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Sonntag, 5. April 2020

Marcel Proust und die Trauer um seine verstorbene Mutter

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 434 bis 458  

Dieses Mal greife ich auf die letzten zwanzig Seiten zurück, da ich letztes Mal meine Stichpunkte einfach unter den Tisch habe fallen lassen, sodass ich total vergaß, was ich mir notiert hatte. Das passiert mir immer, wenn mein Kopf zu voll ist mit noch anderen Gedanken. Deshalb hole ich dies hier nun nach.
Als die Mutter von Proust gestorben ist, haben Anne und ich uns gefragt, wie es nun mit ihm weitergehen wird? Schafft er ohne seine Mutter ein selbständiges Leben zu führen?
Er schreibt an

Anna de Noailles
Ende Sept. 1905
Sie nimmt mein Leben mit sich hinweg, so wie Papa das ihre mit sich hinweggenommen hat. (Heute habe ich sie noch bei mir, tot zwar, aber noch kann ich sie mit meiner Zärtlichkeit bedenken. Und dann werde ich sie nie wieder haben. (434)

Die Zeitung Figaro machte Jeanne Prousts Tod mit einem Nachruf öffentlich. In der Fußnote ist zu entnehmen:
Der Figaro vermeldet am Mittwoch, dem 27. September 1905 (…) den Tod von >Madame Adrien Proust geb. Weil, Witwe des Professors an der Medizinischen Fakultät (…). Sie verstarb in Paris, rue de Courcelles, im Alter von 56 Jahren. Die Trauergemeinde versammelt sich im Hause der Verstorbenen. Die Beisetzung findet statt auf dem Friedhof Père-Lachaise. Die Dahingegangene war die Mutter des bekannten Schriftstellers Marcel Proust und des Doktors Robert Proust.< (435)
Diese Traueranzeige hat mich tief berührt, allerdings habe ich mich an dem Begriff Die Dahingegangene ein wenig gestört ... Der Friedhof Pére-Lachaise ist mir bekannt. Ich bin häufig schon dort gewesen, da ich hier in der Vergangenheit einige andere Künstler aufgesucht hatte. Damals kannte ich die Proust – Familie überhaupt noch nicht, weshalb ich einen weiteren Abstecher in diese Gefilde unternehmen werde. Ich hatte dieses Jahr eine Reise eine Woche nach Ostern gebucht, die ich allerdings wegen der Corona -Epidemie wieder stornieren musste.

Marcel Proust hat den Tod der Mutter nicht wirklich verwinden können und lässt sich dadurch im Dezember desselben Jahres in ein Sanatorium einweisen, wo er auch Schreibverbot verordnet bekommt, an das er sich nur sehr schwer halten kann.
Er schreibt

An Marie Nordlinger
6. Dezember 1905

Monsieur Marcel Proust befindet sich zur Behandlung in ein Sanatorium, wo es ihm untersagt ist, zu schreiben, aber Mademoiselle Mary soll wissen, dass er jederzeit voller Hochachtung, Dankbarkeit und Zärtlichkeit an sie denkt.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Nach einigem Zögern hatte Proust sich Anfang Dezember (…) in das private Sanatorium des Doktor Sollier in Boulogne-sur-Seine (Bolognas Billancourt) (…) begeben. Er blieb dort bis zur letzten Januarwoche 1906. Trotz des Schreibverbots schickte Proust aus dem Sanatorium kurze Briefe an Robert de Billy und Louisa de Monard (…). Das vorliegende Schreiben an Marie Nordlinger ist nicht unterzeichnet, die Handschrift konnte nicht identifiziert werden. (435)

Ich denke, dass Proust den Brief an Marie Nordlinger von einer anderen Person hat ausfertigen lassen. Das Schreiben ist in der dritten Person geschrieben. Da er schon durch seine eigenen multiplen Erkrankungen vom gesellschaftlichen Leben eingeschränkt ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ein Schreibverbot für ihn wie eine schwere Strafe aufgefasst wird. Die Briefe waren für ihn damals das Tor zur Welt, das nun hier geschlossen wurde. Aber ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das viele Briefeschreiben die Gesundheit noch weiter beeinträchtigen kann. Das kenne ich aus eigener Erfahrung, als ich in meinen jungen Jahren selbst viel geschrieben hatte, wühlte mich das Schreiben immens auf. Ich selbst trage vom vielen Schreiben sogar eine Narbe am linken Mittelfinger mit mir herum.

In einem späteren Brief an seinem Cousin, im Juni 1906, erfährt man, dass Proust nach dem Sanatorium sechs Monate lang sein Bett nicht habe verlassen können. Eine sehr lange Zeit, die ihn regelrecht gebeutelt hatte.
Aber Sie wissen vielleicht, dass ich nach Mamas Tod ein Sanatorium aufsuchen musste. Danach bin ich hierher zurückgekommen, habe aber mein Bett oder mein Schlafzimmer in den letzten sechs Monaten nicht verlassen können. (452)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:

Anspielung an seinen vorigen Brief an Robert Dreyfus, wo Proust über das Wort >glücklich< schreibt:
Seit Mamas Tod hat dieses Wort keinen Sinn mehr für mich (…). (458)  

Weiter geht es nächstes Wochenende von 459 - 469.
___________________
Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

__________________
Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 7. Oktober 2019

Sinnwidrigkeiten zu Ruskin-Übersetzungen

Weiter geht es von der Seite 312 bis 321. 

Auf den folgenden Seiten gibt es drei Briefe, die mich noch weiter beschäftigen werden. Im ersten Briefwechsel scheint Proust mit seiner Mutter einen schweren Konflikt auszufechten, der doch eher psychologisch bedingt ist. Ich habe noch nicht erfassen können, aus was dieser Konflikt besteht. Die Mutter scheint ein nettes Verhältnis zu ihrem Sohn zu haben, wenn er erkrankt ist. Warum?

Im nächsten Brief steht Proust im Austausch mit seinem Freund Bibesco, dem er schreibt, dass er sich im Beruf nicht ausreichend ausgefüllt fühlt und schüttet ihm sein Herz aus.

Im darauffolgenden Brief wird Proust, was seine Ruskin-Übersetzungen betreffen, von seinem Verleger mit heftiger Kritik konfrontiert, dass seine Englischkenntnisse miserabel seien. Eine schwere Kränkung für Proust, der aber wieder alles gibt, sich dem Kritiker mit triftigen Gegenargumenten zu widersetzen. Trotzdem stellt sich hier die Frage, wie Proust es nur geschafft hat, trotz fehlender Englischkenntnisse Ruskin zu übersetzen? Mit Worten lässt sich ja vieles erklären, solange, bis es passt. Die Antwort bietet der Brief, der an den Verlagsdirektor geht.

Um die Reihenfolge einzuhalten, beginne ich mit dem Brief an die Mutter. Ich versuche, noch immer herauszufinden, was das ist, was Proust in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn so sehr gequält hat. Mal schauen, im zweiten Lesedurchgang erfasst sich mir besser die Problematik. Was wirft die Mutter dem Sohn vor? Ich bin auf Annes Meinung noch gespannt.

An Jeanne Proust
6. Dezember 1902, Marcel Proust ist hier 31 Jahre alt
Ma petite Maman,da ich Dich nicht sprechen kann, schreibe ich Dir, um Dir zu sagen, dass ich Dich einigermaßen unbegreiflich finde. Du weißt doch (…) dass ich, kaum heimgekehrt, alle meine Nächte weinend verbringe, und das nicht ohne Grund; und Du sagst mir den ganzen Tag lauter Dinge wie: >>Ich habe vergangene Nacht nicht schlafen können, weil die Dienstboten um elf zu Bett gegangen sind.<< Ich wollte, es wäre nur das, was mich am Schlafen hindert! Heute, als ich keine Luft bekam, habe ich den Fehler begangen, nach Marie zu läuten (weil ich etwas zum Rauchen brauchte), nachdem sie mir gesagt hatte, sie habe gerade zu Mittaggegessen, und daraufhin hast du mich sofort bestraft, indem du, kaum dass ich mein Trional eingenommen hatte, den ganzen Tag hämmern und lärmen ließest. Durch Deine Schuld war ich in einen so nervösen Zustand geraten, dass ich, als der arme Fénelon mit Lauris kam, auf eine allerdings sehr unangenehme Bemerkung hin mit Faustschlägen über Fénelon herfiel. Ich wusste nicht mehr, was ich tat, ergriff seinen neuen Hut, den er sich gerade gekauft hatte, zertrampelte und zerfetzte ihn und riss schließlich das Innere heraus.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust diesen Wutanfall im dritten Band der Recherche verarbeitet hat. Obwohl ich alle sieben Bände gelesen habe, kann ich mich an diese Details nicht mehr erinnern, obwohl mir damals schon klar war, dass Proust viele Lebenserfahrungen in seinem großen Roman hat einfließen lassen.

Fénelon scheint ein Freund zu sein. Weiter geht es im Brief:
Da Du glauben könntest, dass ich übertreibe, lege ich diesem Brief ein kleines Stück von dem Hutfutter bei, damit Du siehst, dass es stimmt.

Das finde ich eine merkwürdige Szene, dass er mit dem Stoff beweisen muss, dass er seinen Groll tätlich an einem Freund ausgelassen hat? Reichen die Worte dafür nicht aus? Stellt Proust sich damit in den Mittelpunkt, frage ich mich, um mit dieser peinlichen Szene die Aufmerksamkeit seiner Mutter einzufordern? Aber klar ist, dass die Schläge eigentlich der Mutter galten und nicht dem Freund.
Aber Du darfst es nicht wegwerfen, weil ich Dich eventuell bitten muss, es mir für den Fall, dass er noch Verwendung dafür hat, zurückzugeben.

In welcher Form noch Verwendung finden können? Leuchtet mir nicht ein. Kann man einen Hut mit solch einem Fetzen Stoff wieder herstellen?
Nach alldem fühlte ich mich so erhitzt, dass ich mich nicht mehr ankleiden konnte und bei Dir anfragen ließ, ob ich hier zu Abend essen solle oder nicht. Bei dieser Gelegenheit glaubst Du dem Personal ein Vergnügen zu bereiten und gleichzeitig mich zu bestrafen, indem Du mich mit Acht und Bann belegst und sagst, man solle auf mein Läuten nicht kommen, mich nicht bei Tisch bedienen usw. (313)

Nochmals gefragt; was ist der Konflikt? Die Mutter scheint den Sohn mit Entzug der Bediensteten zu bestrafen. Aber warum? Für mich als Außenstehende schwer nachzuvollziehen.
Du täuschst Dich sehr. Du weißt nicht, wie verlegen Dein Kammerdiener heute war, weil er mich nicht bedienen durfte. Er stellte alles in meine Reichweite und entschuldigte sich, indem er sagte: >>Madame befiehlt mir, es so zu machen. Ich muss mich daran halten. (Ebd)

Und so weiter und so fort. Ein schwerer Vorwurf an die Mutter folgt am Ende des Briefes.
Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich verärgert.

Das sind ja böse Anschuldigungen, aber Proust scheint eine Mordswut auf die Mutter zu haben. Es scheinen schwere psychologische Probleme zwischen Mutter und Sohn zu bestehen.
Es ist nicht das erste Mal. Heute Abend habe ich mich erkältet; falls das Asthma umschlägt, was sich, bei jetziger Lage, bald einstellen wird, dann besteht kein Zweifel, dass Du von Neuem nett zu mir sein wirst, wenn ich in denselben Zustand geraten sollte wie letztes Jahr um die gleiche Zeit. Aber es ist traurig, dass ich nicht gleichzeitig Gesundheit und Zuneigung haben kann. Hätte ich beides in diesem Augenblick, so wäre es gerade recht, mir im Kampf gegen einen Kummer zu helfen, der vor allem seit gestern Abend (…) zu stark wird, als dass ich noch weiter gegen ihn ankämpfen könnte. (Ebd)

Diese wohlwollende Beziehung zwischen Mutter und Sohn scheint sich zum Schlechten hin verändert zu haben. Ich vermisse in letzter Zeit die fürsorgliche und verständige Mutter, die zu ihrem Sohn hält, statt ihn unter Druck zu setzen. Ich bin sehr neugierig, ob sich die Lage zwischen ihnen beide noch entspannen wird.

Doch trotz Unstimmigkeiten liest Madame Proust jeden Brief von Marcel, der mit den Verlagspartnern zu tun hat.

An Antoine Bibesco
Dezember 1902

Antoine Bibesco kennen wir aus den letzten Briefen. Ein Freund, dessen Mutter gestorben ist, und Bibesco durch die Trauer eine Wesensveränderung durchmachte, auf die Proust sehr sensibel reagierte.

In diesem Brief geht es wieder um Reisepläne, auf die ich nicht eingehen möchte, weil es immer so ein Hin- und Her ist, dauert lange, bis Proust sich ausgesprochen hat, um zum nächsten Thema überzugehen. Was für mich interessant war, ist, dass er mit seiner Arbeit sehr unzufrieden und frustriert zu sein scheint. Die langjährige Übersetzungsarbeit scheint ihn nicht ganz auszufüllen. Er schreibt an seinen Freund:
Und die scheinbare Arbeit, an die ich mich wieder gemacht habe, fällt mir in vielerlei Hinsicht schwer. Ganz besonders in dieser: Alles, was ich tue, ist keine wirkliche Arbeit, sondern nur Dokumentation, Übersetzung usw. Es ist dazu angetan, meinen Appetit darauf, etwas zu schaffen, zu wecken, aber es stillt ihn natürlich in keiner Weise. Seit dem Augenblick, da ich nach jener langen Zeit der Erstarrung zum ersten Mal den 1. Blick auf mein Inneres gerichtet habe, auf mein Denken, fühle ich die ganze Nichtigkeit meines Lebens, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehen mich an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben, um sie zum Leben zu erwecken, und die der Held mit einem Hieb seines Schwertes verscheucht. Ich habe die schlafende Biene geweckt, und ich spüre mehr ihren grausamen Stachel als ihre ohnmächtigen Flügel. (316f)

Wow, das finde ich wieder so schön ausgedrückt, dass ich beim Lesen dabei zergehen könnte. Ich kann Proust so nachfühlen, wie traurig es ist, sich mit Arbeiten zu befassen, die nicht seinen Wünschen entsprechen. Auch den Satz oben, den Figuren Blut zu trinken zu geben, damit sie lebendig werden, finde ich wunderbar, wie er dieses Zitat auf seine Situation umzulegen weiß. Ich kann ihm nachfühlen, dass ihm durch seine Erkrankungen und durch seine Übersetzungsarbeiten wenig Zeit bleibt, sich literarisch, sich seiner eigenen Schreibkunst, hinzugeben.
Ich hatte meinen Geist meiner Ruhe unterworfen. Indem ich seine Ketten gelöst habe, glaubte ich einen Sklaven zu befreien, aber ich habe mir einen Herrn geschaffen, dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe. (317)

Im nächsten Brief geht es wieder um den Ruskin. Proust muss sich hier schwere Vorwürfe gefallen lassen, dass sein Englisch zu schlecht sei für die Übersetzung. Erstaunlich, mit wie viel Kraft er es immer wieder schafft, sich der Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist, zu stellen. Immerhin hat Proust viele andere Fremdsprachen gelernt, aber keineswegs Englisch. Interessant, wie er vorgibt, Kompetenzen entwickelt zu haben, auch ohne Englischkenntnisse den Ruskin zu übersetzen. Wie wir aber wissen, ist es die Mutter, die ihm dabei unter die Arme greift, wobei ihre Englischkenntnisse auch nicht ausreichend dafür sind.

An Constantin de Brancovan, Verlagsdirektor (der Mercure?)
Januar 1903

Lt. Google ist Constantin de Brancovan Verlagsdirektor, der Proust ganz ungeschminkt vorwirft, dass Proust kein Englisch könne. Seine Übersetzungen seien sinneswidrig. Teile davon wurden schon veröffentlicht, obwohl die Texte vom Verleger Alfred Vallette auch schon angezweifelt wurden, siehe letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es im Brief, in dem Proust sich vehement der Kritik widersetzt. Erneut fällt mir auf, dass Proust fast jeden, mit dem er im Briefkontakt steht, als seinen Freund bezeichnet. Vielleicht war das damals die gängige Art, Floskeln zu verbreiten, oder es war ganz typisch für Proust, sich so auszudrücken, sich vielleicht auch einzuschmeicheln?
Chér ami,
Sie wissen, wie sehr ich sie schätze – und ausgerechnet in dem Moment, da Sie so nett zu mir und meinen Ruskins waren, will ich nicht den Eindruck erwecken, Ihnen Vorwürfe machen zu wollen, aber ich finde es schon allerhand, wenn man bedenkt, dass ich seit vier Jahren an einer Übersetzung der Bible d´Amiens arbeite, dass diese Übersetzung in Kürze erscheinen wird, dass sie mir viel Mühe bereitet hat und ich ihr große Bedeutung beimesse, wenn man also all das bedenkt, finde ich es allerhand, dass Sie im Beisein von Lauris (Prousts Freund, M. P.) (…) sagen, wie eben noch geschehen:
>Eigentlich können Sie ja kein Englisch. Das Ganze wird voller Sinnwidrigkeiten stecken.< Ich weiß sehr wohl, dass Sie das nicht aus Boshaftigkeit gesagt haben, (…). Aber jemand, der mich hasst, und mit einem Wort das Ergebnis von vier anstrengenden Jahren zunichtemachen wollte, einer Arbeit, die auch inmitten der Krankheit fortgeführt wurde, jemand, dem dran gelegen wäre, dass niemand meine Übersetzung liest und sie als null und nichtig angesehen wird – was könnte dem noch Schlimmeres einfallen, wenn ich mir die bescheidene Frage erlauben darf. Sie brauchen das nur vor drei Personen zu wiederholen, und ich hätte mir schon die erste von tausend Stunden Arbeit (…), die mich dieses Werk gekostet hat, sparen können. – Was die Sache selbst betrifft, so wissen Sie, dass ich nicht dazu neige, mich selbst zu überschätzen, noch, die Welt mit meinen Hervorbringungen zu belästigen. Aber ich glaube, dass diese Übersetzung, nicht meines Talents wegen, das mir vollkommen abgeht, wohl aber ob meiner Gewissenhaftigkeit, die keine Grenzen kannte, eine Übersetzung sein wird, wie es nur wenige gibt, eine wahrhafte Wiederherstellung.

Ich frage mich, wie Proust das beurteilen kann? Wenn er ohne Englischkenntnisse ein Buch übersetzt, fehlt ihm jegliche Kompetenz eines Profis, eine Arbeit dieser Art zu bewerten. Proust zitiert einen Freund, der ihm mündlich attestiert hatte, dass er ein besseres Englisch könne als ein Engländer. Schwer vorstellbar, ob der Freund das ernst gemeint hat oder ob er Proust nur schmeicheln wollte? Aber Proust gibt selbst zu, dass der Freund sich getäuscht hat, denn …
Ich verstehe kein Wort gesprochenes Englisch, und lesen kann ich es auch nicht gut. Aber seit ich vier Jahre mit der >Bible d`Ameniens< verbracht habe, kenne ich sie zur Gänze auswendig, sie hat für mich jenen Grad an vollständiger Anwandlung, an absoluter Transparenz erreicht, in der sich nur noch die Nebelschleier halten, die nicht der Insuffizienz unseres Auges geschuldet sind, sondern der nicht weiter hintergehbaren Obskurität des betrachteten Denkens.

Später im Brief zitiert Proust seinen Freund Antoine Bibesco:
>Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist, jemanden so gut zu übersetzen<.

Ich denke, dass auch Bibesco aufgrund der Freundschaft nicht objektiv genug sein kann, Prousts Arbeiten zu bewerten. Außerdem ist auch Bibesco nicht vom Fach. Weiter Proust:
Es ist schon etwas komisch, dass ich Ihnen all diese Referenzen anführe, aber es war wohl nötig, nicht wahr? Das schließt nicht aus, dass, wenn Sie mich auf Englisch um etwas zu trinken bitten, ich Sie nicht verstehen werde, denn ich habe Englisch während meines Asthmas gelernt, als ich nicht sprechen konnte, habe es also mit den Augen gelernt und weiß nicht, wie man die Wörter ausspricht, und würde sie auch nicht wiedererkennen, wenn ich sie hörte.

Dennoch kann ich mir ganz schwer vorstellen, wie das möglich ist, dass Proust mit diesen schwachen Englischkenntnissen eine Profiarbeit hervorbringen kann.
Ich bilde mir nicht ein, Englisch zu können. Ich bilde mir ein, Ruskin zu kennen. Und Sie wissen, dass ich mir nicht viel einbilde. Vielleicht bleiben Sie vom Gegenteil überzeugt, und meine Übersetzung ist eine Ansammlung von Unsinn. Aber dann, um unserer Freundschaft willen, sagen Sie es niemandem, und lassen Sie es das Publikum ganz allein herausfinden. (319)

Das waren meine Zitate, die mir wichtig erscheinen.

Meine Meinung
Ich habe immer noch nicht kapiert, woraus der Streit zwischen Proust und seiner Mutter besteht. Warum bestraft sie ihn? Ich bin auf Annes Meinung noch immer gespannt.

Der Brief an den Verlagsdirektor hat mich ganz besonders gepackt. Wie viel Selbstbewusstsein muss ein Mensch haben, ein fehlerhaftes Buch zum Druck rauszugeben? Es ist schon mehreren Menschen aufgefallen, dass Prousts Englischkenntnisse dürftig sind. Ich erinnere mich sehr gut an vergangene Briefe. Ich glaube, so etwas schafft nur ein Marcel Proust, der mit seiner versierten Muttersprache Menschen bewusst oder unbewusst zu beeinflussen schafft. Den meisten wäre es peinlich gewesen, ein Buch zu übersetzen, dessen Sprache sie nicht mächtig sind. 
Proust bezeichnet viele Menschen als seine Freunde, und so frage ich mich erneut, ob ihm dies eine Hilfe war, seine Kritiker von seiner Meinung zu überzeugen.

Ich finde es ein wenig dreist, auf die Veröffentlichung zu pochen, trotz inhaltlicher Sinnfehler und es den Lesern zu überlassen, wie sie sein Machwerk beurteilen, in der Hoffnung, dass die Übersetzungsfehler nicht auffallen. Er muss die Leser für dumm halten, und außerdem zahlen die Leser für das Buch viel Geld. Dies wäre hier bei uns in Deutschland ein absolutes No Go. Und nur schade, dass John Ruskin nicht mehr am Leben ist. Ich glaube, der würde sich über die Übersetzung im Grabe umdrehen.

Aber wie kommt es, dass Proust, selbst wenn die Arbeit fehlerhaft ist, dass er trotzdem sich hat englisch ausdrücken können? Wahrscheinlich hat er sich in seiner langen Krankenperiode Englisch autodidaktisch beigebracht, wie oben zu entnehmen ist.

Aus der Fußnote geht hervor:
In der Tat hat Proust niemals Englisch gelernt. In der Schule standen Latein, Griechisch und Deutsch auf dem Stundenplan. Für die Ruskin-Übersetzungen lieferte (…) seine Mutter die Vorlagen, die er stilistisch aufpolierte. Zusätzlich holte er sich bei einer Reihe von Freunden und Spezialisten Rat, was einige Sinnfehler in der Bible d´Amiens nicht ausschloss. Georges Lauris schreibt im Vorwort zu seiner Ausgabe von Prousts Briefen an ihn (Marcel Proust, Á un ami, Paris 1948, S. 22): >Der Prince de Brancovan, der zu dieser Zeit noch die >Renaissance Latine< herausgab, fragte ihn (Proust) eines Tages: >Wie machen Sie das nur, Marcel, wo Sie doch gar kein Englisch können?< Tatsächlich kannte er nur das Englisch John Ruskins, dies aber in allen Nuancen. In Gesellschaft von Engländern wäre er arg in Verlegenheit geraten und wohl auch bei der Bestellung eines Koteletts in einem Restaurant.< Mit dem Abstand der Jahre machte Proust sich übrigens selbst lustig über seine Arbeit als Ruskin-Übersetzer.

Darüber musste ich selbst schmunzeln. Was einem anderen peinlich wäre, ist Proust es, der über sich und über seine eigenen Schwächen stehen kann, solange er seinen fulminanten französischen Ausdruck besitzt, womit sämtliche Ausdrucksfehler und inhaltliche Fehler irgendwie richtig klingen.
In seinem von Philip Kolb auf das Jahr 1909 datierten Ruskin-Pastiche (…) heißt es über den >Übersetzer< des vorliegenden Textes, einen gewissen Monsieur Proust, dieser sei sich seiner Fehlgriffe nicht bewusst gewesen, denn mehrfach danke er, in äußerst zahlreichen Fußnoten, überschwänglichst einem Theaterdirektor, einem Telefonfräulein, und zwei Mitgliedern der Société des Steeple-Chase dafür, ihm einige Passagen erhellt zu haben, die ihm dunkel geblieben seien. (320)

Ich freue mich, dass meine Frage, die sich ja auch Profis gestellt hatten, wie geht das, mit unzureichenden Englischkenntnissen ein Buch zu übersetzen, beantwortet wurde.

Mailaustausch mit Anne
Auch Anne konnte nicht explizit erklären, woraus der Konflikt zwischen Proust und seiner Mutter besteht, sodass ich doch denke, dass dies auf beiden Seiten psychische Probleme sein könnten. Vielleicht werden wir in den nächsten Briefen eines Besseren belehrt.

Im Folgenden die Dialoge zwischen Anne und mir:

Anne: Über seine Mutter habe ich auch viel nachgedacht. Besonders Dein Zitat:

"Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich verärgert." gab mir sehr zu denken. Braucht sie es vielleicht, dass er krank ist und sich nicht gut fühlt, damit sie als diejenige dastehen kann, die ihm helfen kann? Und warum muss er ihr das überhaupt schreiben. Leben sie nicht zusammen?

Mira:  Das ist ein interessanter Gedanke, Anne. Mir fehlt es noch an Konkretem. Was hat Marcel angestellt, dass seine Mutter ihn wie einen kleinen Jungen bestrafen musste? 

Anne: Das habe ich auch nicht rausfinden können. 

Mira: Dann müssen wir es noch offen lassen. Auf Deine Frage hin: Marcel schreibt ihr, weil sie gerade nicht anwesend ist. Es scheint in dem Hause Proust außerdem üblich zu sein, sich über einen Briefverkehr auszutauschen, selbst wenn alle Anwesenden beisammen sind. 

Anne: Dass er sich über die Kritik wegen seines schlechten Englisch so echauffiert, da musste ich schallend lachen.
Ich habe eine englische Biografie meiner Lieblingsschriftstellerin Helene Hanff. Da kann ich mir ja ein Englisch-Deutsch-Wörterbuch nehmen, diese übersetzen und verkaufen.

Mira lacht: Genau, sowas Ähnliches hatte ich mir auch vorgestellt. Wie groteskt. Irgendwie schafft Proust es immer wieder, mit Worten seiner Muttersprache alles geradezubiegen, was gerade zu biegen ist. Das hat starke manipulative Tendenzen, Menschen gegenüber, weil er es doch immer wieder schafft, dass sie auf ihn eingehen. Auch der Verleger aus den letzten Briefen hatte seine Übersetzung erst abgelehnt, dann durch Prousts Einwand hat er die Ablehnung wieder rückgängig gemacht. Ich wiederhole; das wäre bei uns in Deutschland niemals möglich gewesen. Hier steht die Perfektion für die Veröffentlichung eines Sachbuches ganz oben. Dies ist man auch den Leser*innen schuldig, die für ein Buch Geld bezahlen.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 321 - 330.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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