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Sonntag, 11. Oktober 2020

Proust und die Frage, wer sich hinter dem Rezensenten Louis Chevreuse verbirgt?

Auf den folgenden Seiten bekommt der Pariser Roman immer mehr Kontur. 

Foto: Journalist und Schriftsteller Robert Dreyfus, 1873 - 1939
sucht Anregungen oder Tipps bei seinem Freund Georg de Lauris bezogen auf die Figuren der Guermantes. Ach, wie vertraut mir doch dieser Name Guermantes nur ist. Aber 
die Antwort bleibt aus und Proust bohrt nach. (631)

Auf der Seite 648 gibt Proust seinem Freund Georges de Lauris am Ende seines Briefes bekannt, dass sein Roman kurz vor dem Abschluss stehen würde. Ui, denke ich mir, niemals kann die Recherche schon beendet sein. Ich bin so gespannt, wie sich dieser Prozess, von dem Proust selbst noch nichts ahnt, sich entwickeln wird. 

Leben Sie wohl, lieber Georg, ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, gibt noch vieles andere, was ich nicht mehr tue,  und zwar schon lange nicht mehr. Trotzdem, mit ein wenig Schwung wäre mein Buch in zwei Monaten fertig, aber werde ich diese zwei Monate je haben. (Februar 1911)

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Recherche sein Lebenswerk war. Kurz vor seinem Tod hatte er sie beendet. Hier ist er erst Ende 30 und gestorben ist er mit 51 Jahren.

Doch es gab einen Brief, der mich positiv schmunzeln ließ, als einer seiner besten Freunde unter einem Pseudonym einen lobenswerten Artikel zu Prousts Übersetzung über die Bible d`Amiens geschrieben hatte. Es ist charmant zu lesen, wie verblüfft Proust war, als sich herausstellte, wer sich hinter diesen Decknamen verbarg. 

An Robert Dreyfus
8. Oktober 1910, Proust ist hier 39 Jahre alt

Ich hätte ja nichts dagegen, wenn Du mich weiterhin für scharfsinnig hieltest, aber ich muss doch der Wahrheit die Ehre geben: Nicht eine Sekunde lang habe ich vermutet, dass Du Chevreuse bist, und habe völlig naiv an Dich geschrieben, ohne zu ahnen, dass ich an Chevreuse schreibe. Besonders töricht war es, dass ich mir zwar dachte, es könne ein Pseudonym sein, dass hinter diesem Pseudonym Bonnard, Beaunier (...) stecken könnten (ein sehr elastisches Pseudonym) und dass jedes Mal, wenn man sich irrt, mir nicht einmal die bloße Möglichkeit, dass Du es sein könntest, in den Sinn kam. Es ist mir im Traum nicht eingefallen! Vielleicht weil ich, da Du schon als D. sehr nett zu mir gewesen bist, gedacht habe, damit wäre es genug für das ganze Leben und Du würdest nie wieder auf die Idee kommen, meinen Namen zu erwähnen. (...) Was Du gesagt hast, ist überaus nett, aber vor allem ist es überaus nett, dass gerade Du es gesagt hast. Gewiss, es ist schmeichelhaft, unbekannte Freunde zu haben. (...) Und dieser Chevreuse, der an der Bible d`Amiens Gefallen fand - ich habe Dich zwar gefragt, ob das nicht das Pseudonym von jemanden sei, den ich kenne, aber im Grunde habe ich doch gehofft, dass es jemand ist, den ich nicht kenne, jemand ungeheuer Talentiertes, der die Bible d`Amiens so sehr mochte, dass er es unbedingt mitteilen musste. Aber eigentlich bin ich doch nicht enttäuscht, dass dieser sympathische Chevreuse mit jemandem verschmolzen ist, dessen Beifall nur ein Beweis seiner Freundschaft ist. Ich habe dem Unbekannten nicht nachgeweint, ich habe mich lebhaft gefreut, dass es der Freund war. So preise ich Dich, liebe Dreifaltigkeit, in drei Personen, ich bin D. und Chevreuse äußerst dankbar, aber Robert Dreyfus ist mir von den dreien der Liebste. (636f) 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust am 6. oder 7. Oktober in einem Brief seinen Freund Robert Dreyfus um Auskunft bat, wer die Person Louis Chevreuse denn sei?

Prost fragten in einen Brief an Dreyfus, den Dreyfus gerade beantwortet hatte: > Wer ist ein gewisser Monsieur Louis Chevreuse, der mich kürzlich ( ...) auf sehr liebenswürdige Weise zitiert hat, in einem äußerst interessanten Artikel über die Kathedrale von Straßburg. Ist es ein Pseudonym, ist es jemand, den ich kenne? < (638)

In den weiteren Briefen ging es wieder recht geistreich zu. Proust hat ein Theatrophon abonniert, das er allerdings wegen der schlechten Hörqualität wenig nutzen würde. Von zu Hause aus konnte er Opern und Theaterstücke verfolgen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Mit dem Theatrophon wird nochmals deutlich, wie krank er ist, und immer wieder liest man in seinen Briefen, dass er wochenlang oder gar monatelang das Haus nicht verlassen hat.

Aber bei den Opern Wagner, die ich fast auswendig kenne, machen mir die Unzulänglichkeiten der Akustik nicht viel aus. (648)

Erstaunlich, dass er Wagners Opern zum großen Teil auswendig kennt. Er tauscht sich mit seinem Musikerfreund Reynaldo Hahn im März 1911 über verschiedene Opernstücke aus. Ich wusste nicht, dass Goethes Werther auch zu einer Oper komponiert wurde.

Und man liest viel Schmeichelhaftes. Reynaldo Hahn würde mehr Tiefgang haben als der große Wagner. Das war sicher wieder so eine Schleimerei von Proust.

Aber Proust kann auch sehr empathisch sein. Sein Freund Reynaldo Hahn hat am 09.11.1910 seinen Bruder Henri im Alter von 54 Jahren verloren, der in seiner Wohnung verstarb. Der ganze Brief an seinen Freund ist wundervoll geschrieben, ich aber nur die letzten Zeilen zitieren möchte.

Wenn ich etwas für Dich tun kann, sag es mir. Selbstlosigkeit ist ein Ablenkungsmittel für ohnmächtige Zuneigung. Was das Unglück selbst angeht, so kannst Du Dir all die Fragen denken, die ich mir stelle. Aber da ich sie nur Dir stellen will und in diesem Augenblick um nichts auf der Welt will, dass Du mir antwortest, begnüge ich mich damit, in Gedanken Deine Hand in der meinen zu halten und (nicht nur in Gedanken) mit Dir zu weinen. Dein tief trauriger Marcel Proust (642)

Puh, Proust ist nie um Worte verlegen. Er findet selbst in solchen schwierigen Momenten eines Menschen den richtigen Ausdruck, wo manch andere lieber schweigen würden.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 653 – 663.

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Proust Zitate

Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht.
(Marcel Proust zitiert 
Jean de La Bruyère)