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Sonntag, 5. April 2020

Marcel Proust und die Trauer um seine verstorbene Mutter

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 434 bis 458  

Dieses Mal greife ich auf die letzten zwanzig Seiten zurück, da ich letztes Mal meine Stichpunkte einfach unter den Tisch habe fallen lassen, sodass ich total vergaß, was ich mir notiert hatte. Das passiert mir immer, wenn mein Kopf zu voll ist mit noch anderen Gedanken. Deshalb hole ich dies hier nun nach.
Als die Mutter von Proust gestorben ist, haben Anne und ich uns gefragt, wie es nun mit ihm weitergehen wird? Schafft er ohne seine Mutter ein selbständiges Leben zu führen?
Er schreibt an

Anna de Noailles
Ende Sept. 1905
Sie nimmt mein Leben mit sich hinweg, so wie Papa das ihre mit sich hinweggenommen hat. (Heute habe ich sie noch bei mir, tot zwar, aber noch kann ich sie mit meiner Zärtlichkeit bedenken. Und dann werde ich sie nie wieder haben. (434)

Die Zeitung Figaro machte Jeanne Prousts Tod mit einem Nachruf öffentlich. In der Fußnote ist zu entnehmen:
Der Figaro vermeldet am Mittwoch, dem 27. September 1905 (…) den Tod von >Madame Adrien Proust geb. Weil, Witwe des Professors an der Medizinischen Fakultät (…). Sie verstarb in Paris, rue de Courcelles, im Alter von 56 Jahren. Die Trauergemeinde versammelt sich im Hause der Verstorbenen. Die Beisetzung findet statt auf dem Friedhof Père-Lachaise. Die Dahingegangene war die Mutter des bekannten Schriftstellers Marcel Proust und des Doktors Robert Proust.< (435)
Diese Traueranzeige hat mich tief berührt, allerdings habe ich mich an dem Begriff Die Dahingegangene ein wenig gestört ... Der Friedhof Pére-Lachaise ist mir bekannt. Ich bin häufig schon dort gewesen, da ich hier in der Vergangenheit einige andere Künstler aufgesucht hatte. Damals kannte ich die Proust – Familie überhaupt noch nicht, weshalb ich einen weiteren Abstecher in diese Gefilde unternehmen werde. Ich hatte dieses Jahr eine Reise eine Woche nach Ostern gebucht, die ich allerdings wegen der Corona -Epidemie wieder stornieren musste.

Marcel Proust hat den Tod der Mutter nicht wirklich verwinden können und lässt sich dadurch im Dezember desselben Jahres in ein Sanatorium einweisen, wo er auch Schreibverbot verordnet bekommt, an das er sich nur sehr schwer halten kann.
Er schreibt

An Marie Nordlinger
6. Dezember 1905

Monsieur Marcel Proust befindet sich zur Behandlung in ein Sanatorium, wo es ihm untersagt ist, zu schreiben, aber Mademoiselle Mary soll wissen, dass er jederzeit voller Hochachtung, Dankbarkeit und Zärtlichkeit an sie denkt.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Nach einigem Zögern hatte Proust sich Anfang Dezember (…) in das private Sanatorium des Doktor Sollier in Boulogne-sur-Seine (Bolognas Billancourt) (…) begeben. Er blieb dort bis zur letzten Januarwoche 1906. Trotz des Schreibverbots schickte Proust aus dem Sanatorium kurze Briefe an Robert de Billy und Louisa de Monard (…). Das vorliegende Schreiben an Marie Nordlinger ist nicht unterzeichnet, die Handschrift konnte nicht identifiziert werden. (435)

Ich denke, dass Proust den Brief an Marie Nordlinger von einer anderen Person hat ausfertigen lassen. Das Schreiben ist in der dritten Person geschrieben. Da er schon durch seine eigenen multiplen Erkrankungen vom gesellschaftlichen Leben eingeschränkt ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ein Schreibverbot für ihn wie eine schwere Strafe aufgefasst wird. Die Briefe waren für ihn damals das Tor zur Welt, das nun hier geschlossen wurde. Aber ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das viele Briefeschreiben die Gesundheit noch weiter beeinträchtigen kann. Das kenne ich aus eigener Erfahrung, als ich in meinen jungen Jahren selbst viel geschrieben hatte, wühlte mich das Schreiben immens auf. Ich selbst trage vom vielen Schreiben sogar eine Narbe am linken Mittelfinger mit mir herum.

In einem späteren Brief an seinem Cousin, im Juni 1906, erfährt man, dass Proust nach dem Sanatorium sechs Monate lang sein Bett nicht habe verlassen können. Eine sehr lange Zeit, die ihn regelrecht gebeutelt hatte.
Aber Sie wissen vielleicht, dass ich nach Mamas Tod ein Sanatorium aufsuchen musste. Danach bin ich hierher zurückgekommen, habe aber mein Bett oder mein Schlafzimmer in den letzten sechs Monaten nicht verlassen können. (452)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:

Anspielung an seinen vorigen Brief an Robert Dreyfus, wo Proust über das Wort >glücklich< schreibt:
Seit Mamas Tod hat dieses Wort keinen Sinn mehr für mich (…). (458)  

Weiter geht es nächstes Wochenende von 459 - 469.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 10. November 2019

Wo bleibt Prousts Erbe?

Quelle Geralt / Pixaby
Weiter geht es mit den Seiten von 349 – 359  

Auf den folgenden Seiten bekommt man es mit einem frustrierten Marcel Proust zu tun, dem es stinkt, dass sein Erbanteil seines Vaters an die Mutter angefallen ist. Proust bekommt aus bestimmten Gründen lediglich einen Monatsbetrag ausgezahlt.

Er spricht sich bei einem Freund aus, sagt ihm gleich zu Beginn des Briefes, dass er von traurigen Gedanken geplagt sei. Anne und mir waren die vielen Gedanken um das Geld definitiv zu langweilig. Wir beide mögen eigentlich keine Geldgespräche. Mal schauen, was ich hierbei zusammentragen kann.

Auf jeden Fall ist der Vater vermögend gestorben. Aber den Reichtum hat er aus eigener Kraft erworben.

An Louis d´Albufera
Anfang Dezember 1903, Marcel Proust ist hier 32 Jahre alt

Schon den ersten Satz finde ich ein wenig befremdlich.
Mon petit Albu, während Sie mit mir redeten, nagte an mir der fürchterlich traurige Gedanke, dass ich keinerlei Geld habe, das Ihren teuren Geist von allen Sorgen befreien könnte. (349)

Meine Frage: Hat der Freund ihn um Geld gebeten? Nun, jedenfalls nutzt Proust die Gelegenheit, seinem Freund vorzuheulen, wie wenig Geld er selber zur Verfügung hat, da der Vater ihn von dem Erbe wenig begünstigt hat.

Zu Lebzeiten erhielt Proust schon Geld vom Vater. Also ganz so mittellos war er nicht:
Papa zahlte mir jeden Monat 500 Francs aus, dazu vierteljährig 125 Francs. (350)

Anne und ich hatten uns immer schon gefragt, wie viel Geld Proust eigentlich zum Leben zur Verfügung hat. Ich denke, dass wir hier ein wenig schlauer werden, dass er mit seinen 32 Jahren neben seinen literarischen Einnahmen noch Unterstützung von den Eltern benötigt hat.
Papa und Mama hatten sich gegenseitig als Alleinerben ihres ganzen Vermögens eingesetzt, der Überlebende sollte der Erbe des anderen sein. (Ebd.)

Dies hat Proust nicht wirklich gepasst, grübelt, was die Eltern zu solch einem Verhalten bewogen hatte. Proust findet eine Antwort, die auch für mich und Anne plausibel zu sein scheint:
Ich glaube, dass dies nicht auf wechselseitiger Zuneigung gründete, sondern auch auf der absurden Vorstellung, die sie seit jeher hatten, ich sei ein Verschwender und würde, sobald ich nur zwei Sous in der Tasche hätte, diese sogleich zum Fenster hinauswerfen. (Ebd.)

Auch fühlt er sich seinem Bruder gegenüber benachteiligt. Zu Unrecht, wie ich finde.
Und da sie wussten, dass mein Bruder eine Frau geheiratet hatte, die auf ein immenses Vermögen wartet, und dass er im Übrigen selbst, wenn er nur will, ein irrsinniges Geld mit der Chirurgie verdienen kann, (…)., hatten sie in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken und sagten sich, dass, solange einer von beiden, Papa oder Mama, das Vermögen zusammenhielte, es am besten für mich aufbewahrt und vor meiner Verschwendungssucht gesichert wäre! (Ebd.)

Ist etwas Neid auf den Bruder herauszuhören? Man mag als Chirurg viel Geld verdienen, aber geschenkt ist das Geld nicht, sondern hart verdiente Arbeit gepaart mit einer Masse an Verantwortung.

Achtung, nun schießt er gegen seine Mutter.

Allerdings erlaubt das Gesetz nicht, dass ein Ehemann alles seiner Frau vermacht. Und ich glaube, dass mein Bruder und ich jeweils Anspruch auf ein Viertel haben. (Ebd.)

Interessant wäre für uns hier zu wissen, ob im es im umgekehrten Fall zulässig wäre, dass eine Ehefrau alles seinem Ehemann vermacht, oder ob es dem Stammhalter, das wäre hier Marcel, zugeschrieben worden wäre.

Ein Onkel der Familie, Vaters Bruder, gibt Proust folgende Ratschläge:
Deine Mutter lebt von einem Einkommen, das sich auf 80.000 Francs belief, sie hat jetzt nur noch 40.000 zur Verfügung. Dein Bruder und Du, Ihr müsst versuchen, ihr die Änderung ihrer Lage so wenig wie möglich spürbar zu machen, und auf Euer Pflichtteil verzichten, Robert, indem er sich mit dem zufriedengibt, was er schon hat, und Du, indem Du bei Deiner Mutter wohnen bleibst. (351)

Proust wartet nun ab, wie sich sein Bruder Robert verhalten wird. Dies teilt Proust alles seinem Freund mit. Weiter schreibt er:
Wenn sich diese Lösung durchsetzt, dann werde ich weiterhin kein Kapital besitzen, und auch wenn mir meine monatlichen 500 Francs erhalten bleiben, so werde ich davon womöglich eine kleine Unterhaltszahlung für verschiedene Ausgaben an meine Mutter zu leisten haben. (Ebd.)
Es stehen einige Ausgaben an, hinzu kommt noch der Umzug in eine kleinere Wohnung, sobald der Mietvertrag ablaufen werde. Wie man oben entnehmen kann, rechnet Proust damit, sich an den Kosten beteiligen zu müssen. In den späteren Zeilen ist zu entnehmen, dass Prousts Erbanteil in Aktien umgelegt wurde.
Dies alles, wenn ich es richtig ahne, immer in der Absicht, mich vor mir selbst zu schützen, wie auch der Vorschlag meines Onkels keinen anderen Zweck verfolgen dürfte.
Damit sich hier nicht alles nur ums Geld dreht, eine kurze Zusammenfassung aus dem Brief an Marie Nordlinger. Zur Erinnerung: Marie Nordlinger ist die Schwester von Robert de Montesquieou und ist Expertin in der englischen Sprache und greift Proust häufig unter die Arme, wenn er Probleme mit der Ruskin-Übersetzungsarbeit hat. Proust hat vor nichts eine Scheu, stellt der Briefpartnerin jede Menge Sinnfragen zu seiner Übersetzung.

Unsere Gedanken dazu
Ich hätte Proust nicht zugemutet, dass er sich so stark finanziell von den Eltern abhängig macht. Dass er keinen Stolz besitzt, sich auf eigene Füße zu begeben, entnehme ich aus diesen Zeilen. Ich erinnere mich noch an den kleinen Marcel, dass er schon in der Kindheit sich häufig Geld vom Großvater hat ausleihen müssen, weil er mit seinem Taschengeld nicht klar kam.

Wer bekommt schon in dem Alter jeden Monat von den Eltern 500 Frans ausgezahlt, was damals sehr viel Geld gewesen ist.

Wie viel der Vater an Vermögen hinterlassen hat, wird minutiös in der Fußnote gelistet. Wer genaue Angaben haben möchte, so verweisen wir auf das Buch. 

Dies war es für heute. Anne und ich hatten heute Morgen schon über diese Briefe gesprochen, sodass ein weiterer Austausch sich erübrigt hat, vor allem, weil wir uns bei den Zitaten einig waren, wobei Anne sehr pragmatische Fragen noch im Nachhinein gestellt hat, als wir nun soeben in einer anderen Proust- Sache doch noch telefoniert haben.

Anne hat sich im Nachhinein nicht zufriedengegeben, was Prousts Auslagen betreffen. Wie viel muss er von seinem Eltern-Gehalt für Arztkosten aufkommen? Wer bezahlt die Medikamente? Wie viel verdient Proust als Literat? Er hat jede Menge kürzere Geschichten verfasst und ein ganzes Buch mit dem Titel Santeuil schon geschrieben. Er hat dafür jeweils eine Gage bekommen, aber wie hoch sie war, darüber hat sich Proust in den Briefen noch nicht ausgelassen. Für seine Ruskin-Übersetzungsarbeit ist er auch ausbezahlt worden. Wahrscheinlich konnte er mit diesen scheinbar kleinen Honoraren nicht wirklich auskommen. Aber wie man oben aus den Briefen entnehmen kann, konnte Proust scheinbar nicht wirklich gut mit Geld umgehen. 

Anne ist erbost, denn mit welcher Selbstverständlichkeit Proust ohne eine Gegenleistung seine Hand aufhält. 

Je älter er wird, desto mehr verliert er bei mir an Sympathiepunkte.

Unser Fazit
Auch wenn Proust auf hohem Niveau klagt und weint, nicht genug zu bekommen, wissen Anne und ich nun, dass er nie Geldnot erleiden wird. Aus der Fußnote konnte entnommen werden, dass der Tod der Mutter auch nicht mehr lange auf sich warten lässt, sodass wir davon ausgehen, dass er und sein jüngerer Bruder Robert das gesamte Vermögen erben werden, da auch die Mutter viel Geld mit in die Ehe gebracht hat, und sie selbst durch ihre eigenen verstorbenen Eltern Geld geerbt hatte. Proust kann sich somit zurücklehnen. Für ihn ist gesorgt, sowohl zu Lebzeiten seiner Mutter, die ihm weiterhin jeden Monat Geld zusteckt als wäre es sein Gehalt, als auch nach ihrem Ableben.

Weiter geht es übernächstes Wochenende von 359 - 369

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 9. September 2019

Prousts Lebenskrise

Weiter geht es mit den Proust-Briefen von Seite 271 – 280  

Auf den folgenden Seiten erfährt man, welche Erfahrung Proust als Übersetzer mit John Ruskin macht und dass er die Absicht hat, mit seiner Mutter Ende April 1900 nach Venedig zu reisen. Ich kann mich erinnern, dass es in der Recherche auch eine Szene gibt, in der der fiktive Marcel mit seiner Mutter nach Venedig gereist ist und dort mit einem italienischen Kellner eine peinliche Situation erlebt hat. Sicher eine reale Begebenheit, die Proust in seiner imaginären Autobiographie hat einfließen lassen.

Auch hat sich herausgestellt, welche Form von Asthma Proust erleidet. Er ist Pollenallergiker. Zitiert wird aus der Fußnote aus einem Brief von Marie Nordlinger.
Proust plante mit seiner Mutter die Abreise nach Venedig für das Ende des Monats April. (…) Dort auch der Hinweis darauf, dass ihm Florenz wegen seines Heuschnupfens und der Baumblüte untersagt bleibt. Proust blieb mit seiner Mutter ca. bis Ende Mai (1900) in Venedig. Im Oktober (…) brach er, diesmal ohne seine Mutter, zu einem zweiten, gut zweiwöchigen Venedig-Aufenthalt auf. (273)

Zu Venedig habe ich weiter unten noch Zitate eingefügt.

An Pol Neveux
Februar 1900, Proust ist hier 28,5 Jahre alt

Proust befindet sich von der Bibliothek Mazarine am Ende des fünften Beurlaubungsjahrs. Aufgrund seines labilen Gesundheitszustands erbittet Proust Nevoux um ein weiteres Beurlaubungsjahr.
Cher Monsieur, wie es scheint, ist das letzte (das fünfte) Jahr meiner Beurlaubung abgelaufen, und ich müsste nun wieder in der Mazarine antreten, was mir, leider Gottes, mein Gesundheitszustand nicht erlaubt. Muss ich also meine Entlassung ersuchen, oder gibt es einen anderen Ausweg, eine Verlängerung der Beurlaubung, einen Aufschub meines Dienstantritts, eine unbefristete Beurlaubung oder was auch immer? (271)

Ich bin über den Satz gestolpert, als Proust auch eine unbefristete Beurlaubung in Erwägung gezogen hat. Was genau soll ich mir darunter vorstellen? Kein Arbeitgeber würde darauf eingehen. Anne ist der Meinung, dass er solange beurlaubt sein möchte, solange der Bedarf vorliegen würde.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust gebeten wurde, seinen Dienst unverzüglich am 14.02.1900 wieder aufzunehmen. Scheinbar ist er dieser Forderung nicht nachgekommen und so wurde er ab dem 01.03.1900 vom Dienst suspendiert.

Im nächsten Brief erfährt man etwas über Prousts Arbeit als Übersetzer von John Ruskins Werken. Scheinbar habe er Übersetzungsfehler begangen, auf die Proust peinlichst berührt reagiert.

An Robert de La Sizzerane
April 1900
Monsieur,(…) Ich habe von einem Herrn aus England einen Brief erhalten, dem Sie meine Artikel zu Ruskin geschickt hatten. Das hat mich erstaunt, in Verlegenheit gebracht und vor allem mehr gerührt, als ich es vielleicht zum Ausdruck bringen kann. Ihr Freund weist mich auf eine Sinnwidrigkeit in der Übersetzung einer Passage der „Biblie d´Amiens“ hin. Ich möchte ihm gerne schreiben, um mich für seinen Brief zu bedanken, und ihn um Rat bei anderen Stellen bitten, die mir Kopfzerbrechen bereiten.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Prousts Englischkenntnisse nicht überragend gewesen wären, auch die seiner Mutter nicht. Ich zitiere aus der Fußnote.
Die seiner Mutter, auf deren Hilfe er angewiesen war, waren auch nicht über alle Zweifel erhaben, wodurch sich in der „Bible d´Amiens“ eine Reihe von Fehlern einstellte, auf die schon Henri Lemaitre 1944 hingewiesen hat in seinem in Toulouse erschienenen Buch „Proust et Ruskin“. (273)

1944 hatte Proust nicht mehr gelebt, weshalb er das Buch von Lemaitre selbst nicht hat lesen können. Aber wenn er es hätte lesen können, so bin ich sicher, wäre ihm das Buch sicher mehr als peinlich gewesen.

Dennoch wurde Prousts Übersetzung schließlich im Verlag Mercure de France abgedruckt. Ganz so schlecht können seine Übersetzungen doch nicht gewesen sein.

Weiter schreibt er:
Sie haben mir gesagt, dass es nach Ihrer Kenntnis mehrere unveröffentlichte Ruskin-Übersetzungen gibt. Wissen Sie, ob sich darunter auch die „Steine von Venedig“ finden? Ich habe die Absicht, nach Venedig zu reisen, und da ich dort Ruskin-Übersetzungen abschließen muss, die ich einem Verleger versprochen habe, wäre es eine große Erleichterung für mich, wenn ich vor Ort die „Steine von Venedig“ auf Französisch lesen könnte. Natürlich würde ich keine Übersetzung der „Steine von Venedig“ lesen, wenn ich sie selbst zu übersetzen hätte. Aber die „Steine von Venedig“ gehören nicht zu den Werken, die ich übersetzen muss, und ich hätte keinerlei Skrupel, sie auf Französisch zu lesen, um mich von meinen diversen Übersetzungen auszuruhen. (272f)

Ich bin neugierig geworden, und habe auf Amazon nach diesem Werk gesucht, und tatsächlich, das Buch die Steine von Venedig ist auch ins Deutsche übersetzt worden und käuflich zu erwerben. 

Wer ist John Ruskin? Siehe obiges Foto. Darüber hatte ich schon in der letzten Besprechung geschrieben. Kurz nochmals ein paar wenige Fakten zur Wiederholung. John Ruskin ist am 08.02.1819 in London geboren und ist ein englischer Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker. Gestorben ist er am 20.01.1900.

In einem anderen Brief spürt man wieder Prousts Depression. Er leidet, dass er auch als Übersetzer nicht den Erfolg einbringt, den er sich erhofft hat. Außerdem beklagt er wieder seine angeschlagene Gesundheit und freut sich über jede freundschaftliche Zuneigung, die man Proust in Zeiten seiner Nöte entgegenbringt.

An Constantin Brancovan
Januar 1901, hier ist Proust 30,5 Jahre alt.
Cher ami,  
ich wage nicht zu glauben, dass die geistigen Wellen, von denen das neue Institut für Psychologie spricht und die große Entfernungen überwinden können, um die Person zu erreichen, an die man gerade gedacht hat, real genug sind, um Ihnen zugetragen zu haben, dass ich, seit dem Neujahrstag an einer Grippe leidend, auf einen beschwerdefreien Tag wartete, um Ihnen zu sagen, wie traurig ich über Ihre Abwesenheit bin und wie dankbar über die Zeichen der Zuneigung, mit denen Sie mich liebenswerterweise zu Trost und Stärkung bedacht haben. All jene, die wissen, was Freundschaft ist, werden Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen wissen.

Immer wieder liest man, wie sehr dieser junge Mensch unter seinen Erkrankungen leidet, was mich sehr betroffen stimmt. Noch mehr, als er seine beruflichen Ziele einfach nicht zu erreichen scheint, und glaubt, auch seine Eltern damit enttäuschen zu müssen.
Aber wenn Sie bedenken, dass ich, stets krank, ohne jegliches Vergnügen, ohne Ziel, ohne Beschäftigung, ohne Ambition, mein abgeschlossenes Leben vor mir und bedrückt von dem Kummer, den ich meinen Eltern bereite, wenig Freuden habe, werden Sie verstehen, welche Bedeutung freundschaftliche Gefühle für mich haben können und wie stark in meinem der Welt abgewandten Herzen die Sympathien sind, die ich für meine Freunde empfinde, und wie dankbar ich denen bin, die mir, wie Sie, mit so viel feinfühliger Zuneigung und Liebenswürdigkeit begegnen. (275)

Hier erfolgt noch ein interessanter Link von der Frankfurter Allgemeine: 
Proust in Venedig. Wo ist seine Reisegruppe? Ein Artikel von Konrad Heumann. 

Zum Schluss hat auch Anne ein Zitat finden können, das ihr zugesagt hat. Ihr Schwerpunkt sind kritische Frauenthemen, und sie neugierig auf Proust ist, welchen Umgang er zu seinen weiblichen Zeitgenossinnen zu pflegen scheint.

Anne schreibt:
Wie erfrischend zu lesen, wie ein Künstler das Werk einer Künstlerin lobt. Und nicht, wie es heute oft der Fall ist, sich an deren Äußerlichkeiten abarbeitet, sodass Frauen gezwungen sind, auf ihre besondere Art darauf zu reagieren. Ich empfehle da die Aktion #dichterdran, die auf Twitter Blüten treibt: 

Hier thematisch eine Verlinkung zu Twitter.

An Anna de Noailles
Mittwoch, ein ½ Stunde nach Mitternacht (I.? Mai 1901)
Madame,ich erwarte Ihre Verse mit der ängstlichen Gewissheit dessen, der neuer Wunderwerke der Schönheit harrt. Ich war deren so sicher wie der Prinz im Märchen, dem die arbeitsamen Bienen die Rosenstöcke bestäuben, sicher sein durfte, Honig und Rosen zu bekommen. Denn ein geniales Naturell handelt unfehlbar wie die Natur. Und was Ihrem Hirn entspringt, wird immer so wertvoll sein, wie der Duft der Weißdornblüten immer köstlich sein wird…“ (277)

Dies ist wirklich ein schönes Zitat, liebe Anne, das du Dir herausgesucht hast.

Meine Gedanken

Obwohl Marcel Proust keinen leichten Lebensweg hat, bleibt er im Austausch mit seinen Briefpartner*innen immer sehr höflich, dankbar, wertschätzend und zuvorkommend. Mir hat es gefallen, dass er die Freundschaft zu wertschätzen weiß, denn unter vielen seiner Freund’innen darf er sein, wie er ist, mit all seinen Schwächen. So wirken zumindest die Briefe auf mich. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie das ist, wenn man seinen Begabungen nicht so nachgehen kann, wie man möchte, weil einem durch die verschiedenen Hindernisse die Kraft dazu genommen wird. Doch auch hier muss ich sagen, ganz erfolglos ist Proust auch diesmal nicht, denn immerhin wurden seine Ruskin-Übersetzungen veröffentlicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Aber er hat auch Glück, denn er findet immer ein verständiges Ohr unter den Freund’innen, wo er es sich erlauben kann, sich über seine Nöte auszusprechen. Und hier muss ich Proust auch recht geben; es ist nicht selbstverständlich, Verständnis bei anderen Menschen zu finden. Vielleicht verlieh ihm dies Kraft und Mut, weiter zu machen, um nicht aufzugeben.

Telefongespräch mit Anne

Anne und ich haben uns auch sehr ausführlich über Prousts Werdegang ausgetauscht. Dass er als Übersetzer in seinen Texten viele Fehler begangen hat, kann nicht nur Proust angelastet werden. Heute dürfen nur Menschen sich als Übersetzer ausgeben, die neben der Fremdsprache auch die Ausbildung dazu vorzuweisen haben. Anne ist der Meinung, dass die Menschen früher so geschrieben haben, wie sie gesprochen hätten. Ich erinnere mich, dass Proust mit mehreren Sprachen aufgewachsenen ist. Deutsch und Französisch als Erst- und Zweitsprache, später kamen Englisch und Italienisch hinzu. Arm ist er in seiner Multilingualität nicht, aber reichen diese Kenntnisse auch aus, um fremdsprachige Bücher in die Muttersprache zu übersetzen? Ich bin gespannt, wie sich Proust noch weiterentwickelt, und ob er einen anderen Weg, als den des Übersetzers, finden wird.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 280 – 290.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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