wie wunderschöne und nachdenkenswerte Poesie klingt.

UND WO EINE ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag. (159)

Meine Meinung
Viele Episoden stimmten mich nachdenklich. Dass Menschen durch den Anpassungsdruck und den Druck der Assimilation gezwungen werden, im neuen Land ihre Muttersprache aufzugeben, weil sie nicht mehr gebraucht wird und damit nutzlos geworden ist, ist für mich schwer zu verstehen. Für was? Diese Menschen werden in der neuen Heimat nie wirklich dazugehören, selbst wenn sie sich assimiliert haben. Einige kritische Beispiele sind in dem Buch zu finden.

Doch welchen Lebensstil hätte Kim geführt, wäre sie in Vietnam geblieben? Welche Perspektiven hätte sie gehabt? Traditionen eines Landes übernehmen zu müssen, und die Pflicht, die Fortsetzung ihrer Mutter zu sein? Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie groß dieser Amerikanische Traum nur sein kann ... 

Und für immer der Schatten ihre Cousine Sao Mai zu sein?

WÄHREND MEINER GANZEN KINDHEIT wünschte ich mir insgeheim, die Tochter von Onkel Zwei zu sein. Seine Tochter Sao Mai war seine Prinzessin, auch wenn er manchmal tagelang vergaß, dass es sie gab. Sao Mai wurde von ihren Eltern verehrt wie eine Primadonna. Onkel Zwei gab viele Feste bei sich zu Hause. (...). Er schenkte ihr nur gelegentlich zwei Minuten Aufmerksamkeit, doch das war genug, um meine Cousine mit einer inneren Kraft zu versehen, die ich nicht hatte. Ganz gleich, ob ihr Magen leer oder voll war, Sao Mai hatte nie Probleme, ihre großen Brüder und mich herumzukommandieren. (57)

Das Für und Wider spiegelt uns die Autorin immer wieder, aber der Gewinn einer Migration wiegt stärker hervor. Kims Kinder tragen keine Namen ihrer Vorfahren, sondern westliche Namen und zeigt damit eine Abnabelung von ihren Ahnen und damit die Entwicklung einer neuen Identität, die die Autorin durch die Flucht ins neue Land hat in sich entstehen lassen.  

Mein Fazit
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, das Einblicke gibt in Familien, die vor dem Krieg in andere Welten fliehen müssen, und sich woanders eine neue Existenz aufbauen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch eine Lesepartnerin P. G. auf Facebook. In einer Zoomrunde wird das Buch am kommenden Dienstagabend gemeinsam besprochen.

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
1 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

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Zoomrunde, Di. 03.02.2021; 19:00 Uhr bis 21:30 Uhr

Teilnehmerinnen: Hana, Petra, Christa und ich. 

Petra und Hana sind mir durch das Facebook-Bücherforum Lesedrachen bekannt. Ich gebe nur ein paar wenige Fakten wieder, nicht die gesamte Zoom-Runde.

Ich fand die ganze Diskussion sehr inspirierend und wir waren uns alle einig, dass die Sprache wunderschön ist und das Buch trotz schlanker Linie recht gehaltvoll und tiefgründig ist. 

Auch darüber, dass man das Buch nicht in einem Rutsch weglesen könne, sondern die vielen kurzen Geschichten in sich wirken lassen müsse. 

Interessant war auch, dass jeder andere Aspekte aus dem Buch gezogen hat. Es gab viele übereinstimmende Szenen, aber es gab auch Szenen, die jeder unterschiedlich wahrgenommen habe, nach dem Motto: Vier Augenpaare sehen mehr als ein Augenpaar. 

Meine anderen drei Mitdiskutantinnen fanden die vielen ernsten Themen wie Flucht, Krieg und Migration sehr leise erzählt. Das heißt, dass viele Vietnamesinnen einfach ihr Schicksal in die Hand nehmen, ohne zu klagen und in der Lage seien, das Beste daraus zu machen.

Bei Hana fand ich faszinierend, dass sie sogar bei der Zubereitung einer Mahlzeit regelrecht die Suppe hat riechen können.

Migration und das Ankommen: Eine prozessuale Entwicklung, die bis in die nächste Generationen andauern könne. Wobei Kim Kanada als ihre Wahlheimat bezeichnet habe. Dennoch sei es möglich, mehrere Heimaten zu pflegen. Der Begriff Heimat / Heimaten in der Pluralform gibt es noch nicht sehr lange. Wo wir uns nicht alle einig waren: Für mich und Petra schien es, als sei Kim in Kanada angekommen. Sie habe es geschafft, sich eine neue Identität und eine neue Heimat aufzubauen. Ihre beiden Kinder tragen westliche Namen ... Hana war davon nicht ganz überzeugt. 

Auch waren wir uns einig, dass man das Buch nicht mit einem westlichen Blick lesen dürfe. Dazu hat Hana einen schönen Gedanken formuliert: Eine Frau auf dem Reisfeld könne genauso glücklich sein wie eine westliche Frau in einem anderen Beruf, der bei uns angesehen sei. Denn die Frage kam uns auf, was ist mit den Menschen, die im Land geblieben und nicht geflüchtet seien? Wir hatten das Beispiel von Kims Cousine Sao Mai, die in Vietnam geblieben ist und glücklich auf uns wirkte trotz der Einfachheit an Leben. Wir waren uns einig, dass auch diese Menschen das Beste aus ihrem Leben machen würden, um auf ihre Weise glücklich zu leben, denn Glück sei nicht an westlichen Maßstäben zu messen. 

Ich war die einzige, die eine Struktur vermisst hat. Dadurch haben mir Details aus der Familie einfach gefehlt. 

Ich war auch die einzige, die die Sprache als zu kühl und distanziert beschrieben hatte.

Insgesamt erhielt das Buch von uns allen eine recht gute Bewertung ... 

Petra hat auch eine Rezension verfasst, siehe hier

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese in meinem langsamen Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.

 

Sonntag, 24. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde

 Klappentext  

Das Exil als Chance und Glück

Saigon, 1978: Als Zehnjährige muss Kim Thúy mit ihren Eltern aus Vietnam fliehen, Kanada wird ihre neue Heimat. Die Fremdheit der neuen Welt überwältigt das Mädchen – sie erschließt sich ihre Umgebung über Klänge, Farben und Gerüche. In unvergesslichen Bildern geht Kim Thúy dreißig Jahre später dieser sinnlichen Spur ihres Lebens nach, erzählt von Vertreibung und Neubeginn, von Schmerz und Lust der Erinnerung und dem täglichen Glück, sein Leben zu wagen.

Autor*inporträt

Kim Thúy wurde 1968 in Saigon geboren und floh als Zehnjährige mit ihrer Familie nach Kanada. Sie arbeitete als Übersetzerin und Rechtsanwältin, als Gastronomin, Kritikerin und Moderatorin für Radio und Fernsehen. Als Autorin wurde sie 2010 mit ihrem in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman ›Der Klang der Fremde‹ bekannt. Kim Thúy lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Montreal.

Meine ersten Leseeindrücke

Eine sehr ausdrucksvolle und fantasievolle Sprache. Wir wissen in unserem Land zu wenig zu schätzen, was wir materiell und ideell alles besitzen. Selbst Frieden ist Luxus. Würden die Menschen hier dies mehr zu schätzen wissen, würden sie sicher viel respektvoller miteinander umgehen. Ich befinde mich derzeit auf der Seite 62.

Buchdaten

·       ASIN : 3423144157

·       Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft (19. Juni 2015)

·       Sprache : Deutsch

·       Taschenbuch : 160 Seiten, 9,90 €

·       ISBN-10 : 9783423144155

Hier geht es zur Verlagsseite von dtv.

Hier geht es zu meiner Buchbesprechung.

 

Sonntag, 17. Januar 2021

Sy Montgomery / Einfach Mensch sein - Von Tieren lernen

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 


Ein wundervolles Buch, das ich vor ein paar Tagen ausgelesen habe. Meine ersten Leseeindrücke haben sich bis zur letzten Seite halten können, sodass ich vorab zwei weitere Werke von der Autorin mir bestellt habe, die ich am Ende noch vorstellen werde.

Das Schöne an der sehr feinfühligen Autorin ist, dass sie ihre Tierliebe nicht auf die üblichen Tiere wie Hunde und Katzen, etc. begrenzt, sondern sie sogar auf viele Exoten ausweitet. Ich konnte viel von ihr lernen, speziell was ihre Liebe auch zu Spinnen und Insekten betrifft.

Ein Buch über den respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen, die uns, wenn wir es zulassen, so auch die Autorin, vom inneren Wesen her recht ähnlich sind. 

An einem einzigen Beispiel habe ich durch die Autorin das Bedürfnis verspürt, auch über meine eigene Erfahrung mit meinen Vierbeinern zu schreiben. Seelenverwandte? Finde ich draußen in der realen Welt unter den Menschen sehr wenige. Und dabei gibt es sie sehr wohl. Das hinterlässt für mich einen tröstlichen Charakter.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Sy Montgomery erzählt in einem narrativen Schreibstil von ihrem Leben mit Tieren, dessen Weichen schon recht früh entgegen der Mutter in ihrer Kindheit gelegt wurden. Während ihre Mutter aus ihr ein adrettes Mädchen zu formen versucht hatte, geht sie dennoch ihren eigenen Weg. Sie fühlt sich zu Tieren dermaßen hingezogen, dass sie diese zu ihren einzigen Spielgefährten machte. Begonnen hatte alles mit einer Scotchterrier – Hündin namens Molly. In dieser Kindheit träumte sie schon ihren Traum, aus ihrem Umfeld auszuziehen, um mit den Tieren in der Wildnis leben zu können. Obwohl ihre gut situierten Eltern mit ihr andere Pläne hatten, begannen ihre Träume mit 26 Jahren Gestalt anzunehmen, indem sie beschloss, ihren eigentlichen Beruf als Journalistin aufzugeben und in die Tierforschung zu gehen, um das Verhalten verschiedener Tierarten zu ergründen.

Vorbilder fand sie schon in ihren Kinderbüchern. Sie las Jane Goodall, die berühmte Primatologin und Verhaltensforscherin. Weg von den verborgenen Beobachtungen, und rein in die Sukzessive, um auf die Tiere zuzugehen und deren Verhalten aus der Nähe zu beobachten. Der Terminus  wäre  hierzu Empirie bzw. Feldforschung. Dies waren Goodalls Methoden, die Montgomery übernommen und in ihre Arbeit integriert hatte. 

Sy Montgomery bereiste dadurch mehrere Kontinente, um ihre Forschungsprojekte anzugehen. Doch sie führte als Tierforscherin auch ein Privatleben mit eigenen Tieren wie Hühner, Border – Colly, ein Schwein etc. und auch alle ihre Tiere bekamen einen Namen ... Doch selbst die Goliath – Wolfsspinne aus der Forschung erhielt den Namen Clarabelle und der Oktopus hieß Octavia.

Ihre eigenen Tiere nahm sie bei sich auf, die gehandicapt waren …

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Mir hat nicht gefallen, dass Sy Montgomery von den Eltern enterbt wurde, nachdem sie einen Mann ihrer eigenen Wahl geheiratet hat. Ihr Mann ist Schriftsteller von Beruf und in den Augen ihrer Eltern nicht angesehen genug. Weitere Beispiele hierzu siehe unten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es waren jede Menge Szenen, doch bei einer Szene musste ich an Goethe denken, der das Buch über die Wahlverwandtschaft geschrieben hat, weshalb ich diese Szene unbedingt aufschreiben möchte, denn man kann durchaus auch Tiere zu Wahlverwandten machen, wenn man erkennt, dass diese Geschöpfe wie man selbst auch beseelte Wesen sind.

Die Autorin selbst hat sich mehr zu Tieren als zu Menschen hingezogen gefühlt. Wie ich oben schon geschrieben habe, war ihre Zuneigung zu Tieren schon mit der Geburt mitgegeben. Ihren damaligen ersten Hund erhielt sie im Alter von drei Jahren. Diese Hündin bezeichnete sie als ihre Schwester. Deshalb die Bezeichnung Wahlverwandtschaft, die mich an Goethe zurückdenken ließ, in der die Seelentiefe bei der Wahlverwandtschaft stärker ausgeprägt sein kann als bei der Blutsverwandtschaft. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die innere Entwicklung eines Menschen nicht unbedingt von der Erbmasse abhängig gemacht werden muss. Natürlich ist die physische Anatomie davon ausgenommen. Obwohl man die Gene der Eltern in sich trägt, ist man dennoch mit völlig anderen Vorlieben und Bedürfnissen ausgestattet.

Nach einem bewegten Leben voller Umzüge erdete er mich. Und nachdem meine Eltern mich verstoßen hatten, war es Christopher, der aus einem bunten Gemisch von Wahlverwandten eine richtige Familie entstehen ließ, die nicht den Genen zu verdanken ist, sondern allein auf Zuneigung beruht. (77)

Welches Einzelkind kommt schon auf die Idee, sein Haustier als ein Geschwister zu betrachten?

Viele kleine Mädchen vergöttern ihre älteren Schwestern. Mir ging es nicht anders. Nur dass meine ältere Schwester eine Hündin war. Hilflos stand ich da, in dem Rüschenkleidchen und den Spitzensöckchen, in die meine Mutter mich gesteckt hatte. Ich wollte sein wie Molly: wild. Unerschrocken. Nicht zu halten. (15)

Probleme bereitete es der Mutter, da ihr sog. Prinzessinnenkind sich zu einem Wildfang entpuppte.

Dass andere Menschen meine Vorstellung von unserer Beziehung nicht teilten, merkte ich erst, als meine Mutter anfing, uns beide zu zähmen. (27)

Die Autorin hat schon recht früh begriffen, dass Tiere eine Persönlichkeit besitzen, Individuen sind, auf ihre Lebensweise bezogen sogar denken können und auch Gefühle haben. Was sie als Kind unbewusst schon wusste, schärfte sich in ihr durch die Tierforschung noch verstärkt ein. Sie schaffte es sogar mit Spinnen, Quallen … eine Beziehung aufzubauen.

Nähere Bekanntschaft mit jemand aus einer anderen Spezies zu machen, bereichert einen Menschen auf erstaunliche Weise. Alle Tiere, denen ich - und sei es nur flüchtig - begegnet bin, haben mein Leben verändert. (...) Ich (kann) davon erzählen, dass es immer und überall Lehrmeister gibt, mit vier, zwei, acht oder auch gar keinen Beinen, einige mit Skelett, andere ohne. Alles, was wir tun müssen, ist, sie als Lehrer zu erkennen und uns zu öffnen für ihre Wahrheiten. (10f) 

Sehr anschaulich fand ich auch das Exempel mit den Emus, die Montgomerys erstes Forschungsprojekt in Australien abgaben. Ich fand es phänomenal, wie diese Tiere mit ihr auf einer nonverbalen und telepathischen Art kommuniziert haben. In Hawaii und Kalifornien untersuchte Montgomery sogar die Tiersprachen. Und hier, bei den Emus, erschien es mir so, als hätten diese Tiere in ihren Gedanken gelesen, ihre Fragen aufgeschnappt und sie die Tierforscherin in eine Richtung gelenkt haben, die Montgomery zu Antworten verhalfen. Außerdem erinnerten mich ein paar Szenen dazu an den italienischen Biologen Stefano Mancuso, der über die außergewöhnliche Reise der Pflanzen geschrieben hat.

Sind Emus möglicherweise Samenverbreiter? Welche Pflanzen fressen sie? Können die Samen aus den Emus-Ausscheidungen besser keimen? (2019, 42) 

Die Antwort darauf findet man auch bei Mancuso, welchen Einfluss Tiere bei der Migration von Pflanzen haben. Fand ich genial, sie hier nochmals zu finden.

Hier im Nebelwald hatte ich jene Urkraft wiederentdeckt, die uns geistig und körperlich gesund erhält: ungebrochenen, köstlichen Lebenshunger. (140)

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Sy Montgomery und ihr Gatte Howard.

Welche Figur war mir antipathisch?
Das war mir die Mutter, die ich aber nicht verurteilen möchte. Sie konnte eben nicht aus ihrer Haut und versuchte nur ihr Prestigeverhalten an ihre Tochter weiterzugeben, damit diese ein bestmögliches Leben mit allen Privilegien führen könne. Irgendwie tun doch die meisten Menschen in allen Kulturkreisen dasselbe. Gesellschaftliche Normen und Regeln einhalten, um dazuzugehören, um von der Gesellschaft nicht ausgestoßen zu werden. Den Maßstab an Werten an die nächste Generation weiterzuvererben, sehen viele in der Erziehung als ihre Hauptaufgabe an. Glücklicherweise gibt es aber Menschen, die man nicht einfach in eine vorgegebene Richtung erziehen kann. Still oder rebellisch, egal wie, gehen sie doch ihren ureigenen Weg, der von ihrer Anlage her für sie bestimmt ist. Wem es nicht sofort gelingt, erreicht sein eigenes Leben über Umwege. Aber besser Umwege gehen, als kein eigenes Leben zu haben. 

Meine Identifikationsfigur
Sy Montgomery. Sie hat alles für ihre Tiere getan. Hat mich an meinen Momo erinnert, den ich als einen heimatlosen Kater zu mir genommen habe. Er war traumatisiert und litt unter Verlustängsten. Dadurch bin ich nicht mehr in den Urlaub gefahren. Zehn Jahre lang. Und viele konnten nicht verstehen, dass ich wegen eines Tieres auf meine Reisen verzichtet habe. Immerzu haben sie mich bezichtigt, dass das nur eine Ausrede sei, und meinten, dass mein Kater nur vorgeschoben wäre, dass mir die Reisen in Wirklichkeit nicht wichtig genug seien. Das waren aber alles Menschen, die selbst keine Haustiere hatten. Nun lese ich Montgomery und mir fällt es wie Schuppen vor den Augen. Nein, das waren keine Ausreden, mein Kater war nicht vorgeschoben. Bekanntlich hätte die Autorin in meiner Lage dasselbe getan, da auch sie für ihre Tiere Bürden auf sich genommen hat. Und sie hätte mir geglaubt, dass ich aus Liebe zu meinem Kater gerne auf meine Reisen verzichtet habe. Warum müssen Menschen andere Lebensweisen immer so kritisch hinterfragen und zerreden? Im Grunde genommen verstehen sie es nicht. Alle Jahre diese störenden wiederkehrenden Fragen in saisonalen Urlaubszeiten wie z. B. Bist du weggefahren? (…) Und jedes Jahr kam dieselbe peinliche absagende Antwort. Und schon war ich abgeschrieben. Man hat sich lieber mit anderen ausgetauscht, die große Reiseerlebnisse aus ihren Urlaubsorten mitbrachten. Wegen der Tiere auf etwas zu verzichten? Uns werden häufig anthropomorphe Verhaltensweisen vorgeworfen in der Form, dass wir Tiere vermenschlichen würden. Das mag bei einigen Menschen wohl der Fall sein, die mit ihren Haustieren irgendeine innere Lücke kompensieren. Aber echte Tierliebe hat nichts damit zu tun. Denn in der Tierliebe geht es ausschließlich darum, den Tieren ein glückliches und erfülltes Leben zu ermöglichen. Dass Tiere den Menschen bei guter Behandlung mit einer tiefen, freundschaftlichen Geste bereichern, ist außer Zweifel. Selbst mit einem Oktopus erlebte die Autorin eine besondere Beziehung, weil sie fähig war, sich ganz auf dieses Tier einzulassen.

Wer Tiere nur als Lückenfüller benutzt, ist zu solch einer Fähigkeit schon gar nicht in der Lage.

Cover und Buchtitel  

Auf dem gebundenen Cover sind die Hühner abgebildet, die Montgomery von einer Freundin geschenkt bekam. Es waren acht Hühner, die sie als Die Ladys bezeichnet hatte. Das Cover auf dem Taschenbuch trägt einen Hund, der Tess darstellen müsste.

Der Buchtitel hält auch, was er verspricht.

Bald erkannte ich, dass ich in meinem Bemühen, einfach Mensch zu sein, noch viele Lektionen zu lernen hatte. (192) 

Ihre Lehrmeisterinnen waren die Tiere. Selbst von dem kleinen Ferkelchen namens Christopher Hogwood, das bei ihr und ihrem Mann bis zu seinem Lebensende glücklich leben durfte, konnte Montgomery Weisheiten entlocken:

Er war ein großer dicker Buddha, der uns lehrte zu lieben, was das Leben uns gibt. (66)

Sich innerlich öffnen können ist dabei eine Kunst, denn …

(U)nsere Welt bietet eine unermessliche Vielfalt, welche die menschlichen Sinne kaum zu erfassen vermögen. Das hat mir (auch) die Freundschaft mit einem Oktopus gezeigt. (173)

Zum Schreibkonzept
Eine Kurzwidmung zu Beginn des Buches ist enthalten. Anschließend folgt ein Inhaltsverzeichnis. Weiter geht es mit einer recht interessanten Einleitung, die sehr vielversprechend ist. Daraufhin folgen elf weitere Kapitel. Das Buch endet mit einem Nachwort und einer Danksagung. Mit jedem neuen Kapitel ist eine Illustration mit dem betreffenden Tier und einem Spruch abgebildet. Weitere Illustrationen findet man auch mitten in den Geschichten. Sehr schön gemacht. Der Schreibstil ist ein empathischer. Hier bestätigt mir die Autorin, dass die emotionale Intelligenz genauso wichtig ist wie die kognitive. Sy Montgomery ist nicht einseitig gebildet, Kognition oder Emotion, sondern als Wissenschaftlerin auf beiden Ebenen, sowohl Kognition als auch Emotion. Welch ein enormer Reichtum.

Das Nachwort ist von Donna Leon, die das ganze Buch nochmals zusammengefasst hat. Warum eigentlich?

Meine Meinung
Ich habe dieses Buch sehr genossen zu lesen. Nicht nur was das Zwischenmenschliche im Zusammenleben mit den Tieren betrifft, spannend fand ich auch das Fachwissen, an dem uns die Autorin ebenso teilhaben lässt. Gerade was die Berichte zu anderen Tierarten betreffen, habe ich viel Neues dazulernen können.

Mein Fazit
Mein Fazit schließe ich mit einem Zitat:

Um das Leben jeglicher Tiere zu verstehen, braucht man nicht nur ein gehörig Maß an Neugier, Wissen und Verstand. (...) Ich würde nicht nur mein Gehirn öffnen müssen, sondern auch mein Herz. (57)

Wer also Tiere verstehen will, muss es mit Herz und Verstand tun. Gilt aber auch im Umgang mit Menschen im eigenen Land und in anderen Ländern.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Nun, eigentlich war es Tina, die mir dieses Buch empfohlen hat. Sie selbst besitzt die Taschenbuchausgabe. Ich kannte die Autorin Sy Montgomery bisher überhaupt noch nicht. Und bin der Tina unsagbar dankbar für diesen Wink, denn durch die Autorin verstehe ich mein Verhalten zu meinen Tieren nun viel besser, sodass ich mir vorgenommen habe, die Autorin mit zu meinen Lesefavoriten anzureihen und habe vor, alle Bücher von ihr nach und nach zu lesen. Eine wunderbare Möglichkeit, mein Leseprojekt Den Tieren eine Stimme geben mit dieser Autorin weiter zu füllen.

Mit der Autorin setze ich in den nächsten Monaten mit zwei weiteren Werken fort. Ich habe mich für die Bücher entschieden, die die Exoten behandeln, weil ich so gerne mehr dazulernen möchte. Später schaffe ich mir noch die Bücher zu dem Schwein Chris, zu ihren Hunden und zu den Katzen an. 


Meine Bewertung / 14 Punkte

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Empathisch und sachlich)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere in Mensch und Tier
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

2 Sonderpunkte wegen des Lesehighlights.

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.


Sonntag, 10. Januar 2021

Sy Montgomery / Einfach Mensch sein

 Von Tieren lernen

Lesen mit Tina

Klappentext  

  • Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer. Narrative Non-Fiction mit Illustrationen von Rebecca Green und einem Nachwort von Donna Leon

    Emu, Baumkänguru, Spinne, Hund und Hermelin: Sie alle haben die Naturforscherin Sy Montgomery mehr über das Leben gelehrt als mancher Artgenosse. Leidenschaft für die Natur hat ihr Herz groß gemacht und ihr Leben reich. Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe von ebenso atemberaubenden wie beglückenden Begegnungen. Sy Montgomery öffnet uns die Augen für die Geheimnisse des Lebens.

    ›Einfach Mensch sein‹. Das drohen wir in der technisierten Welt zu verlernen, doch in der Gesellschaft von Tieren gelangen wir zum Ursprünglichen zurück. Vertrauen, Instinkt, Gespür: Im Einssein mit der Natur finden wir unsere Lebendigkeit wieder. Im Beisein unserer Mitgeschöpfe wachsen wir über uns selbst hinaus. Dabei sind nicht nur exotische Tiere wie Oktopus und Emu zu entdecken. Das Unerwartete beginnt unmittelbar vor der eigenen Haustür. Ein Weisheitsbuch für unsere Zeit.

    Autor*inporträt

    Sy Montgomery, geboren 1958 in Frankfurt am Main, ist die Autorin des Bestsellers ›Rendezvous mit einem Oktopus‹. Zur Recherche für ihre Bücher war sie mit Piranhas, rosa Delphinen, Zitteraalen und Schneeleoparden unterwegs – um dann die wahren Wunder der Natur vor dem eigenen Fenster zu entdecken. Montgomery lebt in New Hampshire.

    Auszeichnungen

    ·      Zum ›Literary Light‹ der Boston Public Library ernannt, eine Würdigung für außerordentliche Schriftsteller im Nordosten der USA, 2020

    ·      Bronze-Medaille des ›Sarah Josepha Hale Awards‹ als Autorin aus New England, 2020

    ·      ›Riverby Award‹ der John Burroughs Association für Bücher für junge Leser, 2020

    ·      Würdigung mit dem ›Award for Environmental Excellence‹ der Antioch New England Graduate School, Fachbereich Umweltwissenschaften für herausragende Beiträge für Umwelt und Nachhaltigkeit, 2019

    Meine ersten Leseeindrücke

    Ein wundervolles Buch. Es liest sich wie eine Meditation. Ich entspanne mich beim Lesen, ohne den Tiefgang einzubüßen. Ich bin so beglückt, ein Buch zu finden, das in dieser Sparte nichts mit Esoterik zu tun hat, und trotzdem findet man hier ganz real und ohne große Hexerei den Umgang mit der Tierkommunikation, die das umfassende Leben mit vielen verschiedenen Tierarten impliziert. Und wie sie gelingen kann, zeigt uns die Autorin in ihrer Empathiefähigkeit, sich auf die Tiere einzustimmen.

    Total interessant, dass Montgomery diesbezüglich auch in die Tierforschung ging, und dabei Jane Goodall, Verhaltensforscherin auf dem Gebiet der Primaten, kennenlernen durfte. Auch Jane Goodall ist eine wunderbare Frau und Tierexpertin. 

    Längst hätte ich mit dem Buch durch sein können, aber die Episoden zu der Artenvielfalt an Tieren wirken in mir während des Lesens noch dermaßen nach, dass es mir nicht möglich ist, das Lesen in einem Rush fortzusetzen, wenn ich mir dieses Nachwirken an Ort und Stelle gestatten möchte. Viele Details sprechen mich an, dass ich das Nachdenken nicht auf das Ende aufschieben möchte. Dann würden mir diese Details definitiv verloren gehen.

    Alles Weitere spare ich mir für meine spätere Buchbesprechung auf. Ich befinde mich derzeit auf der Seite 127.

    Meine Lesepartnerin Tina ist auch von dem Buch sehr angetan.

    Buchdaten

    ·       Herausgeber : Diogenes; 1. Edition (20. März 2019)

    ·       Sprache: : Deutsch, 22.- €

    ·       Gebundene Ausgabe : 208 Seiten

    ·       ISBN-10 : 3257070640

    Hier geht es zur Verlagsseite von Diogenes.

    Hier geht es zu meiner Buchbesprechung.

     

Sonntag, 3. Januar 2021

John Irving / Owen Meany (1)

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was für ein toller Irving. Mit welcher Raffinesse er hier seine Fäden gesponnen hat, um seine Leser*innen in den Bann zu ziehen. Einmal hatte ich mich sogar so richtig gefoppt gefühlt, ich hatte echt gedacht, der Autor will uns Leser*innen hinters Licht führen, uns einen Streich spielen. Ich war total desillusioniert an einer Stelle, auf die ich sehnsüchtig gewartet hatte, endlich eine Antwort auf eine bestimmte Frage zu erhalten. Mehrere hunderte von Seiten musste ich mich in Geduld üben, bis die Antwort schließlich erfolgte. Eine Antwort, mit der ich partout nicht gerechnet hatte. Ich war total perplex. Doch durch das aufmerksame Weiterlesen, man musste sich weiterhin in Geduld üben, kam für mich die Erlösung. Nein, Irving wollte nicht über uns Leser*innen witzeln, sondern Schabernack treiben zu einer bestimmten Institution ... und manchmal sogar zu bestimmten spießigen Figuren, die mich auch amüsiert haben.

Aber Irving ist auch fair, keine mir gestellte Frage ließ er offen, die Antworten kamen alle erst in späteren Kapiteln, was ich als angenehm empfunden habe, weil es den Reiz hatte, unbedingt weiter lesen zu müssen. Manchmal kam eine Antwort erst nach mehreren hundert Seiten. Eine weitere Antwort kam erst zum Schluss. 852 Seiten, man bekam genug Zeit, alle diese Antworten zu finden. Somit war man echt gefordert, mit den Figuren mitzugehen und mitzudenken, wobei viele meiner Hypothesen nicht aufgegangen sind.

Ich habe auf Facebook so viel darüber geschrieben, dass ich jetzt gesättigt vom vielen Schreiben bin und ich mir ein paar Notizen von dort hier auf meinen Blog hieven möchte.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Dieses Mal ziehe ich meine Buchbesprechung anders auf, da das Buch dermaßen tiefgründig ist, auch die Figuren sind sehr außergewöhnlich und vielfältig, dass ich hier überhaupt nicht sagen kann, wer von den vielen Figuren mir besonders gut gefallen hat. Es waren mehrere. Selbst meine Identifikationsfigur hat sich im Laufe des Lesens gewandelt. Wobei ich mich meistens in Owen gespiegelt hatte, der vor allem in der Welt der Erwachsenen sich so sehr kritisch bezogen hatte, in dem er sich ihr auflehnen musste. Das Schöne an ihm, er ging seinen Weg ... Owen war auch seinem besten Freund John gegenüber eine sehr große Stütze. In der Schule und im späteren Leben, auch weil er Johns Mutter ein Versprechen abnehmen musste ... 

Meine Rezension / Meine Leseerfahrung mit dem Buch
Als ich Owen Meany in der hiesigen Nacht beendet habe, ließ er mich sehr nachdenklich und traurig zurück. Irgendwie befand ich mich am Ende in einem Trance ähnlichen Zustand. Erst war ich zum Schluss etwas gelähmt, musste einiges noch sacken lassen. Was ich vor 450 Seiten durch das Lesen zwischen den Zeilen vermutet hatte, hob sich Irving die Details hierzu für den Schluss auf. 

Owen Meany - Für mich der beste Irving / Die Kindheit von Owen und John
Aber wie ich schon auf der #Diogenes Verlag - backlistlesen - Seite auf Facebook geschrieben habe, ist dieses Buch der beste Irving, den ich bisher gelesen habe. Dieser sehr kritische, differenzierte und recht authentisch geschriebener Gesellschafts- und Familienroman erschien 1990 im Diogenes Verlag, 1989 fand die Erstveröffentlichung in Amerika statt.

Nicht nur, dass das Buch eine Kindheit zweier unterschiedlicher Jungen der 1950-er und 1960-er Jahre behandelt, beide 1942 geboren, schließt das Werk zu dem noch eine umfassende Amerikanische Geschichte mit ein, ohne das Buch damit zu überladen .... 

John Irving war seiner Zeit voraus / Politischer Weitblick, der in die Zukunft führt
Ich hänge außerdem dem Gedanken nach, ob Irving so etwas wie einen Weitblick hatte? Konnte er damals, als er das Buch schrieb, z. B. einen Donald Trump, der einerseits eine Witzfigur darstellt, andererseits eine sehr gefährliche Kreatur im Politikum ist, voraussehen? Mich hat dieses Buch auch hierbei sehr beeindruckt, und sicher bin ich mit diesen wenigen Zeilen noch lange nicht fertig mit der inneren Verarbeitung. 

John Iring - Owen Meany und Günter Grass - Oskar Matzerath
Zwischenzeitlich hat mich diese kleine Figur Owen an den kleinen Oskar von der Blechtrommel erinnert. Oskar wollte nicht erwachsen werden, weil auch er mit der erwachsenen Welt nicht klar kam und hat recht früh gelernt, deren Macken zu durchschauen, um dagegen zu rebellieren. Ich hatte aber noch nicht den Mut, diese Parallele Owen zu Oskar zu ziehen, und ziehe sie jetzt, nach dem ich mit dem Buch durch bin.

Wo spielt die Handlung?
Die Kindheit der beiden Protagonisten John Wheelwright und Owen Meany spielt in Gravesend, New Hampshire, im Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Der erwachsene John wandert durch eine Identitätskrise als Amerikaner nach Kanada aus und lässt sich dort einbürgern. Die Amerikanische Geschichte umfasst die Nachkriegszeit, John F. Kennedy, die 1968er Bewegung, Vietnam Krieg, u. v. m.

Owen Meany ist eine hochsensible und strenggläubige Persönlichkeit, die ihn aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit über einen Gendeffekt zu einem besonderen Menschen im Positiven wie im Negativen macht. Owen Meany  ist groß im Denken und groß im Fühlen ... Aber er ist mit seinen 150 cm nicht nur klein geraten, auch sein Kehlkopf ist von dem Gendeffekt betroffen, der Owen dadurch mit einer extrem auffälligen, schrillen Stimme ausstattet, die selbst mit dem Älterwerden nicht aus ihm herauswachsen will ... Er muss sich bei den Gleichaltrigen aber auch bei den Erwachsenen durchsetzen, um gesehen zu werden. Die Stimme allerdings verschafft ihm mit der Zeit Gehör ... Er verfolgt durch seine kleinwüchsige Besonderheit eine religiöse Mission, und fühlt sich von Gott auserwählt, diese Mission zu erfüllen. 

Owens Vater ist im Steinbau tätig und führt ein eigenes Granitgeschäft. Die Mutter lebt angeblich wegen einer schweren Feinstauballergie hinter verschlossenen Türen und Fenstern und zeigt ein seltsames Verhalten auch Owen gegenüber. Die Eltern sind sehr religiös, waren erst Katholiken, sind allerdings aus der katholischen Kirche ausgetreten, da ihnen das Leben aus bestimmten Gründen von der Kirche her schwer gemacht wurde und sind in die Episkopalkirche konvertiert, in der auch die Familie Wheelwright angebunden ist, die zuvor zu den Kongregationalisten zählte ...

Owen selbst ist stark dem Gott-Glauben gebunden und schon in Kinderjahren bibelfest. Er zeigt allerdings eine extrem starke Rebellion der katholischen Kirche gegenüber ...

Auch John Wheelwright hat Ecken, da er vaterlos ist. Seine alleinerziehende Mutter Tabitha  verschweigt ihm den Namen des Erzeugers ... Es ist Owen, der sich ihm bei der Vatersuche behilflich zeigt ... So richtig alleinerziehend ist die Mutter aber nicht, denn in Johns Erziehung wirkt auch ihre Mutter Harriet mit ein. 

Zwischen Owen und John entwickelt sich eine besondere und lebenslange Freundschaft. Owen ist körperlich zwar klein geraten, aber zeigt immense geistige Größe und erhält als Schulbester jeden Schulabschluss, den er haben wollte … Er wird sogar an der Gravesent - Akademy Schulsprecher und kritischer Autor einer regelmäßigen Schülerzeitung. 

Eine besondere Rolle spielt auch Johns Mutter in Owens Leben, allerdings nicht nur, dass sie die durch sein Einwirken über einen sportlichen Unfall tödlich aus dem Leben gerissen wurde …

Cover und Buchtitel 

Das Cover hat mich sehr angesprochen und noch vor dem Lesen musste ich mich fragen, welche Bedeutung es haben könnte? Die Auflösung ist dem Buch zu entnehmen. Das Motiv, eine ärmellose Schneiderpuppe mit dem roten Kleid, ist als ein Double mit Johns Mutter in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einer Widmung an John Irvings Eltern. Auf der folgenden Seite gibt es zwei Bibelverse, anschließend einen dritten Spruch, der sich auch an die Christmenschen richtet. Diese drei Verse bereiten die Leser*innen auf die Hauptthemen des Buches vor.

Owen spricht in Großbuchstaben. Im Buch ist ein Kapitel mit Die Stimme belegt. 

Anschließend ist ein Inhaltsverzeichnis abgedruckt, das mit neun Kapiteln untergliedert ist. Das Werk umfasst 852 Seiten. Am Ende ist eine Danksagung mit abgedruckt.

Der Schreibstil ist flüssig und sehr authentisch sind die Lebensereignisse und die Charaktere aller Figuren beschrieben. Die Geschichte wird in der Retroperspektive aus der Ich-Perspektive des erwachsenen Johnny Wheelwright erzählt.

Die Erzählperspektiven wechseln ab zwischen Vergangenheit (1950er und 1960er-Jahre) und der Gegenwart (1987).

Die Erzählstruktur ist sehr strategisch gewählt, sodass dadurch die Neugier bis zum Schluss lebendig bleiben konnte.

Meine Kritik?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Owen als einen kleinen witzigen Gnom in der Luft zerreißen werden, obwohl er alles andere als witzig ist. Mir ist er dagegen wohlwollend ans Herz gewachsen. Mit seiner außergewöhnlichen charismatischen Art schafft er es, andere 
von seinen Ideen zu überzeugen und andere wiederum zur Weißglut zu bringen. Wie aus dem Werk zu entnehmen ist, war er durchaus auch ein Mensch, den man lieben konnte. Man kann Owen  mögen, man kann ihn aber auch als unausstehlich, unsympathisch und als unbequem wahrnehmen. Es gibt etliche Szenen, die aufstoßen lassen, dennoch halte ich zu ihm. Nicht nur, dass er Mut bewiesen hat, ein Leben seiner Art zu meistern, sondern weil er in der Lage war, sich kritisch einem System gegenüber zu stellen, das von anderen nicht hinterfragt wurde. Wobei Mut nicht der richtige Ausdruck ist. Er hat agiert, weil er nicht anders konnte. Er musste einfach Missstände aufdecken. Und er musste diese Missstände aufzeigen, den Menschen radikal den Spiegel vorsetzen, sie aufrütteln, wenn er weiter in seiner Welt überleben wollte. Ich beneide ihn, weil er mit seiner Energie so viel Kampfgeist bewiesen hat, und er damit viele Menschen zum Nachdenken bewegt hat. Er war in allem einfach schlagfertig aber nicht im Bösen, nicht in einer narzisstischen und egomanen Form. Ihm ging es nicht um Konkurrenz und um recht haben müssen, nicht um besser sein müssen als andere. Ihm ging es immer um die Sache selbst, für die er eingestanden hat.

Mein Fazit
Ein Buch über Freundschaft, Religion, Liebe, Lügen, Politik. Ein großes Buch über Loyalität. Ein Buch über Wunder …

Nach dem Lesen musste ich die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende nochmals vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Dieser Irving hat es verdient, ein zweites Mal gelesen zu werden.

Viel Feingefühl, viel Esprit und jede Menge Weisheiten hat er in seine Geschichten gewoben.

Owen Meany ist in meine Seele eingezogen und wohnt da erst mal. 

Mein Highlight zum Jahresabschluss von 2020.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Obwohl dieses Buch mittlerweile zu den modernen Klassikern zählt und es viele Irving-Fans schon nach der Erstveröffentlichung gelesen haben, gibt es doch noch einige wie mich, die erst jetzt empfänglich für diesen Buchtitel geworden sind. Im Netz wurde ich auf eine Buchbesprechung dazu aufmerksam und musste mir, nach dem ich den Klappentext studiert hatte, das Buch unbedingt auch zulegen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

12 von 12 Punkten

________________

Das erste Wunder, an das ich glaube,
ist mein eigener Glaube.
(Owen Meany)

Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen

Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)