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Sonntag, 22. März 2020

Marcel Proust und seine kranke Mutter

Weiter geht es mit den Seiten von 423 bis 434 

Marcel Proust ist noch immer krank, und sicher immens gebeutelt, dass er als ein großer Gesellschafter in gesunden Tagen keine einzige Party verpassen möchte, so ist er jetzt dazu verdammt, sich zurückzuhalten und das Bett zu hüten. Seine multiplen Erkrankungen führen ihn in eine  langwierige Zwangsisolation. Wer Proust kennt, der kann sich schwer vorstellen, dass er monatlich nur eine Stunde ausgeht. Hinzu kommt seine plötzlich schwer erkrankte Mutter, die ihm große Sorgen bereitet.

An Robert Dreyfus
Mitte Mai 1905, noch ist Proust 33 Jahre alt
Ich gehe ungefähr einmal im Monat für eine Stunde aus und liege danach eine Woche im Bett, habe Fieber, ganz zu schweigen von meinen Asthma-Anfällen. Was meinen Freund angeht, so kann ich Dich, wenn es dienlich sein sollte, nur brieflich mit ihm in Verbindung setzen. (423)

Aber Proust macht das Beste daraus. Er weiß sich zu Hause geistig zu betätigen. Das zeigt die große Anzahl seiner Briefe.
Ich hoffe, das Leben ist Dir hold und dass Du das Glück in fruchtbarer Arbeit findest. Meinerseits bin ich zurzeit, da Du Dich so liebenswürdig danach erkundigst, nicht allzu unglücklich. Ich schaffe es, ein wenig zu arbeiten – außer seit meinen entsetzlichen Anfällen – und führe ein sehr sanftes Leben, das aus Ruhe, Lektüre und einem ganz arbeitsamen Zusammensein mit Mama besteht. (424)

Auf den folgenden Seiten erkrankt allerdings auch seine Mutter seit zwei Wochen an einer schweren Harnvergiftung. Proust ist besorgt, verzweifelt, sie verweigert sogar seit zwei Wochen die Nahrung, während die Mutter sehr unvernünftig mit ihrem Leiden umgeht. Er schreibt an eine Freundin.

An Geneviève Straus
25.09.1905, Proust ist hier 34 Jahre alt
Sie ist gegenwärtig in einem entsetzlichen Zustand. Mama, die uns so sehr liebt, begreift nicht, wie grausam es von ihr ist, sich nicht behandeln lassen zu wollen. Sie ist schon mit einer akuten Urämie nach Evian gefahren, von der niemand etwas ahnte und die sich erst in Paris herausgestellt hat, denn in Evian selbst war sie nicht zu bewegen, eine Analyse durchführen zulassen. Während ich allein mit ihr in Evian war, musste ich zu meinem Kummer und trotz allen Zuredens mitansehen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schwindelanfälle schon am frühen Morgen in den Salon des Hotels hinunterging und sich dabei auf zwei Personen stützen musste, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer Schwäche, von deren Ausmaß Ihnen allein schon die Tatsache, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr zu sich genommen hat, eine Vorstellung zu geben vermag, lässt sie sich auch weiterhin jeden Morgen wecken, waschen, peinlich genau ankleiden, was Gift für sie ist. (433)

Schon kompliziert. Die Erkrankung nicht einsehen zu wollen, und ich mich beim Lesen dieser Zeilen gefragt habe, ob sich Madame Proust für unsterblich hielt? Nun wird mir auch klar, wieso Prousts Eltern die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Erkrankung so wenig in Betracht haben ziehen können. Die Krankheiten scheint man in diesem Haus sehr leichtfertig hingenommen zu haben. Mir scheint, dass Jeanne Proust wie eine Pubertierende bockt, da sie nicht einmal einen Arzt an sich heranlassen möchte.
Und unmöglich, sie dazu zu bringen, ein Medikament zu nehmen oder etwas zu essen. (…) Immerhin geht es seit gestern etwas besser, nur ganz geringfügig, doch der Arzt (sofern Mama seine Besuche zulässt), versichert uns, dass Mama, sollte sie die Krise überwinden, wieder zu ihrer alten Gesundheit zurückfinden wird. Mir fällt es schwer, das zu glauben. (…) Ich habe mir immer gewünscht, nach ihr zu sterben, damit ihr der Schmerz erspart bliebe, mich zu verlieren. (Ebd)

Marcel Proust hat sich durch seine eigene schwere Erkrankung bereits in jungen Jahren mit Leben und Tod befasst. Sein Wunsch, nach seiner geliebten Mama zu sterben, um ihr den Trauerschmerz zu ersparen, ist sehr außergewöhnlich. Aber der Sohn erkennt ohnehin, dass sein Leben ohne seine Mutter ebenso qualvoll empfunden werden kann, besonders, weil er auch bis zum Schluss eine enge Bindung zu ihr gehalten hatte, obwohl er mittlerweile durch und durch zu einem erwachsenen Mann herangewachsen ist. Es war seine Mutter, die ihn an kranken Tagen am meisten versorgt hatte.
Aber ich weiß nicht, ob ihre Angst bei dem Gedanken, vielleicht von uns zu gehen, mich, der ich so unfähig dazu bin, allein im Leben zurückzulassen, oder vielleicht eingeschränkter, gebrechlicher noch weiterzuleben, ihr vielleicht noch größere Qualen bereitet. (433)

Die Mutter überlebt die Krankheit bedauerlicherweise nicht und stirbt mit 56 Jahren an den Folgen ihres Leidens. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Wie Marcel Proust am selben Tag an Robert de Billy schreibt, (…) war seine Mutter an einer Urämie (...) erkrankt. Sie stirbt knapp zwei Wochen später, am 26. September, in Paris. (432)

Telefongespräch mit Anne 
Wir haben nicht nur aber hauptsächlich über Prousts kranke Mutter gesprochen. Anne nannte sie die sture Kranke, passte zu meiner Interpretation die bockige Pubertierende. Jeanne Proust nahm ihr Leiden zu leichtfertig hin, was sie letztlich in den Tod führte. Sie hätte mit zeitiger und richtiger medizinischer Behandlung genesen können. Anne und ich sind neugierig, wie Marcel nun sein Leben fortsetzen wird, nachdem seine wichtigste Bezugsperson nur noch auf dem Friedhof zu finden sei. Wir haben uns beide daran erinnert, wie sehr Prousts Erkrankung von den Eltern auch auf die leichte Schulter genommen wurde, mit dem Vorwurf, er würde seine Leiden zu arg hochspielen. Anne zeigte sich betroffen darüber, dass die Mutter zwei Wochen lang die Nahrung verweigert hatte und hat versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Wie ist das, zwei Wochen lang nichts zu essen und nichts zu trinken?, war ihre Frage. Als gesunder Mensch ist das auch schwer vorstellbar. 

Auch sprachen wir über die intellektuellen Gespräche, die Proust mit seinen Briefpartner*innen weiterhin führte. Probleme zeigten sich wiederholt mit Robert de Montesquiou, und lässt sich darüber in einem Brief an Maurice Duplay aus. Montesquiou hatte Marcel ein Fragment aus seinem neuen Buch vorgelesen. Montesquiou bat Proust, sieben Personen seiner Wahl für eine Lesung einzuladen. In einem Brief hatte Proust gebeten, noch weitere Personen hinzuzufügen, mitunter auch Maurice Duplay einzuladen, wies der Schriftsteller ab, da dies den Charakter seiner Lesung verändern würde. (426f). Uns beiden, Anne und mir, wird dieser Montesquiou immer unsympathischer. Siehe auch letzte Briefe, letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es nächstes Wochenende auf den Seiten von 434 – 447.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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Sonntag, 15. März 2020

Der kranke Marcel Proust und die Enttäuschung zu seinen Mitmenschen

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 412 bis 422 

Endlich gibt es mal wieder Ausschnitte aus dem Buch, die ich gerne festhalten und herausschreiben möchte, auch wenn es seit den letzten zwanzig Seiten immer wieder um Prousts chronische asthmatische Atemerkrankung geht, die seine Lebensqualität richtig einschränkt, sodass auch sein gesellschaftliches Leben in Mitleidenschaft gerät. Mich und Anne hat erstaunt, dass seine schwere Erkrankung selbst bei seinen Freunden nicht für voll genommen wird. Wenn schon die Eltern die Erkrankung nicht ernstnehmen, wie sollen das Fremde tun? Neben seiner Erkrankung leidet Proust seelisch massiv an der Reaktionen seiner Mitmenschen, wenn er krankheitsbedingt Lesungen oder andere intellektuelle Veranstaltungen absagen muss, und stattdessen das Bett hüten muss.

An Robert de Montesquiou
April 1905, hier ist Proust 33 Jahre alt

Der Schriftsteller Montesquiou ist mit Proust sehr nah. Wir vermuten, dass zwischen ihnen beiden auch ein sexuelles Verhältnis besteht, siehe Textstelle weiter unten. Proust ist erbost, dass Montesquiou kein Verständnis für seine eingeschränkte Lebensform hat erübrigen können. Mancher Federzug stimmte uns schon sehr betroffen, wie folgende Zeilen, in der Proust die katholische Kirche anprangert, die Krankheit als Folge einer schweren Sünde begriffen hatte:
Sie sind, Monsieur, grausamer als die grausamsten katholischen Theologen, die uns erklärten, dass wir unsere Krankheiten als Strafe für unsere Verfehlungen anzusehen hätten. Sie verlangen, dass wir die Krankheit selbst schon als eine Verfehlung betrachten und dass wir nicht nur physisch unter unseren Beschwerden leiden, sondern ihretwegen auch ein schlechtes Gewissen haben sollen, und dass diese Leiden, wiewohl unvermeidlich und schon schmerzlich genug, auch noch schuldhaft seien. Ich gestehe, dass in Ihrem Brief auch etwas steht, an das ich mich zwinge, nicht zu denken (…). Ich weiß sehr wohl, dass es einer Reihe von Leuten rechtens vorkäme, wenn man mich das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekäme, nur weil ich an diesem oder jenem Tag krank und zu nichts in der Lage bin, und die andernfalls sagen: >Sieh einer an, wenn´s darum geht, sich zu amüsieren, sind Sie ganz gut beieinander. < Aber, dass Sie mir fast dasselbe sagen und dabei nicht bedenken, dass ich, wenn ich denn für die Dinge, die mir die größte Freude bereiten, gesundwerden könnte, das schmerzt mich sehr.
Der Schriftsteller hatte Lesungen gehalten, an denen Proust nicht teilnehmen konnte, was den Freund narzisstisch gekränkt haben muss. Die Traurigkeit Prousts:
Wann werde ich dem Menschen begegnen, der für mein wirkliches Leben, für meine innersten Empfindungen ein wahrhaftes Verständnis aufbringt und der, nachdem er mir angesehen hat, wie ich, da ich leidend war, das größte Vergnügen versäumte, mich eine Stunde danach (…) in den banalsten aller Gesellschaften erblickt, auf mich zutritt und in aller Aufrichtigkeit sagt: >Was für ein Glück, dass Ihr Anfall vorüber ist!< (413)
Proust vermisst die seelische Fürsorge besonders bei seinem Freund.
Sie können sich nicht vorstellen, welch nervliche Erschöpfung den Kranken befällt, der sich von jemandem, den er liebt, falsch beurteilt fühlt und der spürt, wie seine harmlosesten Ablenkungen gegen ihn ausgelegt werden. (414)

An Geneviève Straus
Ende April 1905

Proust spricht sich bei der Freundin Genevière Straus über seine Enttäuschung mit Montesqiuou aus.
Ich bin vollkommen erschlagen von Montesquoius Briefen. Jedes Mal, wenn er einen Vortrag hält, ein Fest gibt (…), will er nicht einsehen, dass ich krank bin, und vorher gibt es Mahnungen, Drohungen, Besuche von Yturri, der mich wecken lässt, und nachher Vorwürfe, weil ich nicht gekommen bin.
Die Eitelkeit der Künstler, die keine Ausnahmen, nicht mal durch eine ernste Erkrankung, zulassen kann. Mangelndes Verständnis, mangelnde Empathie, weil die eigenen Interessen ganz oben stehen. Was hat Proust denn nur für Freunde?, so fragen wir uns.
Ich glaube, man könnte noch genesen, wenn nur >die anderen< nicht wären. Aber die Erschöpfung, zu der sie uns treiben, die Ohnmacht, ihnen die Leiden begreiflich zu machen, die manchmal einen Monat lang die Folge der Unvorsichtigkeiten sind, die man begeht, um das zu tun, was sie für ein Vergnügen halten, all das ist der Tod.
Ich persönlich finde das Lesen dieser Zeilen psychisch betrachtet recht anstrengend, denn ich stelle mir diesen kranken Proust vor, der permanent herausgefordert wird, sich bzw. seine Erkrankung zu erklären. Schwierig, gesund zu werden, wenn einem das Umfeld in einer destruktiven Form permanent herausfordert.

Auf der Seite 417 bringt Proust ein kritisches Liebes-Dichtvers von Sainte-Beuve und überträgt ihn auf die Situation mit seinem Partner Montesquiou:
Das Erschreckende ist, dass man hieran ersieht, wie egoistisch die Liebe ist. Sobald der Liebhaber tot ist, ist alles vorbei, da man ja nichts mehr von ihm zu erwarten hat (was im Übrigen nicht für alle gilt.)
Hier habe ich mit Proust mitgetrauert. Die Enttäuschung, sich von liebenden Menschen verstoßen zu fühlen, weil diese nicht bereit sind, die ernste Lage des anderen zu begreifen. Hierbei scheint Montesquious Selbstliebe größer zu sein als die Liebe zu seinem Partner. 

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich dieselben Zitate angestrichen, die ich mir herausgeschrieben habe. Auch, weil sie so eindeutig sind. Sie war ebenso wie ich von der Verständnislosigkeit von Prousts Mitmenschen erstaunt, die man aber auch auf die heutige Zeit übertragen könne. Auch bei uns werden bestimmte chronische Erkrankungen wie z. B. Adipositas oder psychische Behinderungen nicht für voll genommen. Bezogen auf Proust dachten wir, dass er sich ein neues Umfeld suchen müsse, was wohl nicht so einfach zu bewerkstelligen sei. Freunde finden, die beides in sich tragen; Intellektualismus und Empathie.

Weiter geht es nächstes Wochenende mit den Seiten von 423 - 434
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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

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Dienstag, 30. Juli 2019

Proust und die Dreyfusaffäre

Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werde, haben Anne und ich ein wenig vorgearbeitet und die nächsten zehn/elf Seiten vorgezogen.


Seite 217 – 228  

Auf den nächsten Seiten gibt es nicht so viel, was ich aufschreiben möchte. Proust hatte wieder einen Asthmaanfall, schreibt darüber an seine Mutter, später lädt er literarische Freunde zu einer Dinnerparty ein, und in einem anderen Brief schreibt er über die Dreyfusaffäre. 

Und die Wogen zwischen Reynaldo Hahn und Marcel Proust scheinen sich wieder geglättet zu haben. 


An Jeanne Proust
September 1896

Proust schreibt einen Brief an seine Mutter, die sich auf Reisen befindet. Marcel erlitt wieder einen Asthmaanfall, war dadurch auf eine Rauchinhalation angewiesen. Zur Beruhigung muss er sonst nach der Inhalation Baldrian und Amylnitrit eingenommen haben, wie aus dem Brief hervorgeht, während er dieses Mal auch ohne diese Präparate ausgekommen sei. Baldrian ist als ein pflanzliches Beruhigungsmittel bekannt und Amylnitrit ist ein Antidepressivum. Das würde auch zu Prousts Erkrankung passen, denn so eine Atemnot ist eine existenzielle Bedrohung, und man zu jedem Anfall den Tod vor Augen haben muss. Ich kenne jemanden aus der Familie mit ähnlicher Symptomatik. Er schreibt, dass er diesmal mit Natron und Kräutertee ausgekommen sei und auf die anderen Medikamente verzichten konnte.

Aber es sind auch literarische Gespräche, und so teilt er der Mutter mit, dass er in einer privaten Leihbibliothek namens Cabinet de lecture den Briefband zwischen Schiller und Goethe bestellt hätte, sowie auch einen Band von Flaubert, der über die Bretagne geschrieben hat. Dieses Buch Über Felder und Strände: Eine Reise in die Bretagne ist auch ins Deutsche übersetzt.
Er schreibt: (…) das heißt, unter so viel Schätzen, die sie nicht besitzen, haben sie mir wenigstens das geschickt. Du siehst, das Sursum hat nicht nachgelassen. Und das, wenn Dein Sohn in einem erträglichen Gesundheitszustand, ohne Beschäftigung (…) ganz sich selbst überlassen würde, ich spreche nicht von der Arbeit, denn wenn ich auch nicht sagen kann, ich hätte wieder an meinem Roman gearbeitet in dem Sinne, dass ich von ihm absorbiert worden wäre und ihn in Gänze konzipiert hätte, so ist doch das Heft seit dem Tag, an dem ich es gekauft habe (…) und das nicht alles darstellt, was ich gemacht habe, da ich vorher auf losen Blättern gearbeitet habe – so ist doch dieses Heft nun zu Ende, und es zählt 110 große Seiten), nach einer gewissen Zeit gebildeter als die Gebildeten wäre.

Man kann aus diesem Schreiben herauslesen, dass Proust es nun geschafft hat, das Schriftstellern als Beruf zu betrachten. Das hat mich sehr gefreut, dass er dabei sehr wahrscheinlich auch von seiner Mutter unterstützt wird. Von dem Vater liest man leider nichts mehr.

Aber dass Proust durch seine Erkrankung an seiner Arbeit gehindert wird, geht deutlich aus dem Brief hervor. Aber er zeigt auch auf, dass er nicht ganz untätig geblieben ist. Stolze 110 große Seiten während der Krankschreibung ist schon enorm, wenn man auch bedenkt, dass Proust, um zu regenerieren, auch viel Schlaf benötigt hat, wie man aus dem Brief entnehmen kann. Er hat dadurch noch einen zusätzlichen enormen Zeitverlust hinnehmen müssen.

Er grüßt seine Mutter mit Dein kleiner Marcel.

25 Jahre ist Marcel alt, und scheinbar macht er sich nicht nur vor seinem Geliebten so klein, sondern auch vor seiner Mutter. Vielleicht wurde er von der Mutter stark bemuttert, weil er von Kind auf schon sehr kränklich war.

An Alfred Franklin
Januar 1897

Alfred Franklin ist der Administrator der Mazarine - Bibliothek, in der Proust im Ehrenamt eingestellt ist. Auch hier bekundet er Ausfallzeiten, doch Franklin geht damit Proust gegenüber wohlwollend um. Er bittet um Verlängerung seiner Beurlaubung, da er noch immer mit seinem Studium beschäftigt sei. Wahrscheinlich ist sein Philosophiestudium noch gar nicht abgeschlossen, und er die Bibliothek für seine Studien gerne nutzen möchte.
Die derzeitige Richtung meines Studiums hat mir, mehr noch als mein Gesundheitszustand, die Verlängerung meiner Beurlaubung, um die ich im Ministerium nachgesucht habe, zur Notwendigkeit gemacht. Da man mir hat ausrichten lassen, dass dieser Verlängerung stattgegeben worden sei, glaubte ich mich nicht nur im Recht, als ich nicht in die Mazarine zurückkehrte, sondern fürchtete auch, den guten Gepflogenheiten zuwiderzuhandeln, wenn ich während meiner Beurlaubung die Bibliothek beträte: In der Tat hätte ich häufig den starken Wunsch, dort wie jeder andere Leser arbeiten zu können. Ich fürchte, Sie könnten es als einen Mangel an Takt und Zurückhaltung auslegen, wenn ein beurlaubter Angestellter sich frei in der Bibliothek bewegt.

Außerdem schreibt er, dass er sich freuen würde, seine Kollegen und seine Vorgesetzte wiederzusehen, deren Liebeswürdigkeit er so sehr schätzen würde. Aber wenn jemand beurlaubt ist, wieso ist es ein Problem, sich auf der Dienststelle zu zeigen? Anders wäre es, sich während einer Krankschreibung in die Öffentlichkeit zu begeben.

Aber der Brief zeigt, wie gewissenhaft Proust seiner Arbeit gegenüber als Angestellter ist. Aber was bedeutet in Frankreich Ehrenamt? Hier in Deutschland erhalten ehrenamtliche Mitarbeiter*innen kein Gehalt, das wird in Frankreich sehr wahrscheinlich anders gehandhabt, denn Proust musste hier eine schwere Aufnahmeprüfung bestehen, um aufgenommen zu werden. Das muss also eine Anstellung sein, die mehr als ein unbezahltes Ehrenamt ist.

An Robert de Montesquiou
Mai 1897

Und wieder ein Brief an einen Schriftstellerkollegen. Hatten wir nun länger nicht. Proust hat Monsieur France und Montesquiou kurzfristig zum Diner eingeladen. Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust über dieses Abendessen einen Bericht in der Gaulois verfasst hatte, der am 25.Mai 1897 publiziert wurde. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
>Ein höchst literarisches und elegantes Diner fand gestern Abend bei Marcel Proust statt, der erstmals seine zahlreichen Freunde zusammenführte. (…)<. Es sei ein schönes Abendessen gewesen, hieß es weiter, >bei dem pariserischer Geist und Witz nur so perlte<.

Die Fußnote zählt acht Gäste mit einem anschließenden >>usw<<. Ich könnte mir schon eine ganze intellektuelle Gesellschaft vorstellen. Unter den Gästen befand sich auch Reynaldo Hahn. Auch Robert de Montesquiou hatte die kurzfristige Einladung angenommen. Doch Damen waren hier nicht vertreten.
Ich lade keine Damen ein, und wir werden nur ganz wenige sein, denn so bin ich nicht gezwungen, sehr enge Freunde einzuladen, die auf keinen Fall auf einige meiner Gäste treffen dürften.

Das hatte politische Gründe, denn 1897 ging in Frankreich der Antisemitismus los und wie aus der Fußnote zu entnehmen ist, geht es hier um die Dreyfusaffäre, die in Frankreich begonnen hatte, und sie die französische Gesellschaft und auch Prousts Freunde zu spalten begonnen hatte.

Die Dreyfusaffäre hatte Proust auch in seiner Recherche sehr ausführlich behandelt.

Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus, 1859-1935, wurde 1894 zu Unrecht auf die Teufelsinsel verbannt. Man hatte ihm Spionage für das Deutsche Reich vorgeworfen, weshalb er wegen Landesverrat verurteilt wurde. Emile Zola hatte sich für den zu Unrecht Inhaftierten eingesetzt und veranlasste eine Petition, zu der es dazu eine lange Unterschriftenliste gibt. Weitere Details sind dem Brief zu entnehmen.

Laut Wikipedia liegt die Teufelsinsel 13 km vor der Küste von Französisch-Guayana in Südamerika.

Nun muss auch Proust seine Haltung zu Dreyfus zeigen, womit er in den letzten Briefen sich eher herausgehalten hatte. Aber mittlerweile zeigt er Partei für Dreyfus, beteiligt sich an der Unterschriftenliste, die Zolas Petition mitbeigefügt wird. 

Telefongespräch mit Anne
Anne sind dieselben Briefe ins Auge gefallen wie auch mir. Anne hat Prousts Liebenswürdigkeit berührt und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten. Auch die Verniedlichung, Dein kleiner Marcel, konnte sich auch Anne damit erklären, dass Proust von der Mutter von klein auf, weil er so krank war, ein wenig verhätschelt wurde.

Anne und mir machen die Briefe immer noch große Freude, wir haben nicht ein Wochenende ausfallen lassen. Wir fühlen uns beide von Proust stark bereichert.

Nächstes Wochenende geht es weiter von Seite 228 bis 239.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 21. Juli 2019

Ein Mann schenkt einem anderen Mann Liebesblumen - ein peinlicher Zwischenfall

Seite 194 - 207   

Auf den folgenden Seiten erfährt man, dass es in Prousts Familie zwei Todesfälle gab.
Auch spricht Proust von seinem Buch, das er geschrieben hat, und das uns hier in Deutschland unbekannt ist. Dieses Buch ist sogar von seiner Mutter wohlwollend aufgenommen worden, was heißen könnte, dass sie mittlerweile ihren Schriftstellersohn akzeptiert hat. Und es geht hier auch wieder um eine Konfliktklärung, die Proust mit dem Dichter Robert de Montesquiou wiederholt pflegt.

An Robert de Montesquiou
April 1896

Montesquiou publizierte Hortensias blue am 27. Mai 1896. Proust, der sehr für die Gedichte seines Freundes zu haben ist, schickte ihm als eine nette Geste passend zu dem Gedicht einen Strauß Hortensien, die Montesquiou nicht erfreut hatte, wie man aus dem Zitat unten entnehmen kann, da es unüblich ist, einem Mann Blumen zu schenken. Proust hat darauf sehr gekränkt reagiert, was zeigt, wie sensibel er ist. Ihm sind seine Mitmenschen nicht gleichgültig. Und es ist ihm nicht gleichgültig, was sie über ihn denken.
Was mich schmerzt und von Ihrer Seite so sehr verwundert hat, ist nun Folgendes: Ich habe mich Ihnen gegenüber immer so liebenswürdig, wie es mir nur möglich war, erwiesen, und so lästig, so unangenehm ich sein mag, so müssen Sie doch die Vorzüglichkeit und den feurigen Eifer meiner guten Absichten Ihnen gegenüber anerkennen. (197)

Proust hinterfragt sich selbst. Im Postskriptum schreibt er:
Warum ist man zu liebenswürdig? Kann man überhaupt zu liebenswürdig sein? Ihre feinen Unterscheidungen und vor allem Ihre Verärgerungen sind mir unbegreiflich. Ich brauche dringend eine Lektion von Ihnen und habe größte Lust darauf, ich meine damit eine Erklärung und nicht, dass Sie mir >eine Lektion< erteilen in dem Sinne, in dem Ihre Äußerung gegenüber Madame Lamaire (Künstlerin, Anm. d. Verf.) hinsichtlich der Hortensien eine für mich war.

Anscheinend hat Montesquiou hinter Prousts Rücken abgelästert, und Proust es über Dritte erfahren hatte. Für den armen Proust eine peinliche Situation, wie ich mir vorstellen kann. Genaueres ist laut der Fußnote aber nicht eruierbar. Anne hat diese Szene auch als Klatsch und Tratsch aufgefasst.

An Laure Hayman
Mai 1896

Im nächsten Brief, der am 11.Mai 1896 an Laure Hayman geht, ist zu entnehmen, dass Prousts Onkel Louis Weil am 10.Mai 1896 im Alter von achtzig Jahren an einer Lungenfellentzündung verstorben ist. Laure Hayman hatte eine hohe Meinung von diesem Onkel, aber weshalb sie nicht an der Beerdigung teilgenommen hat, geht aus den Briefen nicht hervor. Allerdings hat sie Proust ihr Bedauern schriftlich niedergelegt.

Laure Hayman ist eine Geliebte des Verstorbenen gewesen.

Am 10. Juni 1896 verstarb der Großvater Nathé Weil im Alter von 82 Jahren. Nathé Weil ist der Vater von Madame Prousts. Prousts Mutter hatte der Tod ihres Vaters seelisch mitgenommen. Und so schreibt er an Reynaldo Hahn:
Mama geht es leidlich. Sie scheint ihren immensen Kummer mit mehr Kraft zu bewältigen, als ich zu hoffen wagte. (206)

An Robert de Montesquiou
19. Mai 1896

In diesem Schreiben geht es um den Antisemitismus. Laut der Fußnote spielt Proust auf eine Diskussion über Emile Zola an, der im Figaro wiederholt Stellung gegen antisemitische Vorurteile nimmt. Montesquiou, der die Artikel selbst auch gelesen haben muss, möchte zu der Judenfrage gerne Prousts Meinung hören, da sich Proust bisher zu dieser Thematik eher bedeckt gehalten hat. Er begründet seine Zurückhaltung folgendermaßen:
Ich habe Ihnen gestern nicht auf Ihre Frage nach meiner Meinung zu den Juden geantwortet. Und dies aus einem ganz einfachen Grund: Ich bin, wie mein Vater und mein Bruder, katholisch, meine Mutter hingegen ist Jüdin. Sie werden verstehen, dass dies für mich ein hinreichend triftiger Grund ist, mich aus derartigen Diskussionen herauszuhalten. (200)

Ich selbst dachte auch erst, dass Proust Jude ist. Dies hatte ich aus vielen Literaturforen entnommen.

Der nächste Brief geht an Reynaldo Hahn.
Juli 1896, Proust ist hier, am 10. Juli, 25 Jahre alt geworden

Reynaldo Hahn befindet sich auf Deutschland Reisen und besucht seine Schwester in Hamburg. Wie ich in der letzten Besprechung schon mitgeteilt habe, ist, dass Hahns Vater deutscher ist. Obwohl Proust hier wieder die förmliche Anrede gebraucht, spürt man an dem Brief, wie nah er Hahn ist und der Brief glauben lässt, dass die beiden ein Paar sind, was aber eher nur angedeutet wird.
Ich wäre glücklich, wenn Sie, ohne erneut die Mühen einer Reise auf sich zu nehmen, noch ein wenig Ihr >liebes Deutschland< genießen könnten, (…). Anders als die Lemaire bin ich all den Orten, an denen wir nicht zusammen sein können, keinesfalls feindlich gesinnt. Und entzückt, dass Sie Ihren Frieden haben. Ich wünsche, dass Sie dort solange wie möglich bleiben können, und ich schwöre Ihnen, dass ich, sollten die raren Momente, in denen ich die Lust verspüre, den Zug nehmen, um Sie gleich wiederzusehen, sich häufen und unerträglich werden, Sie darum bitten würde, zurückzukommen oder selbst kommen zu dürfen. (203)

Hahn scheint mit der räumlichen Distanz keine Probleme zu haben, während Proust emotional anders gestrickt zu sein scheint. Dabei erinnere ich mich an die Szene zurück, wo Proust in der Bibliothek Mazarine sich in einer Aufnahmeprüfung befindet, und er zwischendrin den Saal verlassen musste, um noch schnell seinem Freund zu telegrafieren.
Aber das ist eine unwahrscheinliche Hypothese. Bleiben Sie, solange Sie sich dort wohl fühlen. Bedenken Sie mich nur von Zeit zu Zeit in Ihren Briefen – nichts davon was mosch wäre, nichts davon gesehen -, denn wenn Sie es von Zeit zu Zeit auch sagten. Und ich bin – ohne Selbstverleugnung – glücklich, dass Sie bleiben. Aber ich werde auch sehr glücklich sein, ach, mein Liebster, sehr sehr glücklich, wenn ich Sie wieder umarmen darf, Sie, der Sie mir mit Mama der liebste Mensch auf der Welt sind. (Ebd.)

Ich hatte schon letztes Mal geschrieben, dass Hahn nach Prousts Mutter der wichtigste Mensch für ihn ist. Aber nein, ich hatte untertrieben; Proust stellt Hahn auf dieselbe Stufe, auf die er seine Mutter gestellt hat. Darauf kann sich Hahn wirklich etwas einbilden. Irgendwie klingt das einerseits recht rührend, andererseits aber auch recht naiv, und zeigt, dass Proust mit seinen 25 Jahren sich emotional nicht wirklich von seiner Mutter hat lösen können. Ob Hahn diese Art von emotionaler Ebene angenehm ist? Proust scheint sehr bemüht zu sein, es seinem Freund recht zu machen, ihn mit seiner seelischen Abhängigkeit nicht zu verärgern.
Aber ganz rasch noch (ich gebe mir Mühe, Ihnen nicht zu schreiben, was Sie verärgern oder verstimmen könnte, da es nicht in meiner Macht steht, Sie aus der Ferne mit tausenderlei Nettigkeiten eines Ponys zu besänftigen, die ich für Ihre Rückkehr aufbewahre). (Ebd.)

Weshalb Proust den letzten Absatz in eine Klammer gesetzt hat, ist mir nicht ganz klar. Kurze Begriffsklärung zu Mosch, siehe obiges Zitat.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass mosch in Prousts und Hahns Idiolekt ein Synonym für Homosexualität darstellt, angelehnt an méchant, böse, und mosche, hässlich. Homosexuell zu sein ist in einer geächteten Gesellschaft etwas Hässliches, etwas Böses, etwas widernatürlich Abstoßendes.

Dass die beiden eine Geheimsprache sprechen, hatten Anne und ich schon vermutet.

Telefongespräch mit Anne
Anne hatte sich die Frage gestellt, ob Proust parallel zu Hahn nicht auch noch zu Montesquiou eine sexuelle Beziehung gepflegt hat? Eine berechtigte Frage, aber darauf werden wir wohl kaum eine Antwort bekommen. Aber ich denke schon, dass Proust viel ausprobiert hat, siehe unten.

Merkwürdig fanden wir beide, dass die Beziehung zu Prousts Freunden die Anrede in den Briefen förmlich geblieben ist. Vielleicht, um die Homosexualität zu tarnen. Es war allerdings damals nicht mal üblich, die Eltern zu duzen. Aber muss man sich in den Briefen verstecken?
Hängen geblieben sind Anne und ich auch an dem Brief, der Montesquiou bestimmt war. Wie ist es für einen Mann, der von einem anderen Mann einen Strauß Blumen geschenkt bekommt? Angenehm erfreut war der Dichter darüber nicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Es scheint, als würde Proust häufig mit seinem offenen Herzen ins Fettnäpfchen treten, weshalb er in dem Brief an Hahn so sehr vorsichtig war, ihn mit seiner Emotionalität nicht einzuengen.
Vielleicht hatte Proust keine Berührungsängste, seinem Freund Blumen zukommen zu lassen, da dieser so viele Gedichte über Blumen verfasst hat. 

Traurig waren wir auch über den Tod des Großvaters Nathé Weil, da wir nun keine an ihn gerichteten Briefe mehr zu lesen bekommen. Der Großvater schien für Proust häufig ein Ausgleich zwischen sich und seinen Eltern gewesen zu sein.

Geredet haben wir auch über den zweiten Band, der über 1000 Seiten umfasst. Briefe, die bis zu Prousts Tod reichen. Wir sind neugierig, wie er sich im späteren erwachsenen Alter noch entpuppen wird. Auch wenn die Antwortbriefe ausbleiben, nehmen wir wie ein roter Faden doch an seiner persönlichen Entwicklung teil.  

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 207 – 2017.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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