Sonntag, 27. Mai 2012

Hans Fallada / Damals bei uns daheim 5



Verlag: Aufbau Tb 2011
Seitenzahl: 383
9,99 €
ISBN-10: 3746627893

In der Familie Fallada gibt es so viele rührende Szenen, und möchte gerade mit einer beginnen. Hans befindet sich mit seiner Familie im Sommerurlaub an der See. Als die Kinder draußen in der Natur spielten, geriet Hans in eine ganz entsetzlichen Lage. Mit seinen Geschwistern spielte er mit Steinen und ein Stein davon war mehr ein runder Felsen, den Hans durch die Gegend drehte und dabei seine drei Finger der rechten Hand sich unter dem Fels zerquetschte. Er schrie ganz entsetzlich, doch die Geschwister rannten völlig hysterisch und aus purer Hilflosigkeit eher kopflos davon, statt dem Bruder zu helfen, was später durch den Vater ein Nachspiel hatte, ich aber darauf nicht eingehen werde.

Der Vater hörte den Schrei und kam schließlich angerannt, und erlöste seinen Sohn von der schweren Qual. Nun möchte ich den dazu folgenden Dialog zwischen Vater und Sohn gerne festhalten:

"Es tut verdammt weh, Vater", sagte ich. „Aber ich will nicht mehr weinen." Und mit plötzlichem Schrecken: "die Finger werden doch nicht abgenommen werden?"
"Nein, bestimmt nicht!" sagte Vater beruhigend. "Freilich, diese drei Nägel, die jetzt ganz blau - schwarz aussehen, wirst du erst einmal verlieren. Aber ich denke doch, sie werden wieder nachwachsen. Aber, wie ist denn das?" plauderte er fort und zog mich dabei unmerklich gegen das Haus, "es ist ja die rechte Hand, die du dir verletzt hast, Hans! Das ist aber schlimm für dich, da wirst du gar keine Schularbeiten während dieser Ferien machen können! Das ist ja furchtbar traurig für dich!"
Wieder schielte ich nach Vater. Ich sah die Fältchen um seine Augen, und nun brach ich trotz aller Schmerzen doch in ein Lachen aus. " Ja, ich bin schrecklich traurig, Vater", sagte ich lachend. "Ich wollte eigentlich jeden Tag mindestens drei Stunden arbeiten?" :Lachen:
"Daraus wird nun freilich nichts", sagte Vater. "Nun, ich hoffe, du wirst auch das wie ein Mann tragen."

Ich finde diese Textstelle so erheiternd und man merkt regelrecht, wie sehr der Vater seinen Sohn des Schmerzes wegen bemitleidet und er ihn mit den ausbleibenden Schularbeiten aufzubauen und aufzuziehen versucht, um damit seinen Schmerz ein wenig zu lindern.

Natürlich wollte Hans keine drei Stunden am Tag lernen und das wussten sowohl Vater als auch Sohn.

Eine weitere schöne Familienszene spielt sich zur Vorweihnachtszeit und zu Weihnachten ab. Die Kinder wünschen sich wie jedes Jahr einen schönen Weihnachtsbaum, keinen kleinen, sondern einer, der bis zur Decke hoch reichte. Fast tagtäglich begibt sich der Vater auf die Suche nach einem schönen aber billigen Weihnachtsbaum. Die Kinder sind enttäuscht, als er allabendlich ohne den Baum wieder zurückkehrte. Er tröstete sie mit immer neuen Geschichten. Wie gesagt, der Vater hatte großen Respekt vor Geld, und wollte keineswegs verschwenderisch sein. Doch die Gesichter der Kinder wurden immer trauriger. Man schrieb schon den vierundzwanzigste Dezember und immer noch kein Baum in Sicht. Nun begannen die Weihnachtsvorbereitungen und die Kinder wurden zum Spielen raus geschickt und durften nicht vor 18:00 Uhr zu Hause eintrudeln. In anderen Häusern sahen sie durch die Fenster die Weihnachtsbäume schon brennen und die Kinder waren traurig, dass sie dieses Jahr Weihnachten ohne einen Weihnachtsbaum feiern mussten. Als sie nach Hause kamen, klang aus dem Bescherungszimmer hinter der verschlossenen Tür eine raue Stimme: "Seid ihr auch alle artig?"
Wir brüllten begeistert:" Ja!"
Es folgten noch weitere Fragen, bis es hinter der Tür wieder still wurde.

Aber ein Geruch von brennenden Kerzen und Tannennadeln hat sich doch auf dem Flur verbreitet. Unsere Aufregung kann nun nicht mehr höher steigen. Ich tanze auf einem Bein wie ein Irrwisch umher, Ede sieht bleich vor Aufregung aus. Plötzlich geht er, fast finster vor Entschlossenheit, auf die Haushälterin Christa zu, nimmt ihre Hand und küsst sie!
Christa wird rosarot und reißt ihm die Hand fort. Die anderen brechen in ein verblüfftes Lachen aus.
"Warum hast du das denn bloß gemacht, Ede?“ ruft Mutter verwundert.
"Nur so!" Antwortete er ohne alle Verlegenheit. "Irgendetwas muss man doch tun, und mir war grade so! Man wird ja verrückt vor lauter warten!"

Mir hat diese Szene sehr gut gefallen, und ich hier einen Vater vorfinde, den sich wohl viele Kinder wünschen. Eine größere Freude hat der Vater seinen Kindern mit dem Baum gar nicht machen können, und damit so viel Liebe verbreitet, selbst bei dem kleinen Ede, der Christas Hand küsst. Und die Geschenke waren noch nicht mal ausgepackt... .

Jawohl, es ist doch wieder ein Weihnachtsbaum geworden, wie er sein soll, vom Fußboden bis zur Decke. Vater hat uns also doch wieder reingelegt, denn diesen Baum hat er bestimmt nicht erst in den letzten Stunden gekauft! Wo er ihn doch wohl nur so lange versteckt haben mag?! Im nächsten Jahr falle ich aber bestimmt nicht wieder darauf rein!

Aber dem Vater gelang es jedes Jahr, seine Kinder in eine große Spannung zu versetzen. Er war sehr fantasievoll und es fielen ihm immer tolle Ideen und Geschichten ein. Schön fand ich auch, dass die Kinder ihre Geschenke erst erraten mussten, indem der Vater zu jedem Geschenk eine Rätselfrage stelle.

Die Kinder wurden zu ihrem Wohle immer sehr gefordert, und die Fantasie angeregt, das war den Eltern sehr wichtig. Es gab also vor der Bescherung noch ein Vorspiel... . Man stellt sich vor, wie sehr die Beziehung unterhalb der Familienmitglieder in Liebe wuchs.

Es ist wieder Urlaubszeit und diesmal befindet sich Hans allein mit seiner Mutter auf einer kurzen Reise, die zu Hans´Großmutter führte, die Mutter seiner Mutter. Es war aber alles andere als ein Erholungsurlaub. Die Großmutter besaß solche antiquierten Vorstellungen, die recht eigen waren und sie damit nicht nur Hans, sondern auch seine Mutter überforderte... .

Auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung lernte Hans ein sechsjähriges Mädchen kennen, mit dem er auf einem Spielplatz rannte und die Kleine durch eigenes Verschulden von der Wippe fiel und damit ihr rosa Kleidchen beschmutzte. Heulend rannte sie zu ihrer Familie und ließ dabei Hans zurück. Natürlich war Hans nun der Schuldige, der Böse und dies nicht nur in den Augen des Mädchens, sondern auch in den Augen der Erwachsenen. Hans kehrte nicht zu der Gesellschaft zurück, sondern hielt sich aber in deren Nähe auf. Hans´ Mutter ging auf ihn zu und verlangte von ihm, sich sowohl bei dem Mädchen, als auch bei dessen Angehörigen zu entschuldigen, zumindest aus Liebe zur Mutter.

Auf dem Rückweg kämpften Jungenstolz und Liebe zur Mutter in mir. Schließlich aber siegt die Liebe, trotzdem es mich hart ankam, meinen Stolz so vor einer ganzen Kaffeetafel zu demütigen. Unser Erscheinen wie meine ungeschickte Entschuldigung bei der Mutter des Mädchens wurden mit frostigem Schweigen aufgenommen. Großmutter schnüffelte kummervoll und sagte, auf Zustimmung hoffend: "Er ist doch ein lieber Junge!"
Aber niemand stimmte zu. (...)
"Und entschuldige dich doch bei dem Mädchen, Hans!“ sagte Mutter.
Ich gab dem kleinen verdreckten, rosenroten Äffchen die Pfote und sagte mein Verschen. Während ich dies tat, streckte mir der Fratz triumphierend die Zunge heraus. Die anderen konnten es nicht sehen, weil ich vor ihr stand. Ich war völlig davon überzeugt, dass alle Weiber minderwertige Geschöpfe seien, irgend einer Beachtung durch richtige Jungens nicht wert. (Mutter war natürlich ausgenommen. Aber Mutter war auch kein Weib. Mutter war Mutter!) :-) :-) :-)

Ich komme nun wieder auf die Familienbräuche zurück, da Fallada dem ein ganzes Kapitel gewidmet hat. Ich beschränke mich aber auf den Gebrauch von Büchern. Die Familie besitzt knapp fünftausend Bücher, davon dreitausend der Vater, tausend die Tochter Elisabeth, achthundert der Sohn Eduard und der Rest verteilte sich auf die anderen beiden Kinder. Elisabeth war eine eifrige Leserin, sie las so viel, dass andere Pflichten völlig zu kurz kamen, wie zum Beispiel Schule und Familie. Tausend Bücher für eine Jugendliche, das ist schon enorm. Doch nun folgt eine Textpassage über den Umgang und Haltung zu und mit den Büchern, die mir auch recht gut gefallen hat:

Bei uns wurden Bücher nicht nur gesammelt, sondern auch gelesen. Um sie zu diesem Zweck jederzeit auffinden zu können, mussten sie in Reihen übersichtlich aufgestellt werden. Schon Doppelreihen waren verpönt, so sehr auch Platzmangel die Tiefe mancher Regale dazu verlocken mochten. Das Auge musste alle Schätze stets vor sich haben, es genügte nicht, sie im Dunkeln hinter einer anderen Bücherreihe vegetierend zu wissen. Auch Bücher hinter Glas oder gar hinter Schranktüren durften nicht sein, ein Buch wollte nicht gesucht werden, es musste für die Hand bereitstehen. All diese Leitsätze der Bücheraufstellung waren vom Vater praktisch erprobt, er konnte auch sehr fließend darüber sprechen, wie Bücher zu ordnen seien…
infolge dieser etwas weitläufigen Ausstellung breiteten sich auch bei uns die Bücher allmählich über die ganze Wohnung aus, es gab in jedem Zimmer welche, und mein Auge hat sich von Kind auf so daran gewöhnt, dass mir noch heute ein Zimmer ohne Bücher nicht so sehr nackt wie viel mehr unbekleidet vorkommt.

Die Familie hielt auch mehrere Bedienstete im Haus, und eine davon machte sich heimlich an die Bücher heran, die sie aus der Bibliothek ausleihend entwendet hatte, um sie draußen bei Ihren Freunden und Bekannten gegen Entgelt auszuleihen. Sie brachte die Bücher immer wieder zurück, nahm sich dafür wieder andere. Damit sparten diese Leute die Ausleihgebühr in Bibliotheken, die sie ja nun nicht mehr aufzusuchen brauchten. Irgendwann fliegt alles mal auf, so auch hier der Bücherraub auf Raten, als die Familie Verdacht schöpfte, der auf die Bedienstete fiel und sie geschickt aufgelauert wurde. Natürlich hatte diese Frau alle Bücher wieder zurückzugeben und sie wurde fristlos entlassen. Dazu der Vater Fallada:

"Der eine Gedanke aber tröstet mich", sagte Vater nachdenklich. "All diese Leser haben aus unserer Leihbibliothek nicht ein schlechtes Buch bekommen. Damit stehen wir hoch über der ganzen Konkurrenz.

Ich komme wieder auf die verbotene Lektüre Karl Mays zurück. Nicht nur mir, sondern auch Hans ist unverständlich geblieben, weshalb Karl May zu der verbotenen Literatur gehörte. Auch hierzu möchte ich eine längere Textstelle wiedergeben:

Übrigens Karl May - es ist mir heute noch unverständlich, warum ein sanfter, nicht gerne etwas verbietender Vater eine so tiefe Abneigung gerade gegen diesen Autor hatte. Er war darin unerbittlich. Wir durften uns nie einen Karl May ausleihen, und als Onkel Albert dem Ede und mir ein paar Bände Karl May geschenkt hatte, mussten wir sie beim Familienbuchhändler in schicklichere Lektüre umtauschen.
Vater hat damit nur erreicht, dass meine Liebe zu Karl May immer weiter unter der Asche schmierte. Als ich dann ein Mann geworden war und ein bisschen Geld hatte, habe ich mir alle fünfundsechzig Bände Karl May auf einmal gekauft. Während ich dies schreibe, stehen sie grün golden aufmarschiert in der Höhe meines rechten Knöchels. Ich habe sie nun alle gelesen, nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Jetzt bin ich gesättigt von Karl May, ich werde sie kaum wieder lesen.
Ich kann nur vermuten, woher dieses Verbot rührt, da ich aber meine Vermutung an keiner Textstelle festmachen kann, und mir dadurch Beweise fehlen, behalte ich diese für mich.
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"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)

UB:
Dickens: Schwere Zeiten
Fallada: Damals bei uns daheim
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Proust: Sodom und Gomorrha
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 35