Weiter geht es von der Seite 312 bis 321.
Auf den folgenden Seiten gibt es drei Briefe, die mich noch weiter
beschäftigen werden. Im ersten Briefwechsel scheint Proust mit seiner Mutter
einen schweren Konflikt auszufechten, der doch eher psychologisch bedingt ist.
Ich habe noch nicht erfassen können, aus was dieser Konflikt besteht. Die Mutter scheint ein nettes Verhältnis zu ihrem Sohn zu haben, wenn er erkrankt ist. Warum?
Im nächsten Brief steht Proust im Austausch mit seinem Freund Bibesco,
dem er schreibt, dass er sich im Beruf nicht ausreichend ausgefüllt fühlt und
schüttet ihm sein Herz aus.
Im darauffolgenden Brief wird Proust, was seine Ruskin-Übersetzungen betreffen,
von seinem Verleger mit heftiger Kritik konfrontiert, dass seine
Englischkenntnisse miserabel seien. Eine schwere Kränkung für Proust, der aber
wieder alles gibt, sich dem Kritiker mit triftigen Gegenargumenten zu
widersetzen. Trotzdem stellt sich hier die Frage, wie Proust es nur geschafft
hat, trotz fehlender Englischkenntnisse Ruskin zu übersetzen? Mit Worten lässt
sich ja vieles erklären, solange, bis es passt. Die Antwort bietet der Brief, der an den
Verlagsdirektor geht.
Um die Reihenfolge einzuhalten, beginne ich mit dem Brief an die
Mutter. Ich versuche, noch immer herauszufinden, was das ist, was Proust in der
Beziehung zwischen Mutter und Sohn so sehr gequält hat. Mal schauen, im zweiten
Lesedurchgang erfasst sich mir besser die Problematik. Was wirft die Mutter dem
Sohn vor? Ich bin auf Annes Meinung noch gespannt.
An Jeanne Proust
6. Dezember 1902, Marcel Proust ist hier 31 Jahre alt
Ma petite Maman,da ich Dich nicht sprechen kann, schreibe ich Dir, um Dir zu sagen, dass
ich Dich einigermaßen unbegreiflich finde. Du weißt doch (…) dass ich, kaum heimgekehrt,
alle meine Nächte weinend verbringe, und das nicht ohne Grund; und Du sagst mir
den ganzen Tag lauter Dinge wie: >>Ich habe vergangene Nacht nicht
schlafen können, weil die Dienstboten um elf zu Bett gegangen sind.<< Ich
wollte, es wäre nur das, was mich am Schlafen hindert! Heute, als ich keine
Luft bekam, habe ich den Fehler begangen, nach Marie zu läuten (weil ich etwas
zum Rauchen brauchte), nachdem sie mir gesagt hatte, sie habe gerade zu Mittaggegessen,
und daraufhin hast du mich sofort bestraft, indem du, kaum dass ich mein
Trional eingenommen hatte, den ganzen Tag hämmern und lärmen ließest. Durch
Deine Schuld war ich in einen so nervösen Zustand geraten, dass ich, als der
arme Fénelon mit Lauris kam, auf eine allerdings sehr unangenehme Bemerkung hin
mit Faustschlägen über Fénelon herfiel. Ich wusste nicht mehr, was ich tat,
ergriff seinen neuen Hut, den er sich gerade gekauft hatte, zertrampelte und
zerfetzte ihn und riss schließlich das Innere heraus.
Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust diesen Wutanfall im
dritten Band der Recherche verarbeitet hat. Obwohl ich alle sieben Bände
gelesen habe, kann ich mich an diese Details nicht mehr erinnern, obwohl mir
damals schon klar war, dass Proust viele Lebenserfahrungen in seinem großen
Roman hat einfließen lassen.
Fénelon scheint ein Freund zu sein. Weiter geht es im Brief:
Da Du glauben könntest, dass ich übertreibe, lege ich diesem Brief ein
kleines Stück von dem Hutfutter bei, damit Du siehst, dass es stimmt.
Das finde ich eine merkwürdige Szene, dass er mit dem Stoff beweisen
muss, dass er seinen Groll tätlich an einem Freund ausgelassen hat? Reichen die
Worte dafür nicht aus? Stellt Proust sich damit in den Mittelpunkt, frage ich
mich, um mit dieser peinlichen Szene die Aufmerksamkeit seiner Mutter einzufordern? Aber
klar ist, dass die Schläge eigentlich der Mutter galten und nicht dem Freund.
Aber Du darfst es nicht wegwerfen, weil ich Dich eventuell bitten muss,
es mir für den Fall, dass er noch Verwendung dafür hat, zurückzugeben.
In welcher Form noch Verwendung finden können? Leuchtet mir nicht ein. Kann man einen Hut mit solch einem Fetzen Stoff wieder herstellen?
Nach alldem fühlte ich mich so erhitzt, dass ich mich nicht mehr
ankleiden konnte und bei Dir anfragen ließ, ob ich hier zu Abend essen solle
oder nicht. Bei dieser Gelegenheit glaubst Du dem Personal ein Vergnügen zu
bereiten und gleichzeitig mich zu bestrafen, indem Du mich mit Acht und Bann
belegst und sagst, man solle auf mein Läuten nicht kommen, mich nicht bei Tisch
bedienen usw. (313)
Nochmals gefragt; was ist der Konflikt? Die Mutter scheint den Sohn mit Entzug der
Bediensteten zu bestrafen. Aber warum? Für mich als Außenstehende schwer
nachzuvollziehen.
Du täuschst Dich sehr. Du weißt nicht, wie verlegen Dein Kammerdiener
heute war, weil er mich nicht bedienen durfte. Er stellte alles in meine Reichweite
und entschuldigte sich, indem er sagte: >>Madame befiehlt mir, es so zu
machen. Ich muss mich daran halten. (Ebd)
Und so weiter und so fort. Ein schwerer Vorwurf an die Mutter folgt am
Ende des Briefes.
Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst,
bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung
verschafft, Dich verärgert.
Das sind ja böse Anschuldigungen, aber Proust scheint eine Mordswut auf
die Mutter zu haben. Es scheinen schwere psychologische Probleme zwischen
Mutter und Sohn zu bestehen.
Es ist nicht das erste Mal. Heute Abend habe ich mich erkältet; falls das
Asthma umschlägt, was sich, bei jetziger Lage, bald einstellen wird, dann
besteht kein Zweifel, dass Du von Neuem nett zu mir sein wirst, wenn ich in denselben
Zustand geraten sollte wie letztes Jahr um die gleiche Zeit. Aber es ist
traurig, dass ich nicht gleichzeitig Gesundheit und Zuneigung haben kann. Hätte
ich beides in diesem Augenblick, so wäre es gerade recht, mir im Kampf gegen
einen Kummer zu helfen, der vor allem seit gestern Abend (…) zu stark wird, als
dass ich noch weiter gegen ihn ankämpfen könnte. (Ebd)
Diese wohlwollende Beziehung zwischen Mutter und Sohn scheint sich zum
Schlechten hin verändert zu haben. Ich vermisse in letzter Zeit die
fürsorgliche und verständige Mutter, die zu ihrem Sohn hält, statt ihn unter
Druck zu setzen. Ich bin sehr neugierig, ob sich die Lage zwischen ihnen beide
noch entspannen wird.
Doch trotz Unstimmigkeiten liest Madame Proust jeden Brief von Marcel,
der mit den Verlagspartnern zu tun hat.
An Antoine Bibesco
Dezember 1902
Antoine Bibesco kennen wir aus den letzten Briefen. Ein Freund, dessen
Mutter gestorben ist, und Bibesco durch die Trauer eine Wesensveränderung durchmachte,
auf die Proust sehr sensibel reagierte.
In diesem Brief geht es wieder um Reisepläne, auf die ich nicht
eingehen möchte, weil es immer so ein Hin- und Her ist, dauert lange, bis
Proust sich ausgesprochen hat, um zum nächsten Thema überzugehen. Was für mich
interessant war, ist, dass er mit seiner Arbeit sehr unzufrieden und frustriert
zu sein scheint. Die langjährige Übersetzungsarbeit scheint ihn nicht ganz
auszufüllen. Er schreibt an seinen Freund:
Und die scheinbare Arbeit, an die ich mich wieder gemacht habe, fällt mir
in vielerlei Hinsicht schwer. Ganz besonders in dieser: Alles, was ich tue, ist
keine wirkliche Arbeit, sondern nur Dokumentation, Übersetzung usw. Es ist dazu
angetan, meinen Appetit darauf, etwas zu schaffen, zu wecken, aber es stillt
ihn natürlich in keiner Weise. Seit dem Augenblick, da ich nach jener langen
Zeit der Erstarrung zum ersten Mal den 1. Blick auf mein Inneres gerichtet
habe, auf mein Denken, fühle ich die ganze Nichtigkeit meines Lebens, hundert
Romanfiguren, tausend Ideen flehen mich an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene
Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben,
um sie zum Leben zu erwecken, und die der Held mit einem Hieb seines Schwertes
verscheucht. Ich habe die schlafende Biene geweckt, und ich spüre mehr ihren
grausamen Stachel als ihre ohnmächtigen Flügel. (316f)
Wow, das finde ich wieder so schön ausgedrückt, dass ich beim Lesen
dabei zergehen könnte. Ich kann Proust so nachfühlen, wie traurig es ist, sich mit Arbeiten zu befassen, die nicht seinen Wünschen entsprechen. Auch den Satz oben, den
Figuren Blut zu trinken zu geben, damit sie lebendig werden, finde ich
wunderbar, wie er dieses Zitat auf seine Situation umzulegen weiß. Ich kann ihm
nachfühlen, dass ihm durch seine Erkrankungen und durch seine Übersetzungsarbeiten
wenig Zeit bleibt, sich literarisch, sich seiner eigenen Schreibkunst,
hinzugeben.
Ich hatte meinen Geist meiner Ruhe unterworfen. Indem ich seine Ketten
gelöst habe, glaubte ich einen Sklaven zu befreien, aber ich habe mir einen
Herrn geschaffen, dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und
der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe. (317)
Im nächsten Brief geht es wieder um den Ruskin. Proust muss sich hier
schwere Vorwürfe gefallen lassen, dass sein Englisch zu schlecht sei für die
Übersetzung. Erstaunlich, mit wie viel Kraft er es immer wieder schafft, sich
der Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist, zu stellen. Immerhin hat Proust
viele andere Fremdsprachen gelernt, aber keineswegs Englisch. Interessant, wie
er vorgibt, Kompetenzen entwickelt zu haben, auch ohne Englischkenntnisse den Ruskin
zu übersetzen. Wie wir aber wissen, ist es die Mutter, die ihm dabei unter die
Arme greift, wobei ihre Englischkenntnisse auch nicht ausreichend dafür sind.
An Constantin de Brancovan, Verlagsdirektor (der Mercure?)
Januar 1903
Lt. Google ist Constantin de Brancovan Verlagsdirektor, der Proust ganz
ungeschminkt vorwirft, dass Proust kein Englisch könne. Seine Übersetzungen
seien sinneswidrig. Teile davon wurden schon veröffentlicht, obwohl die Texte
vom Verleger Alfred Vallette auch schon angezweifelt wurden, siehe letzte Buchbesprechung.
Weiter geht es im Brief, in dem Proust sich vehement der Kritik
widersetzt. Erneut fällt mir auf, dass Proust fast jeden, mit dem er im
Briefkontakt steht, als seinen Freund bezeichnet. Vielleicht war das damals die
gängige Art, Floskeln zu verbreiten, oder es war ganz typisch für Proust, sich
so auszudrücken, sich vielleicht auch einzuschmeicheln?
Chér ami,
Sie wissen, wie sehr ich sie schätze – und ausgerechnet in dem Moment, da
Sie so nett zu mir und meinen Ruskins waren, will ich nicht den Eindruck
erwecken, Ihnen Vorwürfe machen zu wollen, aber ich finde es schon allerhand,
wenn man bedenkt, dass ich seit vier Jahren an einer Übersetzung der Bible
d´Amiens arbeite, dass diese Übersetzung in Kürze erscheinen wird, dass sie mir
viel Mühe bereitet hat und ich ihr große Bedeutung beimesse, wenn man also all
das bedenkt, finde ich es allerhand, dass Sie im Beisein von Lauris (Prousts
Freund, M. P.) (…) sagen, wie eben noch geschehen:
>Eigentlich können Sie ja kein Englisch. Das Ganze wird voller
Sinnwidrigkeiten stecken.< Ich weiß sehr wohl, dass Sie das nicht aus Boshaftigkeit gesagt haben, (…).
Aber jemand, der mich hasst, und mit einem Wort das Ergebnis von vier
anstrengenden Jahren zunichtemachen wollte, einer Arbeit, die auch inmitten der
Krankheit fortgeführt wurde, jemand, dem dran gelegen wäre, dass niemand meine
Übersetzung liest und sie als null und nichtig angesehen wird – was könnte dem
noch Schlimmeres einfallen, wenn ich mir die bescheidene Frage erlauben darf. Sie
brauchen das nur vor drei Personen zu wiederholen, und ich hätte mir schon die
erste von tausend Stunden Arbeit (…), die mich dieses Werk gekostet hat, sparen
können. – Was die Sache selbst betrifft, so wissen Sie, dass ich nicht dazu
neige, mich selbst zu überschätzen, noch, die Welt mit meinen Hervorbringungen
zu belästigen. Aber ich glaube, dass diese Übersetzung, nicht meines Talents
wegen, das mir vollkommen abgeht, wohl aber ob meiner Gewissenhaftigkeit, die
keine Grenzen kannte, eine Übersetzung sein wird, wie es nur wenige gibt, eine
wahrhafte Wiederherstellung.
Ich frage mich, wie Proust das beurteilen kann? Wenn er ohne Englischkenntnisse
ein Buch übersetzt, fehlt ihm jegliche Kompetenz eines Profis, eine Arbeit dieser
Art zu bewerten. Proust zitiert einen Freund, der ihm mündlich attestiert hatte,
dass er ein besseres Englisch könne als ein Engländer. Schwer vorstellbar, ob
der Freund das ernst gemeint hat oder ob er Proust nur schmeicheln wollte? Aber
Proust gibt selbst zu, dass der Freund sich getäuscht hat, denn …
Ich verstehe kein Wort gesprochenes Englisch, und lesen kann ich es auch
nicht gut. Aber seit ich vier Jahre mit der >Bible d`Ameniens< verbracht
habe, kenne ich sie zur Gänze auswendig, sie hat für mich jenen Grad an
vollständiger Anwandlung, an absoluter Transparenz erreicht, in der sich nur
noch die Nebelschleier halten, die nicht der Insuffizienz unseres Auges
geschuldet sind, sondern der nicht weiter hintergehbaren Obskurität des
betrachteten Denkens.
Später im Brief zitiert Proust seinen Freund Antoine Bibesco:
>Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich ist, jemanden so gut zu
übersetzen<.
Ich denke, dass auch Bibesco aufgrund der Freundschaft nicht objektiv
genug sein kann, Prousts Arbeiten zu bewerten. Außerdem ist auch Bibesco nicht
vom Fach. Weiter Proust:
Es ist schon etwas komisch, dass ich Ihnen all diese Referenzen anführe,
aber es war wohl nötig, nicht wahr? Das schließt nicht aus, dass, wenn Sie mich
auf Englisch um etwas zu trinken bitten, ich Sie nicht verstehen werde, denn
ich habe Englisch während meines Asthmas gelernt, als ich nicht sprechen
konnte, habe es also mit den Augen gelernt und weiß nicht, wie man die Wörter
ausspricht, und würde sie auch nicht wiedererkennen, wenn ich sie hörte.
Dennoch kann ich mir ganz schwer vorstellen, wie das möglich ist, dass
Proust mit diesen schwachen Englischkenntnissen eine Profiarbeit hervorbringen
kann.
Ich bilde mir nicht ein, Englisch zu können. Ich bilde mir ein, Ruskin zu
kennen. Und Sie wissen, dass ich mir nicht viel einbilde. Vielleicht bleiben
Sie vom Gegenteil überzeugt, und meine Übersetzung ist eine Ansammlung von
Unsinn. Aber dann, um unserer Freundschaft willen, sagen Sie es niemandem, und
lassen Sie es das Publikum ganz allein herausfinden. (319)
Das waren meine Zitate, die mir wichtig erscheinen.
Meine Meinung
Ich habe immer noch nicht kapiert, woraus der Streit zwischen Proust
und seiner Mutter besteht. Warum bestraft sie ihn? Ich bin auf Annes Meinung noch immer gespannt.
Der Brief an den Verlagsdirektor hat mich ganz besonders gepackt. Wie
viel Selbstbewusstsein muss ein Mensch haben, ein fehlerhaftes Buch zum Druck
rauszugeben? Es ist schon mehreren Menschen aufgefallen, dass Prousts
Englischkenntnisse dürftig sind. Ich erinnere mich sehr gut an vergangene
Briefe. Ich glaube, so etwas schafft nur ein Marcel Proust, der mit seiner
versierten Muttersprache Menschen bewusst oder unbewusst zu beeinflussen
schafft. Den meisten wäre es peinlich gewesen, ein Buch zu übersetzen, dessen
Sprache sie nicht mächtig sind.
Proust bezeichnet viele Menschen als seine
Freunde, und so frage ich mich erneut, ob ihm dies eine Hilfe war, seine
Kritiker von seiner Meinung zu überzeugen.
Ich finde es ein wenig dreist, auf die Veröffentlichung zu pochen,
trotz inhaltlicher Sinnfehler und es den Lesern zu überlassen, wie sie sein Machwerk
beurteilen, in der Hoffnung, dass die Übersetzungsfehler nicht auffallen. Er muss die Leser für dumm halten, und außerdem zahlen die Leser für das Buch viel Geld. Dies
wäre hier bei uns in Deutschland ein absolutes No Go. Und nur schade, dass John
Ruskin nicht mehr am Leben ist. Ich glaube, der würde sich über die Übersetzung
im Grabe umdrehen.
Aber wie kommt es, dass Proust, selbst wenn die Arbeit fehlerhaft ist, dass
er trotzdem sich hat englisch ausdrücken können? Wahrscheinlich hat er sich in
seiner langen Krankenperiode Englisch autodidaktisch beigebracht, wie oben zu
entnehmen ist.
Aus der Fußnote geht hervor:
In der Tat hat Proust niemals Englisch gelernt. In der Schule standen
Latein, Griechisch und Deutsch auf dem Stundenplan. Für die
Ruskin-Übersetzungen lieferte (…) seine Mutter die Vorlagen, die er stilistisch
aufpolierte. Zusätzlich holte er sich bei einer Reihe von Freunden und
Spezialisten Rat, was einige Sinnfehler in der Bible d´Amiens nicht ausschloss.
Georges Lauris schreibt im Vorwort zu seiner Ausgabe von Prousts Briefen an ihn
(Marcel Proust, Á un ami, Paris 1948, S. 22): >Der Prince de Brancovan, der
zu dieser Zeit noch die >Renaissance Latine< herausgab, fragte ihn
(Proust) eines Tages: >Wie machen Sie das nur, Marcel, wo Sie doch gar kein
Englisch können?< Tatsächlich kannte er nur das Englisch John Ruskins, dies
aber in allen Nuancen. In Gesellschaft von Engländern wäre er arg in
Verlegenheit geraten und wohl auch bei der Bestellung eines Koteletts in einem Restaurant.<
Mit dem Abstand der Jahre machte Proust sich übrigens selbst lustig über seine
Arbeit als Ruskin-Übersetzer.
Darüber musste ich selbst schmunzeln. Was einem anderen peinlich wäre,
ist Proust es, der über sich und über seine eigenen Schwächen stehen kann, solange er seinen fulminanten französischen Ausdruck besitzt, womit sämtliche Ausdrucksfehler und inhaltliche Fehler irgendwie richtig klingen.
In seinem von Philip Kolb auf das Jahr 1909 datierten Ruskin-Pastiche (…)
heißt es über den >Übersetzer< des vorliegenden Textes, einen gewissen
Monsieur Proust, dieser sei sich seiner Fehlgriffe nicht bewusst gewesen, denn mehrfach
danke er, in äußerst zahlreichen Fußnoten, überschwänglichst einem
Theaterdirektor, einem Telefonfräulein, und zwei Mitgliedern der Société
des Steeple-Chase dafür, ihm einige Passagen erhellt zu haben, die ihm
dunkel geblieben seien. (320)
Ich freue mich, dass meine Frage, die sich ja auch Profis gestellt
hatten, wie geht das, mit unzureichenden Englischkenntnissen ein Buch zu
übersetzen, beantwortet wurde.
Mailaustausch mit Anne
Auch Anne konnte nicht explizit erklären, woraus der Konflikt zwischen Proust und seiner Mutter besteht, sodass ich doch denke, dass dies auf beiden Seiten psychische Probleme sein könnten. Vielleicht werden wir in den nächsten Briefen eines Besseren belehrt.
Im Folgenden die Dialoge zwischen Anne und mir:
Anne: Über seine Mutter habe ich auch viel nachgedacht. Besonders Dein Zitat:
"Die Wahrheit ist, dass Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich verärgert." gab mir sehr zu denken. Braucht sie es vielleicht, dass er krank ist und sich nicht gut fühlt, damit sie als diejenige dastehen kann, die ihm helfen kann? Und warum muss er ihr das überhaupt schreiben. Leben sie nicht zusammen?
Mira: Das ist ein interessanter Gedanke, Anne. Mir fehlt es noch an Konkretem. Was hat Marcel angestellt, dass seine Mutter ihn wie einen kleinen Jungen bestrafen musste?
Anne: Das habe ich auch nicht rausfinden können.
Mira: Dann müssen wir es noch offen lassen. Auf Deine Frage hin: Marcel schreibt ihr, weil sie gerade nicht anwesend ist. Es scheint in dem Hause Proust außerdem üblich zu sein, sich über einen Briefverkehr auszutauschen, selbst wenn alle Anwesenden beisammen sind.
Anne: Dass er sich über die Kritik wegen seines schlechten Englisch so echauffiert, da musste ich schallend lachen.
Ich habe eine englische Biografie meiner Lieblingsschriftstellerin Helene Hanff. Da kann ich mir ja ein Englisch-Deutsch-Wörterbuch nehmen, diese übersetzen und verkaufen.
Mira lacht: Genau, sowas Ähnliches hatte ich mir auch vorgestellt. Wie groteskt. Irgendwie schafft Proust es immer wieder, mit Worten seiner Muttersprache alles geradezubiegen, was gerade zu biegen ist. Das hat starke manipulative Tendenzen, Menschen gegenüber, weil er es doch immer wieder schafft, dass sie auf ihn eingehen. Auch der Verleger aus den letzten Briefen hatte seine Übersetzung erst abgelehnt, dann durch Prousts Einwand hat er die Ablehnung wieder rückgängig gemacht. Ich wiederhole; das wäre bei uns in Deutschland niemals möglich gewesen. Hier steht die Perfektion für die Veröffentlichung eines Sachbuches ganz oben. Dies ist man auch den Leser*innen schuldig, die für ein Buch Geld bezahlen.
Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 321 - 330.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen,
um gelebt, nicht aber
um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)
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