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Donnerstag, 13. August 2020

Alexander Gosztonyi / Das große Buch der Seele (1)

Evolution, Bewusstsein und transzendentale Intelligenz    

Der Wissende weiß, dass er glauben muss.
(Friedrich Dürrenmatt)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 


Welch ein tolles Buch. Es hat mir tatsächlich viele, viele Fragen beantworten können. Ein Buch, das man allerdings nicht einfach so herunterlesen kann, weshalb ich meine Zeit gebraucht habe. Das Buch ist sehr komplex, sodass ich mir nur ausschnittweise einige Statements für die hiesige Buchbesprechung vornehmen werde.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Um was geht es in diesem Buch?
Es sind so viele Themen, die der Autor behandelt, dass ich nur ein paar nennen möchte. Es geht um sämtliche Sinnfragen, die auf alle Lebewesen auf unserem Planeten, im Universum bzw. im gesamten Kosmos bezogen sind. Es geht darum, was die Seele ist, wie sie entstanden ist, was man unter Gott und dessen Schöpfung versteht. Es geht um Tod und Wiedergeburt, dazu um die äonische Entwicklung, dass, wenn wir am Ende dieser angelangt sind, wir unseren Reinkarnationsprozess beendet haben und schließlich in die Sphären Gottes gelangen würden. Auch geht es um die Entstehung der verschiedenen Weltreligionen, um den Bezug zur Bibel und Jesus Christus. Es geht um das Bewusstsein aller Lebewesen, nicht nur um das der Menschen. Ganz interessant fand ich die Beschreibung zu Gut und Böse und was Liebe ist. Es geht hier aber nicht um den strafenden Gott, sondern ausschließlich um den liebenden, der alles vergibt. Sittenstrenge Lehrmeister*innen sind hauptsächlich die Menschen, die sich und anderen gegenüber bewusst oder unbewusst einem Vollkommenheitsanspruch nachgehen, und lassen
dadurch in sich ein projektives Gottesbild entstehen. Weshalb Gott alles vergibt, sogar das tiefste Verbrechen, wird in dem Buch mehrfach erklärt. Das bedeutet aber nicht, dass der Mensch freie Hand hat. Mit jeder bösen Tat lädt er sich schlechtes Karma auf. Was das sog. Böse ist, wird im Buch sehr gut beschrieben, auch, dass es mit Sinn behaftet sei. Ich werde weiter unten auch nochmals darauf eingehen. 

Nicht der strafende, sondern der liebende Gott
Häufig kommt man in Situationen, in denen man von anderen Menschen enttäuscht wurde, dass man sich so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit wünscht. Aber gibt es die? Ist es nicht besser, wenn wir vergeben, denn sonst wird es immer Kriege weltweit geben? Wer den Krieg nicht im Außen erlebt, der erlebt ihn in seinem Inneren, wo er mit all seinen Widersachern zu hadern hat. Das AT ist voll von den Wünschen eines strafenden und rächenden Gottes. Oder man wird oft wegen kleinster Fehler von seinen Mitmenschen angeprangert. Man wird hier häufig mit hohen moralischen Werten konfrontiert, deren Haltung allerdings nichts mit Gottes Geduld, Verständnis und Liebe zu tun hat. 

Gott allerdings straft nie. Im Gegenteil: er hilft dem Menschen, seine Schuld auf jene Weise wiedergutzumachen, die sowohl für Mitmenschen und Mitseelen als auch für ihn selber im wahren Sinne vorteilhaft ist.- Ist der Mensch innerlich reif genug, so wird er auch erkennen können, dass alle seine Verschuldungen geschehen mussten. Er wird einsehen, dass „Fehler“ machen, das Böse“ tun, sich verschulden in der äonischen Entwicklung aus dem Grunde unvermeidlich sind, weil sie grundlegende Erfahrungen mit sich bringen und somit den Lernprozess der menschlichen Seele überhaupt erst ermöglichen. Und er wird auch wissen, dass ohne Gottes Willen nichts auf der Welt geschehen kann, auch das Böse nicht. (2014, 576)


Welche Punkte haben mich am meisten beschäftigt?
Das waren eine Menge, ich aber darüber nicht schreiben kann, weil ich befürchte, damit viele meiner Mitmenschen zu verärgern, weil das, was der Autor schreibt, stark vom Glauben bzw. vom Nichtglauben der Menschen abweicht. Außerdem ist es wichtig, die Punkte nicht isoliert zu betrachten, sondern sie im gesamten Kontext aufzunehmen. 

Aber zur Liebe möchte ich mich gerne detaillierter auslassen. Der Autor hat sie in vielen Kategorien gepackt, und manche waren mir nicht fremd, vor allem über die Art, wie die meisten Menschen lieben. Zum Beispiel lieben sie nur ihr Haustier, oder nur ihre Familie, ihre eigenen Kinder, viele lieben nur ihr Land, dadurch wird auch der Rassismus verständlich. Der Autor beschreibt diese Art von Liebe als die ausschließende Liebe. Es ist eine Entweder- oder-Liebe. Hier bringe ich nun ein längeres Zitat ein, um dies besser zu verdeutlichen:

Diese sehr verbreitete Art von Liebe ist die ausschließende Liebe. Ausschließlichkeit kennzeichnet auch die identifikative Liebe. Auch diese beschränkt sich auf Personen, mit denen sich der Mensch identifizieren kann, so dass die Grenzen seiner Liebe mit den Grenzen der Gemeinschaft, welcher er angehört, zusammenfallen. - Außenstehende müssen - oder sollen sogar - nicht geliebt werden. Dazu wäre der Mensch auf den unteren Entwicklungsstufen ohnehin nicht fähig. Und es kommt nicht selten vor, dass Menschen dieses Schlages allen, die nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören, mit Misstrauen, wenn nicht mit Hass begegnen. Zum Beispiel beschimpfen Kinder in manchen Landstrichen „Fremde“ (zu denen sie auch Bewohner der Nachbardörfer zählen), nur, weil sie nicht aus demselben Dorf sind. Manche bewerfen diese sogar mit Steinen, nach dem Grundsatz: „Wer nicht zu unserer Gemeinschaft gehört ist ein Feind“; - ungeachtet dessen, wie er ist oder was er tut. Die „Liebe“ zu den Eigenen fordert den Ausschluss aller Außenstehenden, - womit auch schon der Boden für Verachtung oder Hass von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen (…) gelegt ist.

Der Unterschied der rein ausschließenden Liebe zur identifikativen Liebe besteht im Folgenden: Der Mensch, der nur zur identifikativen Liebe fähig ist, liebt in jedem, den er „liebt“, letztlich nur sich selber. Derjenige hingegen, der nicht mehr identifikativ und auch nicht mehr besitzergreifend liebt, kann schon fähig sein im wahren Sinne zu lieben. Er kann jedoch vorläufig nur wenige lieben. Seine Liebe ist noch ausschließend. Weil er noch nicht fähig ist, sich auch anderen gegenüber in echter Liebe zu öffnen, macht er aus seiner Unfähigkeit (...) ein Gesetz und behauptet, man dürfe nicht auf dieselbe Weise und mit derselben Intensität Personen lieben.

 Wächst im Menschen die Liebesfähigkeit, so wird er immer mehr Menschen und Seelen in seine Liebe einbeziehen können. Das Herz, das sich öffnet, öffnet sich allen gegenüber. (600)


Die wahre und echte Liebe
Über die Liebe ist ja schon ganz viel gesprochen, geschrieben und gesungen worden. Über kitschige und schnulzige Liebesschlager und Liebespoesien, über tiefsinnige philosophische Schriften und vieles andere mehr. Interessant fand ich dagegen die Perspektive des Autors, weil sich der Mensch zur wahren Liebe erst hinentwickeln müsse.

Auf der höchsten Stufe hingegen fühlt der Mensch sich mit allen Menschen und allen Seelen verbunden und der Grund seiner Verbundenheit ist seine echte Liebe zu allen. (588)

In dieser Entwicklungsstufe ist es schließlich egal, aus welchem Land ein Mensch kommt und welche Hautfarbe er hat. Diese Menschen sind in der Lage, alle Menschen als seinesgleichen zu betrachten. Hier werden auch die Gemeinsamkeiten in den Fokus gerückt und nicht nur die Unterschiede, die zwischen allen Menschen, auch unter den Verwandten, überall vorhanden sind.

Liebe erblüht, wenn sich der Mensch öffnen kann. Sie ist eine Angelegenheit des Herzens. -Öffnet sich das Herz des Menschen, so wird er auch fähig wahrzunehmen, wie die anderen in Wahrheit sind und was sie tatsächlich brauchen. Wer wirklich liebt, der denkt in erster Linie nicht an sich, sondern an jene, denen seine Liebe gilt. 

Wer liebt, kümmert sich nicht um die Meinung anderer, kümmert sich nicht um vorgefasste Vorstellungen und er kümmert sich nicht einmal um seine Liebe. Es genügt, dass er der Liebe gestattet, in ihm wach zu werden. Die Liebe findet, falls sie echt ist, ihren Weg von selbst.

Liebe ist nicht nur Gefühl, Liebe ist immer auch ein Tun. Und was die Liebe zu tun hat, das weiß sie selbst am besten. Sie kann bekanntlich auch heilen und deckt eine Menge von Sünden zu (…).

Der Mensch muss die Liebe nur zulassen, sie in sich wirken lassen. Ist seine Liebe echt, so ist es oft überraschend, was alles durch Liebe bewirkt werden kann, sogar Wunder. Wer wahrhaftig liebt, wird es gewiss erfahren haben. (602)

Das Herz, was sich der Liebe öffnet, öffnet sich nie nur einem Wesen gegenüber. Es öffnet sich allen gegenüber: allen Seelen, ob sie die Kleinsten oder die Größten sind, (...) Lebewesen oder Menschen (…). Und der „Geringste“ ist ihm ebenso wertvoll wie der „Höchste“. (603) 


Menschen mit transzendentalen Erfahrungen
Menschen, die über solche Erfahrungen verfügen, die Gott oder ihrem Schutzengel nahe waren, oder Kontakt mit Verstorbenen hatten, haben das Bedürfnis, mit ihren Mitmenschen darüber zu sprechen. Der Autor warnt davor, mit diesen Erfahrungen hinaus zu gehen, denn

Viele, die versuchen, ihr Gotteserlebnis anderen mitzuteilen, erleben eine bittere Enttäuschung. Sie müssen erfahren, dass sie lediglich „Perlen vor die Säue werfen“ (…) Nur die Wenigsten nehmen ein solches Erlebnis ernst, und noch weniger sind es, die es verstehen. (630)

Ich selbst spreche nur mit bestimmten Leuten darüber, wenn ich mit solchen Erlebnissen beschenkt werde. Und ich hatte in meinem Leben schon viele Geschenke dieser Art. In der Gesellschaft dagegen wird man als naiv und dumm bezeichnet. Da fragt man sich häufig, wer der wirkliche Dumme ist?

Woher hat der Autor sein Wissen?
Wie ich schon in der Buchvorstellung geschrieben habe, ist der Schweizer Autor Alexander Gosztonyi über 40 Jahre lang in Zürich in eigener Praxis Rückführungstherapeut und Lebensberater gewesen. Über seine Arbeit hat er 2009 auch ein Buch herausgebracht, das hier bei uns in Deutschland nicht mehr erhältlich ist. Viele Infos, die die Proband*innen in den Sitzungen von sich gaben, ließen sich bei der Evaluation als richtig bestätigen.

Was ist ein Rückführungstherapeut?
Ein Rückführungstherapeut versetzt die Ratsuchend*innen mithilfe der Trance in andere Leben, um Blockaden aus dem gegenwärtigen Leben aufzudecken.

Wie wird eine Rückführung durchgeführt?
Hier ein Link eines Rückführungstherapeuten, der dies aus seiner eigener Praxis wunderbar beschreibt. 

Meine Identifikation
Obwohl dies hier ein transzendentales Sachbuch ist und keine belletristische Literatur, habe ich auch in diesem Buch Quellen gefunden, in denen ich mich wiedergefunden habe, mit denen ich mich identifiziert habe. Es geht um die Liebe zu den Mitseelen, die Liebe zu  den Tieren.

Daraus ein Zitat:

Der Mensch, in welchem die Liebesfähigkeit erstarkt, merkt, wie er auch Tiere und Pflanzen lieben kann (und nicht nur seinen „Liebling“ die Katze oder den Hund im Haus). Und er wendet sich ihnen in Liebe zu, indem er sie pflegt und schützt, und falls sich ihm Gelegenheit bietet, versucht er sie auch vor barbarischen Zerstörungen zu bewahren. Da dies allerdings - sogar im Kleinsten – (heute noch) nicht immer möglich ist, wird er wegen seiner Liebe zu den Mitseelen und zur Natur (vorläufig) immer wieder leiden. (604)

Dies genau war der Grund, was mich zur vierten Glaubenssuche meines Lebens bewogen hat. Mein innerlicher Schmerz Tieren gegenüber, die durch uns Menschen Leid erfahren, nimmt immer mehr zu, vor allem, weil ich ohnmächtig zuschauen muss, wie dieses Leid sich weltweit vermehrt. Die kleinen Dinge, die ich Tieren Gutes tue, sind im Vergleich zu dem Elend, den Tieren und Pflanzen weltweit zugefügt wird, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. 

Der Autor ist weder Buddhist, noch Hinduist
Alexander Grosztonyi ist Christ, dennoch ist er durch seine Berufspraxis von der Theorie der Reinkarnation und des Karmas überzeugt. Auch geht er differenziert zur Bibel und dem Zölibat ein.

Cover und Buchtitel                                           

Das Cover ist interpretationswürdig, passt zur Thematik. Und der Titel hat auch absolut gehalten, was er versprochen hat.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist sehr gut strukturiert; die Themen bauen alle aufeinander auf. Auf den 712 Seiten ist es in vier Teilen gegliedert und besteht insgesamt aus 34 Kapiteln. Am Ende findet man einen Anhang, der aus Teilen von Fremdbegriffen, Personen- und einem Sachregister zusammengesetzt ist.

Das Buch ist thematisch zwar recht komplex, aber sehr gut verständlich geschrieben. Ich habe auf vielen Seiten ein Post-it kleben, die ich alle nicht wieder entfernen werde, damit ich betreffende Stellen immer wieder nachlesen kann.

Meine Meinung
Mich hat das Buch richtig gefesselt, mit vielem konnte ich mich aussöhnen, was in der Welt so alles geschieht aber es schreckte auch etwas ab. Es ist die astronomische Anzahl der Reinkarnationen. Bis man diese äonische Stufe erlangt hat, die uns Menschen von der Wiedergeburt befreit und man in die Sphären Gottes gelangt, ist ein sehr, sehr weiter Weg. Ich selbst habe mich gefragt, in welcher Entwicklungsstufe ich mich befinde? Puh, ich glaube, dass meine Entwicklungen noch lange, lange nicht abgeschlossen sind.

Tiere und Karma
Interessant fand ich den Aspekt, dass auch Tiere ein Karma haben. Wenn ich dies nun an meinen Haustieren beobachte, wird mir manches klar, weshalb meine Katze sich nicht für die Liebe ihres seit knapp drei Jahren neuen kätzischen Mitbewohners öffnen kann. Auch für sie ist dies mit einer großen Lernaufgabe verbunden.

Tiere, die bei Menschen leben, befinden sich auf dem Weg, sich durch einen langen Reinkarnationszyklus von einer Tierseele zu einer Menschenseele zu entwickeln. Erstmal Mensch geworden, gibt es kein Zurück mehr. Es ist nicht möglich, sich wieder in eine Tierseele rückzuverwandeln, wie dies uns viele Esoterikerinnen und auch esoterische Tierkommunikatorinnen glaubhaft zu machen versuchen. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch Eigeninitiative und durch Internetrecherchen. Seit vielen Jahren befinde ich mich schon auf der Suche nach Antworten auf meine Frage, warum Tiere durch uns Menschen so ein Elend erleiden müssen und Gott dies zulässt? Ich bin zwar keine Kirchgängerin und auch nicht bibelfest, so bin ich dennoch davon überzeugt, dass es etwas Göttliches geben muss, denn die Welt kann unmöglich ganz von selbst entstanden sein. Selbst der Urknall hat seinen Stoß gebraucht, um aktiv zu werden. Kann ein Nichts tatsächlich nichts sein, aus dem ein ganzes Universum zustande kam? Deshalb immerzu meine Frage, warum lässt Gott das zu? Tiere, Pflanzen und Kinder sind für mich die schutzlosesten Lebewesen, die es überhaupt gibt. Bei den Verbrechen an Kindern folgen dagegen heftige Strafen, die abschreckende Wirkungen erzielen können, Verbrechen an Tieren und an Pflanzen werden allerdings nicht ausreichend strafrechtlich verfolgt und geahndet. Außerdem gibt es legale Gewalt und legale Tötungen an unsere wehrlosen Mitseelen. 

Mein Fazit
Ich bin noch lange nicht fertig mit Alexander Gosztonyi. Werde mir die Folgebände auch noch vornehmen, denn mich hat dieses Buch total bereichert. Doch man muss sich für neue Sichtweisen öffnen können, auch in der Lage sein, das alte Weltbild auch mal auf den Kopf zu stellen, sonst wird man wenig mit dem Buch anfangen können. Auf jeden Fall gebe ich eine klare Leseempfehlung für suchende und aufgeschlossene Menschen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck passend zum Stil eines Fachbuches
2 Punkte: Sehr gute Verständlichkeit
2 Punkte: Authentizität des Sachbuches
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

 _____________

Der Wissende weiß, dass er glauben muss.
(Friedrich Dürrenmatt)

Gelesene Bücher 2020: 15
Gelesene Bücher 2019: 34
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist auch Geist, und was er innerlich denkt und fühlt. Auch ist er für seinen Charakter und für seine Taten ganz alleine selbst verantwortlich 
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Sonntag, 12. April 2020

Matthias A. K. Zimmermann / Kryonium (1)

Foto: Wikipedia / Brouhaha
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Was für ein Buch!!! Endlich habe ich es geschafft, durch alle Seiten zu kommen. Mir ging es nicht schnell genug. Zu ungeduldig bin ich mit jeder gelesenen Seite geworden, je weiter ich mich mit meinen Sinnen in dieser literarischen Welt vorangetastet habe. So ein spannender Fantasieroman ist mir ja noch nie in die Finger gekommen. Ich muss gestehen, dass ich nach ein paar Tagen es nicht mehr ausgehalten habe, und musste nach vorne blättern, weil ich unbedingt wissen wollte, wer z. B. dieser namenlose Icherzähler nur ist, und mit welcher Realität die Geschichte enden wird. Wie sollte die Kernbotschaft dieses Buches nur lauten? Dies und anderes wollte ich unbedingt vorzeitig in Erfahrung bringen. Ich habe das Lesen wirklich nicht genießen können, so sehr hat mich diese Geschichte in ihren Bann gezogen.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Aber ich kann versichern, dass inhaltlich alle meine Fragen beantwortet wurden, aber ob alle Probleme des Protagonisten in den Griff zu bekommen waren, das soll jeder selbst herausfinden.

Die Buchbesprechung muss ich bei dieser Lektüre ein wenig anders aufziehen. Ich kann auf vieles gar nicht eingehen, denn ein Satz zu viel geschrieben, ein Detail zu viel verraten sprengt die ganze Auflösung, was ich keinesfalls möchte. Sollen andere Leser*innen genauso leiden, wie ich gelitten habe, und sich schön von Frage zu Frage lesend hocharbeiten. Das klingt böse, nein, ich wünsche jedem dieselbe Spannung, die auch ich erfahren habe. Lasst euch überraschen!!!!

Die Handlung
Der Icherzähler befindet sich auf einer magischen Insel, in der er sich mehrfach gefangen fühlt. Diese Gegend ist ihm völlig unbekannt. Er weiß nicht, wie er dorthin gelangt ist und wie er wieder aus ihr herauskommen wird. Auf dieser bewaldeten Insel leben sämtliche Fabelwesen wie Zwerge, Gnome, Hexen, Zauberer, Einhörner, Drachen, etc. Der Wald ist verhext. Aber alles scheint beseelt zu sein, wie z. B. auch der erstarrte Schneemann, der ein Bewusstsein hat. Der Icherzähler wird in einem Schloss gefangen gehalten. Es ist Winter und ein gefrorener See umschloss wie eine Zange die Insel und hielt die Tiere, Fabelwesen und Schlossbewohner gefangen. Unter der Eisfläche lauerte das Ungeheuer. (2019, 13)
Das Schloss, im Vergleich zum Wald, wirkte alles andere als in sich ruhend und wurde von unentwegter Hektik und ständigem Unbehagen beherrscht. Seine Bewohner waren in eine strikte Hierarchie gegliedert: Die Obrigkeit bestand aus dem König und den Rittern; die Mittelschicht bildeten die Wachen und Hofdamen; und die Unterschicht (…) setzte sich aus den Untertanen zusammen. (Ebd.)

Der Icherzähler, in dieser Sparte Physiker von Beruf, wird von zwei Wachen jeden Morgen aus seiner Zelle geholt und in die Lichtwerkstatt begleitet. Hier pflegt er den wissenschaftlichen Auftrag ausfüllen zu müssen, die größte Glühbirne zu erstellen, die es jemals gab, damit diese viel Licht ausstrahlen kann, um das lichtempfindliche Ungeheuer aus den Tiefen des Sees auszumerzen ...

Der Icherzähler versucht, aus dem Schloss zu fliehen. Er befindet sich im verzauberten Wald und macht Bekanntschaft mit verschiedenen Märchenfiguren, die ihm helfen sollen, den Wald wieder zu verlassen, um nach Hause zu kommen. Wäre da nicht die Hexe, die scheinbar eine Flucht unmöglich macht …

Später findet sich der Icherzähler in einer psychiatrischen Klinik wieder, die ihn dort wegen einer Wahrnehmungsverzerrung festhält. In dieser Anstalt wird er gezwungen, Psychopharmaka einzunehmen, ohne zu wissen, wie lange er schon festgehalten wird und unter welcher Erkrankung er leidet. Er scheint von einer Amnesie befallen zu sein ... Die Psychiatrie lässt an Zeiten der 1950 / 1960er Jahre erinnern, wo Erkrankte wie Schwerverbrecher behandelt und von der Gesellschaft weggesperrt wurden.

Er wünscht sich wieder zurück in die Märchenwelt, da er die Psychiatrie noch weniger zu ertragen weiß. An allen Orten, wo er sich allerdings befindet, ist er bedroht und dadurch ständig auf der Flucht …

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Am Anfang waren das die Szenen in der Psychiatrie.
Aber auch die Szene mit der gierigen und gefräßigen Eule fand ich widerlich.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Diese Aha-Erlebnisse in den letzten Kapiteln. Sehr originell fand ich allerdings, als der Icherzähler bei der Flucht aus der psychiatrischen Klinik draußen mit einer Glaswand zusammengestoßen ist und nicht weiterkam, und er schmerzvoll erkennen musste, dass er und das gesamte Umfeld in einer Schneekugel gefangen war. Was für eine tolle Idee.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Mir war der Schneemann sehr sympathisch aber auch der Zauberer.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die gesamte Belegschaft der Psychiatrie.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich hin und wieder in dem Icherzähler gesehen ... 
Diese ständige Suche nach Lösungen, selbst wenn eine Situation aussichtslos erscheint, hält ihn nichts davon ab, weiter zu suchen. Es rattert im Kopf und rattert und rattert, bis er neue Wege gefunden hat, neue Ideen, neue Antworten auf Fragen, die, wenn man den Fabelwesen glauben wollte, völlig unlösbar erscheinen würden. genauso bin auch ich. Auch der Widerstand gegenüber dem Klinikpersonal war für mich nachvollziehbar. 

Cover und Buchtitel
Mir hat das Cover sehr gut gefallen, das mich so sehr angezogen hat. Die Symbole darauf konnte ich im Buch alle wiederfinden und so lernte ich nach und nach deren Bedeutung kennen. Was den Buchtitel betrifft, so benötigt man hierbei sehr viel Geduld und Ausdauer, bis man dessen Sinn und Zweck herausgefunden hat.

Zum Schreibkonzept
Auf den 324 Seiten ist der Roman in vier Teilen gegliedert. Die Teile bestehen fortlaufend aus 60 relativ kurzen Kapiteln. Auf der allerersten Seite bekommt man eine Widmung in Versform zu lesen, einleitend passend zum Inhalt des Romans. Auf der folgenden Seite ist ein Vers von einem tibetischen Yogi abgedruckt. Im ersten Teil lernt man die Ichfigur kennen, die Probleme mit ihrer Identität hat und gar nicht weiß, wer sie ist und wie sie in diese skurrilen Welten eingedrungen ist. Bis zum dritten Teil ist der Roman in der Ichperspektive erzählt. Im dritten Teil findet ein Wechsel zwischen dem Icherzähler und dem neutralen Erzähler statt. Im ersten Teil ist die Welt fiktiv, im zweiten Teil bekommt man es mit der Wirklichkeit zu tun, bis sich beides auch hier vermischt. Surreale Handlungen werden im zweiten Teil zur Normalität. Im dritten Teil gibt es eine neue Gegenwart, aus der ich meine Aha-Erlebnisse gewonnen habe. Im vierten Teil liest man ein Nachwort von Stephan Günzel, deutscher Philosoph und Medientheoretiker, der sich auf den Roman mit wissenschaftlichen Theorien bezieht.

Man hat es hier mit vielen bekannten Figuren in abgewandelter Form aus der Märchen- und der Fantasywelt zu tun. Aber man findet auch neue und unbekannte Wesen. Des Weiteren sind in dem Roman auch Archetypen aus der griechischen Mythologie mit eingewoben. Nicht, dass der Autor abgeschrieben hätte, nein, er hat mithilfe der vielen bekannten aber auch der vielen unbekannten Symbole eine eigene Geschichte kreiert.

Auch die Sprache fand ich sehr gelungen. Eine überaus gewählte und elaborierte literarische Ausdrucksweise, die dennoch gut zu verstehen ist.

Meine Meinung
Eigentlich bin ich genauso getäuscht und gefoppt worden, wie auch die Hauptfigur dieses Romans getäuscht worden ist. Im zweiten Kapitel hatte ich gedacht, die Botschaft des Romans schon erfasst zu haben, aber nein, ich lag völlig falsch. Meine gesamten Deutungstheorien haben mich fehlgeleitet. Alle meine Hypothesen wurden negiert. Ich hatte heute Nacht sogar von dem Buch geträumt, von ganz viel Algorithmen, sogar vom Satz des Pythagoras????

Nichts, aber auch gar nichts ließ sich voraussehen. Selbst mit einer Kristallkugel wäre man nicht weitergekommen. Einen so tollen Fantasieroman dieser Art habe ich noch nie vor mir liegen gehabt. Am Anfang wird Fiktion und Wirklichkeit getrennt, dann aber vermischt sich beides, und selbst die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, wie wir sie leben, gibt es in mehreren Dimensionen. Richtig gut. Aber das Lesen hat mich erschöpft. Weil die Hauptfigur so überwältigend war, und man mit ihr fiebern konnte, mit ihr fliehen, mit ihr nach Lösungen suchen, war man eigentlich immer mit der Figur mitten im Geschehen und mitten auf der Flucht. Ich dachte, ich sitze in einem 3-D-Kino, weshalb mich die ganze Handlung innerlich gestresst hat ...

Diesen Roman muss ich auf jeden Fall ein weiteres Mal lesen. Unbedingt.

Mein Fazit
Dennoch fragt man sich immer wieder, was real ist, aus was Wirklichkeit gemacht ist, woraus sie letzten Endes besteht. Was ist Fiktion? Wenn man diesen Roman gelesen hat, weiß man es nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen, weshalb das Klinikpersonal so Probleme hatte, den Protagonisten zu verstehen, da es für sie nur eine Wirklichkeit gab. Für diese war alles erklärbar, alles erfassbar, alles berechenbar, verrückt waren demnach die Menschen, die über andere Bewusstseinsebenen als die der Realität verfügten. Und weil dies nicht sein darf, müssen solche Menschen eben weggesperrt werden. Dies allerdings ist nur ein kleiner Radius dieser monumentalen Geschichte, der vielleicht auch nur nebensächlich ist ...

Eine klare Leseempfehlung.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Der Kadmos, Kulturverlag hat mir eine Anfrage gestellt und ich freue mich so sehr, diese angenommen zu haben. Ganz herzlichen Dank hierfür an den Verlag und an den Autor Matthias Alexander Kristian Zimmermann.

Ich habe noch vergessen zu erwähnen, dass das Buch auch einen Buchpreis gewonnen hat. Dadurch, dass ich mit Buchpreisen so etwas auf Kriegsfuß stehe, habe ich das hier völlig ignoriert. Ich hole es nach und möchte noch erwähnen, dass sich der Autor die Ehrung aber wirklich richtig gut verdient hat.

Das Buch ist ausgezeichnet worden mit dem Ersten Deutschen Verlagspreis.

Amazon hat meine Rezension auf den Namen Marianne freigeschaltet. Nur zur Klärung. Nicht dass man mir vorwerfen könnte, ich hätte von Marianne abgeschrieben. Nächstes Mal suche ich mir meinen Nick selber aus.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein wenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 08
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Sonntag, 28. April 2019

Lukas Hartmann / Der Sänger (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine gelungene aber eine sehr traurige Biografie zu dem 38-jährigen jüdischen Tenorsänger Joseph Schmidt, der als deutscher Caruso gefeiert wird, hat uns der Autor Lukas Hartmann hinterlegt. Bis zum Schluss hat mich die Thematik gepackt. Sehr gut geschrieben. Diese Lektüre sollte den Buchpreis bekommen.

Es ist eine so ernste Thematik, die gegenwärtig in unsere politische Zeit passt, dass ich das Bedürfnis verspüre, meine Buchbesprechung ein wenig zu intensivieren. So viele wichtige Zitate möchte ich gerne hier reinstellen, damit ich sie immer wieder nachlesen kann, wenn mich das Thema immer wieder neu beschäftigen wird. Wer die Absicht hat, das Buch selbst zu lesen, sollte meine Buchbesprechung vorher lieber überspringen und sich auf die Buchvorstellung, siehe Link unten, beschränken.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Hauptfigur dieser Geschichte ist Joseph Schmidt, der gerademal 1,54 Meter groß ist. Obwohl Schmidt nur auf dem Papier Jude ist, wird er 1942 trotzdem von den Nazis verfolgt. Einmal Jude immer Jude, das behaupten selbst die gläubigen Juden unter sich. Auch Künstler*innen sind vor den Nazis nicht geschützt.

Schmidt begibt sich auf die Flucht in die Schweiz. Er hatte sich schon in Frankreich in der Villa Phoebus für mehrere Wochen versteckt. Doch auch dort ist Schmidt nicht mehr sicher und flüchtet mit seiner Begleiterin Selma Wolkenheim in die Schweiz, da die Schweiz im Zweiten Weltkrieg politisch neutral war.

Schmidt war ein gefeierter Sänger, überall beliebt, auch bei Frauen, aber eine feste Bindung war er nicht in der Lage zu schließen, obwohl er mit einer Frau einen siebenjährigen Sohn besitzt und er selbst sich nur als den Erzeuger betrachtet aber nicht als Vater des Kindes. Sein Herz gehörte allein der Musik und er war nicht bereit, es mit jemand anderem zu teilen. Aber ob dies der alleinige Grund ist? Schmidt hatte einen autoritären Vater namens Wolf Schmidt, der streng seine religiösen Praktiken nachging, an die sich die Kinder anzupassen hatten. Wolf prügelte auch auf die Kinder ein, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten …
Die Wünsche dieses Manns, der wollte, dass Joseph fehlerlos den Talmud zitierte, konnte er nicht erfüllen. Nein, (den) Vater, der die ganze Familie in autoritärem Bann hielt, hatte (Joseph) nicht geliebt, sich vergeblich nach Zuwendung, nach Lob gesehnt. (2019, 36) 

Die Schweiz ist dicht, die Grenzen werden geschlossen, da sie mit der Masse an Flüchtlingen nicht fertig wird und so gerät dieses Land in eine schwere Prüfung der Mitmenschlichkeit.
Dabei bemühen wir uns intensiv, das Wohl der Einzelnen, zunächst der Einheimischen, der hier Aufgewachsenen, im Auge zu behalten, und ebenso das Gesamtwohl des Vaterlandes. Und dennoch dürfen wir gegenüber dem wachsenden Flüchtlingselend, das uns aus den Akten entgegenschreit, nicht unempfindlich werden. Je mehr bei uns (…) über die Greueltaten (sic) in Konzentrationslagern bekannt wird, zu desto harscheren Reaktionen führen unsere Rückweisungen in einem Teil der Bevölkerung, zu immer deutlicheren Protesten in der linken Presse und bei den jüdischen Organisationen, während die andere Seite unsere Entscheidungen, die an die Gesetze und an die Beschlüsse des Bundesrats gebunden sind, durchaus billigt. (…) Gegenwärtig halten sich mindestens neuntausend Flüchtlinge in der Schweiz auf, und eine Weiterreise des europäischen Kontinents   (…) ist angesichts der Kriegslage und der fortdauernden Dominanz, nicht mehr möglich. Sie werden bei uns bleiben und die Bundeskasse mit Millionenkosten belasten, so lange, bis der Krieg irgendwann zu Ende ist. (64)

Schmidt wurde mithilfe eines Schleppers über die Schweizer Grenzen geschleust und wurde in Girenbad in ein Internierungslager zugewiesen und begegnet hier jede Menge Schicksalsgenossen. Hier sind die Flüchtlinge einem repressiven Machtapparat ausgesetzt. Dadurch werden die Menschen hier wie Sträflinge behandelt. Liegen gab es hier im Lager nicht, die Flüchtlinge wurden auf Stroh gebettet. Zu essen gab es nur Brühe und altes Brot. Schmidt erkrankt an einer schweren Infektion im Rachen und im Kehlkopfbereich und wurde erst nach langem Hin- und Her ins Kantonsspital gefahren. Auch in dem Hospital wird er mit den billigsten Mitteln behandelt, obwohl seine Erkrankung mittlerweile auch auf sein Herz überschlägt. Schmidt wird von dem Chefarzt der Klinik schlecht behandelt, der ihm vorwirft, sich seine Beschwerden am Herzen einzubilden, auch, um nicht zurück ins Lager zu müssen. Er stellt dem Kranken viele kritische Fragen, nimmt seine Beschwerden nicht ernst ...
Schmidt schaute den Professor bestürzt an. >>Sie glauben mir nicht? Sie meinen, dass ich Schmerzen erfinde?<<
>> Simulanten gibt es viele. Aber ich sage nichts dergleichen. Es ist einfach meine Pflicht, solche unangenehmen Fragen zu stellen. Das sollten Sie, als vernünftiger Mann, bei der großen Zahl von Internierten in unserem Land, verstehen. Es gibt ja auch sehr viele Ihres Glaubens darunter, die in Anspruch nehmen, verfolgt zu werden, und annehmen, deshalb ein Recht auf Asyl zu haben. << (202)

Es waren viele herzensgute Schweizer zugange, aber viele waren, vor allem Autoritäten, sehr rassistisch eingestellt.
Dabei geht es uns abzuwägen zwischen den Erfordernissen des Landesschutzes und der Humanität; wir können und dürfen die schweizerische Bevölkerung (…) einer zunehmenden Überfremdung durch Heerscharen hauptsächlich jüdischer Flüchtlinge nur mit gebührender Vorsicht aussetzen. (64f)

In Anbetracht unserer eigenen politischen Lage, dass sich die europäischen Länder so schwertun, Flüchtlinge in ihr Land aufzunehmen, möchte ich zum Abschluss ein letztes Zitat einbringen.
Die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen letzten Ort des Rechts und des Erbarmens zu sehen … Wir sehen an den Flüchtlingen, was uns bis jetzt wie durch ein Wunder erspart geblieben ist. (194)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Die Szene im Krankenhaus. Der Professor hat Schmidt nicht gut behandelt, und man hätte ihn bei anderen Umständen wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen können.
Die Szenen im Internierungslager fand ich grausam, dass ich mit dem Lesen für eine Weile aussetzen musste.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass es auch gute Menschen gab, die sich für Schmidt eingesetzt haben, vor allem die Wirtin eines Gasthauses.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Die Wirtin und das Pflegepersonal des Hospitals. Auch Selma Wolkenheim war mir sympathisch.

Welche Figur war mir antipathisch?
Professor Brunner, Chefarzt der Klinik.

Meine Identifikationsfigur
Keine.
 
Cover und Buchtitel
Joseph Schmidt sieht hier zu ausgelassen aus, zu freundlich, obwohl er Angst hatte, im Zug von der Gestapo aufgegriffen zu werden. Deshalb meine Frage; darf Traurigkeit auf einem Titelblatt nicht sein? Muss sie retuschiert werden?

Zum Schreibkonzept
In dem Buch gibt es mehrere Perspektiven, die sich über das Schicksal des Künstlers und über das Verhalten der Schweizer auslassen. Es gibt einen objektiven Erzähler, und im Wechsel wird die Perspektive verschiedener anderer Figuren in Kursivschrift dargestellt, die sich zum Sachverhalt beziehen, was ich spannend fand. Der Schreibstil ist flüssig und sehr gut verständlich. Auf den letzten Seiten gibt es einen Hinweis und eine Danksagung.

Meine Meinung
Vielerorts unter der Leserschaft liest man, dass der Sänger Joseph Schmidt kein Sympathieträger sei, da er Frauen benutzt und sein Kind im Stich gelassen hätte. Ich sehe es ein wenig anders, da viele Künstler*innen Probleme haben, sich eine beständige partnerschaftliche Beziehung aufzubauen. Andere dagegen, die in einer Beziehung lebten, ließen sich von ihr wieder lösen, weil sie darin ihren Lebenssinn nicht fanden. Man hat schon viel gelesen über Künstler*innen, die, weil sie mit dem Leben nicht klarkamen, sich das Leben genommen haben, andere waren dem Alkoholkonsum ausgesetzt, um ihre Probleme zu betäuben, etc. Viele Künstler*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind einem permanenten seelischen Druck ausgesetzt, da ihr Auftritt mehr als gut sein musste. Außerdem haben viele gar keine Zeit, sich dem viel zu trivialen Alltag hinzugeben. Viel zu hoch sind deren Lebensideale. Sogar viele Schriftsteller*innen haben es schwer und denke dabei auch an Hermann Hesse, der Probleme mit Frauen hatte und war dadurch mehrfach verheiratet und mehrfach geschieden …

Eine persönliche Erfahrung, die ich mit dem Künstler teilen kann
Meine Heimat ist die Musik. Hier spricht mir Joseph Schmidt aus der Seele. Auch für mich ist die Musik Heimat. Sowohl wenn ich selbst musiziere, als auch wenn ich Musik nur höre. Für mich ist die Musik so wichtig wie Lesen, so wichtig wie Essen und Trinken. Musik versetzt mich in andere Welten, in andere Spähren, die man kaum in Worten fassen kann. Außerdem löst Musik in mir Spannung auf. Wenn ich mit anderen Menschen verstimmt bin, dann befreit mich die Musik und so löse ich mich von dem inneren Konflikt, bin nicht mehr nachtragend und kann vergeben, wenn ich Unrecht erfahren habe, oder wenn ich Unrecht tue, vergebe ich mir selber ... Musik löst in mir ein Gefühl des Weltfriedens aus. Ich sehe mich mit allen Menschen der Welt verbunden und nicht nur mit Menschen meiner Heimatländer. Sie löst meine nationale, deutsche Identität auf, und weitet meine Identität, löst sämtliche Grenzen auf, sehe mich als einen Menschen dieser Erde, und begreife, dass wir alle in einem Boot sitzen. Ich bin dankbar, dass mir Joseph Schmidt zu diesem Bewusstsein verholfen hat, wo ich doch noch vor Tagen mit zwei Freundinnen über die nationale Identität mich ausgetauscht habe, und ich mich hinterher gefragt habe, ob ich mich von ihnen überhaupt verstanden gefühlt habe??? Mit dieser Einsicht fühle ich mich in der Identität eines Weltmenschen mehr als bereichert und verzichte gerne auf die nationale Identität, die, wie wir auch hier gesehen haben, ausgrenzend sein kann. 

Mein Fazit
Insgesamt eine sehr nachdenklich stimmende, eine sehr differenzierte und authentisch geschriebene Biografie, deren Thematik, wie ich oben schon geschrieben habe, politisch in unsere Zeit passt. Auch hier hört man in der Bevölkerung immer wieder, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufnehmen würde. Viele darunter wählen dadurch sogar die AfD. Mir stellt sich die Frage, ob der Mensch nicht fähig ist, aus der Geschichte zu lernen? Ich finde keine Antwort darauf ... Ich selbst kannte Joseph Schmidt nicht, auch nicht seine Arie Ein Lied geht um die Welt. Hier ein Filmausschnitt auf YouTube zu Joseph Schmidts Leben und zu seinem Lied. Er hat tatsächlich die Stimme eines Enrico Caruso.

Das Lied kann man in diesem Video hier besser verstehen. Ich kenne es doch. Wie schön. Es ist wirklich wunderschön. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftlich gut recherchiert
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde auf Whatchareadin. Ich werde mich morgen Abend bestmöglich daran beteiligen. Mir fehlt es an Zeit, neben dem zu lesenden Buch, und neben meiner eigenen Rezension auch noch die vielen Posts in der Leserunde zu lesen, noch dazu eigene Texte verfassen. Ich habe häufig die Ruhe dafür nicht, werde mich deshalb in der zweiten Jahreshälfte stark zurücknehmen. Habe meine eigenen Leseprojekte jetzt auch noch stark vernachlässigt. Irgendwie die goldene Mitte finden, das müsste ich besser hinbekommen.

Hier geht es zur Rezension von Anne Strandborg.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 

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Meine Heimat ist die Musik
(Joseph Schmidt)

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