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Montag, 2. September 2019

Politische Ansichten und neues Schreibprojekt

Weiter geht es mit den Proust - Briefen von Seite 260 bis 271. 

Auf den folgenden elf Seiten geht es um Freundschaft, um Politik, und um den  beruflichen Werdegang.

Die ersten Zeilen des ersten Briefes an die Mutter brachten mich zum Lachen ...

An Jeanne Proust
Oktober 1899
Ma chére petite Maman,von Mitternacht bis eine Viertelstunde nach Mitternacht habe ich vor Deiner Tür Wache gestanden und gehört, wie Papa, sich schnäuzte, nicht aber, dass er Zeitung las, sodass ich es nicht gewagt habe, einzutreten. (260)

Diese Szene erinnerte mich nämlich an den kleinen fiktiven Marcel aus der Recherche von BD 1 als er zu fortgeschrittener Abendstunde von der Mutter ohne einen Gutenachtkuss ins Bett geschickt wurde, da die Familie Proust Gäste hatte ... Der kleine Marcel konnte nicht einschlafen und hoffte insgeheim, seine Mutter würde doch noch in sein Zimmer kommen, um ihm den ersehnten Gutenachtkuss zu geben. Die Mutter kam aber nicht. Also stieg der Marcel aus seinem Bett und stellte sich an das Treppengeländer und lauschte, ob die Gäste nicht endlich gegangen waren. Aber sie waren noch da. Er ging wieder zurück ins Bett, er konnte aber nicht schlafen, obwohl es schon sehr spät war.
Der Abend war mittlerweile schon um und die Nacht längst eingebrochen, als die Gäste sich von ihren Gastgeber*innen verabschiedet hatten. Marcel lauschte in seinem Bett noch immer mit seinen großen Kinderohren, und er hörte, als die Eltern endlich die Treppen hochgelaufen kamen, um selbst auch ins Bett zu gehen. Marcel rief daraufhin seine Mutter, um schließlich doch noch zu seinem Gutenachtkuss zu kommen. Die Eltern sind überrascht, dass der kleine Kerl noch nicht eingeschlafen ist. Als die Mutter schließlich nach ihm schauen wollte, war es der Vater, der sie zurückhielt, um den Sohn nicht zu arg zu verweichlichen. Somit gingen die Eltern zu Bett, ohne Marcel einen Gutenachtkuss verpasst zu haben.

Dieses Lauschen finde ich so phänomenal, dass Proust vor verschlossener Türe sehr genau bestimmen konnte, was die Eltern im Bett so alles trieben. Doch er hätte auch anklopfen können …

Es gibt neue Berufspläne. Auf die Anregung seiner Mutter probiert sich Proust für die nächsten fünf Jahre als Übersetzer aus. Als Schriftsteller scheint er finanziell auf keinen grünen Zweig zu kommen, obwohl er nichts anderes tut als schreiben. Er ist gezwungen, seine Romanprojekte erst mal einzustellen. Übersetzen möchte er die Werke von John Ruskin. John Ruskin ist ein britischer Schriftsteller, der 1819 – 1900 in England gelebt hat. Zudem war er auch Kunsthistoriker und Sozialphilosoph. Übersetzen wollte Proust Die sieben Leuchtern; im Original, The seven Lamps of Architecture. Proust interessiert sich für die Studien, die Ruski über die französischen Kathedralen betrieben haben soll. In der Nationalbibliothek findet er Teile von Ruskins Buch in französischer Übersetzung vor.

Aus der Fußnote geht hervor:
Das Resultat dieser Arbeit allerdings ist, dass Proust das Romanprojekt endgültig fallen lässt und sich stattdessen, ermutigt und unterstützt von seiner Mutter, die nächsten fünf Jahre seinen beiden Ruskin-Übersetzungen widmen wird. (268)

In dem Brief an die Mutter bittet er sie um Übersetzungshilfen und gibt dazu gewisse Anweisungen vor.

Wie aus den nachfolgenden Briefen hervorgeht, wirkt Proust auf mich von seinem Gemüt her ein wenig gedrückt. Wiederholt macht er auf seine Erkrankungen aufmerksam, die ihn dermaßen schwächen würden, dass er keine Kraft findet, weiter zu schreiben. Andererseits zeigt er aber auch Probleme mit seinen Schriftstücken, weil er zwar viel ausprobiert hat, aber nichts fertigstellen konnte.

Der nächste Brief wird wieder politisch, die Dreyfusaffäre scheint trotz Begnadigung in der französischen Gesellschaft noch nicht ausgestanden zu sein.

An Pierre d`Orleans
November 1899
Mon cher ami,ich habe Ihnen nicht früher geantwortet, weil ich ziemlich schwer erkrankt war. Sie fragten mich, ob sich all das Schlechte und Gute, das ich im Regiment (1889/1890, Anm. d. Verf.) versprach, bewahrheitet habe. Zwei Dinge zumindest haben sich nicht geändert. Meine Gesundheit hat sich nach und nach bis ins Unerträgliche verschlechtert, und Tage, an denen ich nicht leide, sind eine große Seltenheit. (261)

Pierre d´Orleans muss ein alter Freund aus dem Militärdienst gewesen sein. Viele junge Männer, Rekruten, verachten das strenge Klima in der Wehrmacht, anders Proust, der vorgibt, sich dort wohlgefühlt zu haben. Weiter schreibt er:
Das Gefühl der Zuneigung, das ich jedem einzelnen meiner Vorgesetzten, die so gut zu mir waren, entgegenbringe, empfinde ich auf abstrakte Weise für die ganze Armee. Im Laufe meiner geistigen Entwicklung bin ich nach und nach dahin gekommen, sie als die Lebensform zu betrachten, für die ich die meisten Sympathien aufbringe. Ich bedauere, dass meine Gesundheit mir nicht gestattet hat, in der Armee zu bleiben. (262)

Mich wundert, wie vielen Leuten Proust schon seine stärkste Sympathie bekundet hatte. Meint er auch, was er so schreibt?
Und wenn ich höre, wie sie (die Armee, M. P.) auf dumme und hässliche Weise angegriffen wird, erfüllt mich das mit Zorn und Trauer. (Ebd.) 

Auch von diesem Freund wird Proust mit der Dreyfussaffäre konfrontiert, in welcher Beziehung er zu dieser stehen würde. Proust bekennt sich schließlich ehrlich zu Dreyfus, wo er sich anfangs eher mit seiner Meinung zurückhielt.
Nein, in der Affäre (ich spreche nicht von dem, was um die Affäre herum eine Rolle gespielt hat, vom Militarismus oder Antimilitarismus, Antiklerikalismus usw., denn noch einmal: mir [sic!] graut vor dem Antimilitarismus wie vor dem Antiklerikalismus), in der Justiz-Affäre, war und bin ich Dreyfusard, ich glaube an Dreyfus`Unschuld, ich bewundere die Selbstlosigkeit von Oberst Picquart.

Oberst Marie Georges Picquart, siehe strammstehender General auf dem Gemälde oben, war als französischer Offizier und Kriegsminister bekannt. Außerdem war er Dozent an der Kriegsakademie. Alfred Dreyfus war ein Schüler von ihm. In der Dreyfusaffäre war er Dreyfus-Gegner, später aber, als er Beweise zu dem wahren Täter findet, setzt er sich für die Unschuld Dreyfus´ein, was bei seinen Vorgesetzten nicht gern gesehen wird, und Picquart mit harten Konsequenzen rechnen musste.

Der Spiegel schreibt dazu:
Im März 1896 entdeckt der neue Geheimdienstchef, Oberstleutnant Georges Picquart, bei Überarbeitung des Dreyfus-Dossiers etwas Sensationelles: Die Fetzen eines nicht abgeschickten Telegramms, das als "petit bleu" in die Geschichte eingehen wird. Absender ist der deutsche Militärattaché Schwartzkoppen, Empfänger ein Major im französischen Generalstab namens Charles Ferdinand Walsin-Esterhàzy.Und Picquart entdeckt weiter: Die Handschrift Esterhàzys ist deckungsgleich mit der Handschrift auf dem "bordereau". Doch der Generalstabschef de Boisdeffre will davon nichts hören,Picquart wird als Regimentskommandeur nach Tunesien abgeschoben. Er hatte ursprünglich wie fast alle Militärs an die Schuld des Hauptmanns Dreyfus geglaubt, doch jetzt weiß er: Esterhàzy ist der Täter. Er gelobt: "Ich werde dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen." Und er duelliert sich mit Henry.Inzwischen ist ein Verfahren gegen Esterhàzy in Gang gekommen. Ein Militärgericht spricht ihn unter großem Applaus des Publikums frei, obwohl er einen üblen Ruf als Spieler, Börsenspekulant und Bordellbesitzer hat. Für die Rechtspresse ist er ein "Opfer der Juden".Jedoch, im selben Jahr 1898 werden einige der Fälschungen des Oberst Henry entdeckt, der gesteht und wird verhaftet. Im Gefängnis wird er mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Drumonts "Libre Parole" ruft zu Spenden für seine Witwe auf. 25 000 Franzosen zeichnen, unter ihnen 1000 Offiziere und 300 Priester. Die gewaltigste publizistische Bombe der Affäre explodiert am 13. Januar 1898: In der Tageszeitung "L'Aurore" schleudert der Schriftsteller Emile Zola seinen berühmten "Offenen Brief an den Präsidenten der Republik" in die Welt. Schlagzeile des sechsspaltig aufgemachten Artikels: "J'accuse" (Ich klage an). Es ist nach den Worten eines französischen Politikers "der größte revolutionäre Akt des Jahrhunderts". (Spiegel-Online, Juli 2006)

Proust sorgt sich, dass man ihn wegen seiner politischen Meinung ablehnen könnte und bittet seinen Freund um Loyalität und Toleranz.
Und wie kann ein mir unerklärliches Phänomen der Massenpsychologie, die uns doch dabei helfen soll, bislang geheimnisumwitterte Epochen zu verstehen, bewirken, dass man sehr wohl verschiedener Meinung in Dingen der Religion, der Moral, der Kunst, der Politik sein kann, ohne dabei die Freundschaft zu opfern, aber eine unterschiedliche Auffassung von der Schuld eines Menschen – die eine Frage der Tatsachen und keine prinzipielle Frage ist – zu einem unüberwindlichen Hindernis in den Herzen wird. Dies allein hat das Antlitz der ganzen Gesellschaft verändert, es ist das einzige Zeichen, die einzige Parole, mit der man sich zu erkennen gibt, die die Menschen vereint oder trennt. (263)

Wie recht er hat. Allerdings denke ich gerade über unsere aktuelle politische Lage nach, da bei uns immer mehr Wähler rechts wählen. Von Protestwählern kann keine Rede mehr sein. Ich könnte mit keinem rechten Wähler befreundet sein, der die demokratischen Grundwerte verstößt und Menschen ablehnt, die nicht in deren Menschenbild zu passen scheint. Da ist Proust doch zu wenig wählerisch, und hinterlässt bei mir den Eindruck, bei jeden beliebt und akzeptiert sein zu wollen. Wie kann ich mit einem Menschen befreundet sein wollen, der das Ziel hat, einem anderen Menschen schaden zu wollen? Die Mitglieder einer rechten Partei gaben in unserem Land vor ein paar Jahren öffentlich zu bekennen, sie würden sogar Flüchtlingskinder an der deutschen  Grenze abknallen ... Wie sehr die Dreyfusaffäre die Französische Gesellschaft spaltet, zeigt Proust an folgendem Gedanken:
Ist ein ruhmreicher General Dreyfusard, wird er von der Aristokratie verstoßen, ist ein Priester Dreyfusard, beschimpfen ihn die Katholiken. Ist hingegen ein Zivilist ein Dreyfus-Gegner, so gereicht ihm das schon zu einer Art von militärischer Ruhmestat; gibt sich ein Radikaler als Dreyfus-Gegner zu erkennen, wird er von allen Klerikalen gewählt, ist ein Jude Dreyfus-Gegner, genießt er den Schutz der Antisemiten (…). Das ist es, und es gibt nichts anderes mehr als das. >Ist man´s oder ist man´s nicht, das ist hier die Frage. < (263f)

An Marie Nordlinger
Dezember 1899

Marie Nordlinger ist uns aus den letzten Briefen bekannt. Sie ist eine deutsche Cousine von Reynold Hahn, und die Proust hilft, Ruskin zu übersetzen. Sie ist Jahrgang 1876, also fünf Jahre jünger als Proust, und lebte bis 1961. Sie pendelt häufig zwischen Frankreich und Deutschland.

Proust macht wieder großzügig Komplimente, beklagt, dass Marie Nordlinger aktuell nicht in Paris weilt, wenn er schreibt:
… und was für ein Jammer, dass wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, als sie hier waren, und ich nur so wenig von Ihnen gehabt habe. Denn Briefe wie derjenige, mit dem Sie mich letzthin beehrt haben, rufen etwas ganz anderes als Dankbarkeit hervor, nämlich wahre Sympathie. (266)

Wieder sehr glamourös und wohlwollend ausgedrückt. Wer würde hier nicht weich werden? Weitere Lobpreisungen, auf die ich wegen der Überlänge nicht eingehen möchte, sind dem Brief zu entnehmen.
Und die Sympathie verlangt nach dem Umgang mit den Menschen und begnügt sich nicht mit der reinen Vorstellung. Sie ist nicht so weise wie Sie, wenn Sie sagen: >Ich weiß nicht, ob ich Freunde unter den Lebenden habe.<

Proust moniert, dass M. N. nicht einmal die Bücher als Freunde betrachten könne. Dazu schreibt er: 
Mit Büchern als Freunden gibt sie sich nicht zufrieden. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen scheinbar widerspreche. Sie selbst geben mir diese anspruchsvollere und weniger leicht zu befriedigende Sympathie ein, die, hervorgerufen durch ihre schöne Sprache und Ihre ausgesuchte Zuvorkommenheit, es nicht bei sich selbst belässt, sondern sich auf ihre Person richtet. (Ebd.)

Später schreibt er weiter, dass er selbst aufgrund seiner Erkrankungen zu schwach sei fürs Schreiben, und dass sogar seine Fantasie darunter zu leiden habe. Hier wirkt Marcel depressiv, ein so junger Mensch, der sich ständig mit seinen Krankheiten durchzuschlagen hat, und er dadurch stark am Schreiben gehindert wird.
Ich arbeite schon seit Langem an einem Werk, das einen sehr langen Atem erfordert, habe aber nichts fertiggestellt. 

Aus der Fußnote geht hervor, dass mit dem noch unvollendeten Werk Jean Santeiul gemeint sein könnte. Dafür gebraucht Proust ein wunderschönes Bild, in dem er alle seine unvollendeten Schriften eher als Ruinen betrachtet. Entlehnt ist dieses Gleichnis einem Roman Middlemarch, geschrieben von Georg Eliots. (266)
Seit ungefähr zwei Wochen beschäftige ich mich mit einer kleinen Arbeit, die vollkommen anders ist als das, was ich normalerweise treibe, einer Arbeit über Ruskin und bestimmte Kathedralen. Wenn es mir, wie ich hoffe, gelingt, sie in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, werde ich sie Ihnen gleich nach Erscheinen schicken. Hätte ich etwas anderes veröffentlicht, hätte ich es Ihnen geschickt, aber bislang habe ich nur meine Schubladen vollgestopft. (267)

An Marie Nordlinger
Kurz nach dem 21. Januar 1900

Und dennoch hat diese Übersetzungsarbeit auch einen Haken, so berichtet Proust darüber.
Hat Reynaldo Ihnen gesagt, dass dieser böse Ruskin verboten hat, seine Werke ins Französische zu übersetzen, sodass meine bescheidenen Übertragungen unveröffentlicht bleiben werden? Aber in den Studien, die ich über ihn schreibe, werde ich lange Auszüge daraus anführen. (269)

Abwarten, ich bin gespannt, wie sich diese Arbeit noch entwickeln wird, denn wie aus der Fußnote hervorgeht, stirbt Ruskin am 21 Januar 1900 im Alter von 81 Jahren an einer Influenza.

An Marie Nordlinger
Anfang Februar 1900

Wie ich in meinen Recherchen im Internet entnehmen konnte, wird es Marie Nordlinger sein, die ihm später bei den Übersetzungsarbeiten von Ruskins Studien weiterhin behilflich sein wird. Diese Hilfe wird auch schon im nächsten Brief vom Februar 1900 deutlich. Marie Nordlinger habe ihm diverse Zeitungsartikel und Skripte von Ruskin zukommen lassen. Weitere Details sind dem Brief im Buch zu entnehmen.


Meine Gedanken zu Proust

Diese Briefe haben mich innerlich so ziemlich aufgewühlt. Proust hat mein Mitgefühl, weil ich diese Art von Schreibstress sehr gut selbst kenne. Ehemals hatte auch ich viel ausprobiert, bis ich ganz aufgehört hatte, literarische Texte zu verfassen, weil mich dieser Druck innerlich so penetrant genervt hatte. Immerhin hat Proust mit seiner siebenbändigen Recherche ein Lebenswerk geschaffen, das ihm so schnell keiner nachmachen kann. Erfolglos war er nicht. Nur lebt es sich in einer Gesellschaft einfacher, wenn man für sein Einkommen selbstständig aufkommt, ohne von anderen abhängig zu sein. Zu viele Ideen im Kopf, zu viele Gefühle in der Seele, diese können einen richtig ausbremsen. Erst recht, wenn man wie Proust mit noch verschiedenen Erkrankungen fertig werden muss. Deshalb bin ich auf seine weitere Entwicklung gespannt. Und es ist schön, zu wissen, dass er eine verständige Mutter hat, die zu ihrem Sohn steht und ihn weitestgehend zu unterstützen bereit ist.

Ich erinnere mich an das letzte Telefonat mit Anne, als wir darüber gesprochen hatten, dass Proust in seinem Alter noch von den Mitteln der Eltern abhängig ist. Und in diesen Briefen an die Mutter und an die Freundin Marie Nordlinger finden wir die Antwort darauf. Proust ist einerseits wirklich zu krank, um in Ruhe arbeiten zu können, und andererseits ist er dermaßen produktiv, dass er von zu vielen Schreibideen sich selber zu blockieren scheint. Leistungsstress ist ein Killer, ein Krafträuber, der führt im schlimmsten Fall zu einem physischen und geistigem Burn-out. Ich hoffe, dass Proust mit seinem Supertalent noch auf seine Kosten kommen wird, in der Form, dass er vom Schreiben zu leben in der Lage ist.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat mir von einem Erlebnis mit ihrer Freundin berichtet, die eine sehr komplizierte politische Meinung hätte, die häufig recht diskriminierend ausländischen Menschen gegenüber wäre. Sehr undifferenziert, sehr verallgemeinernd, sodass Anne irgendwann die Freundschaft lösen musste, weil die politische Haltung der Freundin immer extremer wurde. Als Anne diese Szene zwischen Proust und Pierre d`Orleans gelesen hatte, musste sie sich an diese Freundin zurückerinnern und hinterfragte ihr Verhalten. Nein, ich finde, dass Anne sich der Freundin gegenüber richtig verhalten hat, meine Meinung dazu habe ich oben schon geäußert. Proust ist, ich wiederhole, einfach zu wenig wählerisch. Politisch betrachtet konnte mir Anne zustimmen, auch sie fand einen Zusammenhang zwischen den politischen Problemen heute und denen aus Prousts Zeiten. Einen oder mehreren Menschen Schaden zu fügen, ist eine Gesinnung, die ich niemals unterstützen würde. 

Und was Prousts Schreiben betrifft, so wurde es auch für Anne durch diese Briefe deutlich, weshalb er vom davon einfach nicht leben konnte.

Und meine persönlichen Gedanken, die ich zu Proust geschrieben habe, fand Anne sehr interessant. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 271 – 280.
_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 25. August 2019

Proust und seine Abhängigkeit zur Mutter

Weiter geht es mit den Proust - Briefen 
Seite 250 bis 259.

Auf den folgenden Seiten ist Anne und mir aufgefallen, wie sehr der erwachsene Proust, mittlerweile Ende zwanzig, von der Mutter seelisch und aber auch in finanzieller Hinsicht abhängig ist. Außerdem ist er nicht in der Lage, banale Alltagsentscheidungen selber zu treffen. In Prousts Alter sind viele Menschen mit der Familiengründung beschäftigt, viele besitzen sogar schon eine Familie und die ohne Familie leben außerhalb des Elternhauses ein autonomes Leben. Marcel hängt symbolisch betrachtet noch am Rockzipfel seiner Mutter, so wirkt er auf mich.

Ja, und dann ist da noch der Vater, der Prousts Atemwegserkrankung für reine Einbildung hält ... Der Vater scheint nicht so viel Verständnis zu haben, wie die Mutter es hat. Prousts schwere Erkrankung als eine Einbildung abzutun, das wäre verglichen mit der Fürsorge seiner Mutter das andere Extrem. Dem Vater, der von Beruf Arzt ist, scheint die Erkrankung mittlerweile kalt zu lassen... 

Zu gut die Mutter, zu streng der Vater? Aber ist es denn falsch, ein Kind, das aus der Kinderstube entwachsen ist, noch zu lieben so wie es ist? Schön fand ich den Vergleich, den Proust mit der Wärme von Sonnenstrahlen macht. Er bezeichnet diese Art von Wärme nämlich als mütterlich, siehe Zitat unten. Und neben der Atemwegserkrankung leidet Proust auch unter Gelenkschmerzen an der Hand.

An Jeanne Proust
September 1899, Proust ist hier 28 Jahre alt

Proust befindet sich in einem Hotel, macht einen Erholungsurlaub in Evian-les-Bains, am Genfer See. Da die Mutter sehr krank war, verbrachte auch sie hier ihren Urlaub, um sich zu regenerieren. Sie reist aber früher ab als der Sohn.

Proust schreibt seiner Mutter einen sehr langen Brief. Er schien wieder recht nahe an einem Asthmaanfall gelegen zu haben und meldet der Mutter den Krankenbericht. Proust wollte erst zusammen mit seinen beiden Freunden nach einer Abendgesellschaft mit einem Automobil wieder zurück ins Hotel fahren. Die ersten Autos waren damals nicht abgedichtet, sie waren ohne Überdachung. Demzufolge waren es offene Autos, und alles andere als windgeschützt und so konnte Proust nicht mitfahren, sonst würde er einen neuen Anfall riskieren. Proust weiß, dass die Fahrt mit einem Automobil für ihn lebensbedrohlich ist, weshalb er schließlich sich für die Zugfahrt entschieden hatte. Nur seine beiden Freunde nehmen ihm das nicht ab.
Da es bei unserer Ankunft in Genf kühler wurde und Wind aufkam, habe ich gedacht, dass eine Fahrt im Automobil von Genf nach Evian einen Anfall heraufbeschwören könnte, und mich von beiden in Genf verabschiedete, wo ich zu Abend gegessen habe und dann den Zug nahm. Und bei dieser Gelegenheit: Da sie mich mit dem Automobil zurückbringen wollten, sagte Constantin, ich würde mir nur einbilden, dass mir die frische Luft nicht bekäme, denn Papa sage jedermann, es fehle mir nichts und mein Asthma beruhe auf reine Einbildung. (…) Ich schreibe dir sehr unleserlich, weil ich, ganz entzückt und getröstet ob des wunderbaren Sonnenscheins, auf einer Bank sitze und auf den Knien schreibe, ganz umhüllt und strahlend von dieser wohltuenden Wärme, die ich fast schon mütterlich nennen würde, wenn die Abwesenheit meiner Mama mich den Unterschied und die Unangemessenheit des Ausdrucks nicht so stark empfinden ließ.

Zudem schreibt er, dass er aus dem Brief seiner Mutter erfahren habe, dass Dreyfus begnadigt wurde. Darüber habe ich schon in der letzten Besprechung geschrieben.

Proust bittet seine Mutter um Hilfe, denn er weiß nicht, wie viel Trinkgeld er dem Zimmerservice zukommen lassen soll. Diese Haltung hat mich und Anne sehr verwundert.
Wenn du mir sagen möchtest, was ich dem Zimmermädchen geben soll, reicht es nicht mehr, mir zu schreiben, Du musst es mir umgehend telegraphieren. Ich werde schon verstehen, dass es um sie handelt. Ich habe nicht mehr den Anflug von Schmerzen im Handgelenk. Aber sag es nicht weiter. Ich will die Schmerzen für unangenehme Briefe noch ausnutzen.

Was mag er wohl damit gemeint haben, er wolle die Schmerzen am Handgelenk für unangenehme Briefe noch ausnutzen? Hat er doch etwas Manipulatives seinen Mitmenschen gegenüber?

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Schmerzen am Handgelenk vom vielen Schreiben herrühren.

Weiter erfährt man, dass Proust auch ein Wohltäter gewesen sein muss, da er einem mittellosen Sohn eines Dachdeckers namens Poupetiere finanziell unterstützt hatte, und er seine Freude darüber der Mutter indirekt bekundet hatte, und bezeichnet diese Tat als das größte Glück.
Was Poupetiere angeht, so habe ich nicht mehr die Zeit, Dir meine Freude auszudrücken. >Das größte Glück bleibt stumm.< (253)

Das größte Glück bleibt stumm. Finde ich wieder ein sehr weiser Gedanke. Vielleicht muss man ja auch nicht immer über alles sprechen, obwohl es Proust schwerfällt, nicht zu sprechen. Er schreibt selbst an seine Mutter, dass er das Herz auf der Zunge tragen würde.

An Jeanne Proust
Ende September 1899

Auf der nächsten Seite schreibt Proust erneut seiner Mutter. Noch immer befindet er sich im Kurort. Proust hat von der Mutter 300 France zugeschickt bekommen. Er zieht Bilanz, rechnet minutiös der Mutter vor, was er davon ausgegeben hatte. Für was er das Geld eingesetzt hat, ist in Details den Briefen zu entnehmen.

Weiter schreibt er:
Als ich dir gesagt habe, dass ich jeden Tag auf diese Weise abrechnen wolle, glaubte ich, das Hotel schließe erst am 15., sodass es einfach nur darum ging, Dir zu zeigen, was ich ausgebe und Deine Zustimmung oder Kritik zu erhalten.

Proust bittet die Mutter weiterhin um Geld, diesmal in Form eines Schecks. Hier kann ich durchaus verstehen, dass er der Mutter vorrechnet, was er mit dem Geld von 300 Francs angestellt hat. Aber auch an dieser Stelle wirkt er im Umgang mit dem Scheck recht hilflos. Außerdem schuldet Proust seinem Freund Reynaldo 200 Francs, sowie noch anderen Leuten.
Schicke mir mit Deinem Brief einen Scheck, damit ich ihn unterzeichnen (nenn mir noch die Formulierung) und an Reynaldo schicken kann (ich kümmere mich darum) (Ich werde ihn von hier aus abschicken), damit er die 200 Francs einlösen kann, die ich ihm schulde, und ich werde ihn beauftragen, von dem Rest meine anderen Gläubiger zu bezahlen. Da ich ihn um eine Frist bis zum 1. Oktober gebeten habe, wäre ich froh, wenn ich den Termin genau einhalten könnte, um nicht wie ein Dauerschuldner dazustehen; und wenn ich nicht so in Bedrängnis geraten wäre, bevor ich Dir schrieb, hätte ich das schon früher getan. Wenn meine Unterschrift nicht nötig ist, kannst du den Scheck selbst einlösen, ich schreibe Dir dann, wie das Geld aufgeteilt werden muss. (257)

Es zeigt auch Prousts finanzielle Lage, dass er mit Ende zwanzig noch immer von seinen Eltern abhängig ist, wobei ich gar nicht weiß, wie sich der Vater dazu äußert. Wie denkt er darüber, dass sein Sohn Geld benötigt, um von seinen Schulden runterkommen? Ich könnte mir vorstellen, dass er ein Problem damit hat. Denn Marcel hat seine Mutter um Geld gebeten und nicht den Vater. Ich habe schon lange keinen Brief mehr an den Vater gelesen ... Aber es zeigt, dass Proust alleine mit seinem schriftstellerischen Talent seinen Lebensunterhalt nicht zu bestreiten imstande ist.

So, das waren für uns die wichtigsten Ereignisse aus den Briefen an die Mutter.

Ich bin wie jedes Wochenende auch auf die nächsten Briefe gespannt. Es geht weiter von 260-271.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns über Prousts Atemwegserkrankung ausgetauscht, da der Vater die Erkrankung als Einbildung abgetan haben soll, und das noch vor Prousts Freunden, was ich sehr anmaßend fand. Anne ist der Meinung, dass die Erkrankung zu Prousts Zeiten noch unerforscht gewesen sein muss. Ja, das stimmt wohl, aber jeder, der einen Asthmatiker in seinem Anfall erlebt hat, der weiß, wie lebensbedrohlich das sein kann, wenn einem die Luft wegbleibt. Wo war der Vater, als der Sohn immer wieder einen Anfall erlitten hat? Man konnte sicher damals nicht verstehen, dass jemand von der Luft, die jedes Lebewesen eigentlich zum Atmen benötigt, ersticken kann. Aber der Vater kann nicht immer abwesend gewesen sein. Er muss gesehen haben, wie sehr sein Sohn um Luft ringen musste. Das sind schreckliche, dramatische Szenen. 

Dass Proust ein Wohltäter gewesen sein soll, passt nicht ganz so, da er den Menschen nicht mit seinem Geld beschenkt hat, sondern mit dem Geld der Mutter, so Anne. Und wir fragten uns, ob das Geld nicht dem Vater gehört, da zu der damaligen Zeit alles dem Mann gehört hat, auch die Mitgift seiner Frau. Deshalb können wir noch gar nicht sagen, wie der Vater darauf reagiert, wenn dem Sohn ständig Geld zugesteckt wird. Ist die Mutter diejenige, die sich ihrem Mann gegenüber zu widersetzen weiß, oder aber sie beschenkt den Sohn ohne ihren Mann davon in Kenntnis gesetzt zu haben. Wir wissen es nicht. Wir können uns nur auf das berufen, was uns an Informationen durch die Briefe vorgelegt wird.

Aber wir sind beide gespannt. Wie wird es Marcel denn erst ergehen, wenn die Mutter einmal sterben wird? Soviel ich weiß, ist die Mutter relativ früh verstorben, da war Marcel erst Anfang dreißig.

Anne und ich sind gespannt, wie es dann zukünftig mit Marcel Proust in der Familie weitergehen wird. 
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(Marcel Proust)

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Sonntag, 18. August 2019

Proust und die Dreyfusaffäre

Seite 240 - 249  

Wieder jede Menge literarische Gespräche, auch über Bücher, die in Serien in Zeitungen gedruckt werden. Proust zeigt sich seinen Schriftstellerkollegen wieder von der besten Seite. Er verhält sich ihnen gegenüber sehr wohlwollend und wertschätzend.

Mit Anne hatte ich schon gestern Abend telefoniert, und so erzählte sie mir, dass sie zwei Textpassagen aus den Briefen herausgeschrieben hat, die ich nun hier im Folgenden zusammen mit ihren Gedanken in der Besprechung hineinkopieren werde.

Annes Eindrücke, die ihr besonders wichtig sind in der brieflichen Auseinandersetzung zwischen Proust und seinen Schriftstellerkollegen Henri de Regnier und Constantin de Brancovan

"An Henri de Regnier
Samstag, 5. August 1899
… Nun, das ist nur ein Vorwand, der mir erlaubt, Ihnen zu sagen, dass die, La Double Maitresse' die wunderbare und köstliche Gefährtin meiner Tage ist. Tage, an denen eine ,dringende Aktualität' die Veröffentlichung hinausschiebt, sind verlorene Tage. Ich glaube, wegen meines so lebhaften konstanten Vergnügens an allem, was Sie schreiben, wegen der andauernden Lust, Sie zu lesen, die mit jeder Seite Befriedigung erfährt und gemehrt wird (,O Sehnsucht, alter Baum, dem die Lust als Rinde dient'), gehöre ich zu denen, welchen die Veröffentlichung den größten Genuss bereitet.

>>Es war so schön zu lesen, wie neidlos Proust die Arbeit des Kollegen würdigt. <<

>>Ja, da stimme ich dir voll zu, liebe Anne. Proust ist wirklich ein sehr, sehr netter Zeitgenosse gegenüber seinen Mitmenschen gewesen.<<

"An Constantin de Brancovan
Samstagabend, 19. August 1899
Mon cher Prince,
soeben habe ich diesen bezaubernden und unleserlichen Brief erhalten. Sie wissen, dass das, was Sie schreiben, die Mühe lohnt, gelesen zu werden, und Ihnen liegt daran, dass man sich diese Mühe macht. Sie sind der Mallarmé der Schrift. Im Grunde handelt es sich dabei um eine zusätzliche Nettigkeit, denn so sorgen Sie dafür, dass ich mehr Zeit mit Ihrem Brief verbringe, als wenn er leicht zu lesen wäre. Da ein Brief wie ein Besuch ist, ist ein schwer entzifferbarer Brief wie ein langer Besuch. Die Ihren sagen: Ich komme nicht nur auf einen Augenblick, ich bleibe den ganzen Tag. Ich habe ihn damit verbracht, Ihren Brief zu lesen, und er ist mir teuer geworden aufgrund der Mühe, die er mir gemacht hat. Aber dessen bedurfte es gar nicht, um ihn zu lieben, und das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen, statt dieser albernen Witzeleien..."

>>Ich liebe es, über das Lesen oder Schreiben zu lesen. Als ich diesen Brief gelesen habe, sah ich mich in einer Kemenate sitzen, an einem Holztisch, nur mit einer Kerze als Lichtquelle.<<

Ja, Anne, das kann ich mir sehr gut bei dir vorstellen. Eine weitere schöne Textstelle hast du herausgesucht, auf die ich auch eingegangen wäre. Nun bin ich aber froh, dass du mir das Abschreiben des Textes abgenommen hast. Einen Brief zu lesen und ihn mit einem Besuch gleichzusetzen finde ich einfach genial, wie tief sich Proust trotz Witzeleien mit seinen Mitmenschen befasst hat und welche Gleichnisse er immer wieder in seinem Ausdruck findet. Und noch dazu einen unleserlichen Brief. Andere würden solche Briefe in den Müll werfen.

Proust und die Dreyfusaffäre
Mich hat noch die Dreyfusaffäre beschäftigt, die außerdem nicht abgeschlossen ist und Proust sich mittlerweile deutlich zu Dreyfus bekennt. Dreyfus wurde, nachdem er erst freigesprochen war, ein zweites Mal verurteilt, zu zehn Jahren Haft. Neue Lügen machten sich politisch breit, die ihm zum Verhängnis wurden. Das Urteil wurde in einem Casino angeschlagen. In einem Gartenpavillion hört er die kleine Noallies, eine Dichterin, schluchzen, als sie die Verurteilung von Dreyfus vernimmt. Proust schreibt im September an seine Mutter.

An Jeanne Proust
September 1899, Proust ist hier 28 Jahre alt.
Als ich Constantins Gartenpavillon betrat, um dort vor dem Essen zu rauchen, hörte ich Wehklagen. Es war die kleine Noailles, (…) die von Schluchzern geschüttelt und mit erstickter Stimme hervorstieß: >Wie konnten sie das nur tun? Wie konnten sie es wagen, ihm das zu sagen, und das gegenüber dem Ausland, gegenüber der ganzen Welt, wie konnten sie nur?< Sie weinte so heftig, dass es einfach rührend war, und das hat sie in meinen Augen rehabilitiert.

In seinen Augen war die Dichterin rehabilitiert, was für ein schöner Vergleich. Scheinbar hatte er von ihr zuvor kein gutes Bild gehabt, und ihr Schluchzen um Dreyfus zeigt, dass sie ein mitfühlendes Wesen ist, ohne dass ich weiß, in welcher Verbindung sie zu dem Verurteilten stand.

An die Mutter schreibt Proust zu dem:
Sei nicht allzu traurig über das Urteil. Es ist traurig für die Armee, für Frankreich, für die Richter, die so grausam waren, einem erschöpften Dreyfus die neuerliche Anstrengung abzuverlangen, abermals Mut zu fassen. Aber diese physische Tortur, an die moralische Kraft zu appellieren, wenn jemand bereits gebrochen ist, wird die einzige sein, die er noch auszuhalten hat, und dann ist es auch schon vorbei.

Und er hatte recht. Tatsächlich wurde Dreyfus vom französischen Staatspräsident Emile Loubet begnadigt, wie aus der Fußnote hervorgeht. Emilie Loubet, * Dezember 1838, gest. Dez. 1929. Er war von 1899 bis 1906 Staatspräsident. Ein Staatspräsident, der Gutes vollbracht hat. Solche Menschen, vor allem Politiker, möchte ich hier gerne festhalten, siehe obere Abbildung.

Weiter schreibt er:
Für ihn kann alles nur noch gut ausgehen, in moralischer Hinsicht durch die Wertschätzung der Welt, in physischer Hinsicht durch die Freiheit, die man ihm zur Stunde, wie ich vermute, zurückgegeben hat. Was das Urteil selbst angeht, so wird es auf gerichtlichem Wege kassiert werden. Moralisch gesehen ist es schon passiert.  

Wie recht er hatte. Prousts Mutter hatte tiefes Mitgefühl für Dreyfus, die so wie er auch Jüdin war.

Ich habe mir eine DVD zu der Dreyfusaffäre gekauft, die ich mir aber noch nicht angeschaut habe. Vielleicht nehme ich mir das für morgen vor.

So, dies waren nun auch meine Eindrücke. Viele waren es diesmal nicht, dafür hat Anne für ein wenig Ausgleich gesorgt.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 250 bis 259.
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um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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