Dienstag, 30. Juli 2019

Proust und die Dreyfusaffäre

Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werde, haben Anne und ich ein wenig vorgearbeitet und die nächsten zehn/elf Seiten vorgezogen.


Seite 217 – 228  

Auf den nächsten Seiten gibt es nicht so viel, was ich aufschreiben möchte. Proust hatte wieder einen Asthmaanfall, schreibt darüber an seine Mutter, später lädt er literarische Freunde zu einer Dinnerparty ein, und in einem anderen Brief schreibt er über die Dreyfusaffäre. 

Und die Wogen zwischen Reynaldo Hahn und Marcel Proust scheinen sich wieder geglättet zu haben. 


An Jeanne Proust
September 1896

Proust schreibt einen Brief an seine Mutter, die sich auf Reisen befindet. Marcel erlitt wieder einen Asthmaanfall, war dadurch auf eine Rauchinhalation angewiesen. Zur Beruhigung muss er sonst nach der Inhalation Baldrian und Amylnitrit eingenommen haben, wie aus dem Brief hervorgeht, während er dieses Mal auch ohne diese Präparate ausgekommen sei. Baldrian ist als ein pflanzliches Beruhigungsmittel bekannt und Amylnitrit ist ein Antidepressivum. Das würde auch zu Prousts Erkrankung passen, denn so eine Atemnot ist eine existenzielle Bedrohung, und man zu jedem Anfall den Tod vor Augen haben muss. Ich kenne jemanden aus der Familie mit ähnlicher Symptomatik. Er schreibt, dass er diesmal mit Natron und Kräutertee ausgekommen sei und auf die anderen Medikamente verzichten konnte.

Aber es sind auch literarische Gespräche, und so teilt er der Mutter mit, dass er in einer privaten Leihbibliothek namens Cabinet de lecture den Briefband zwischen Schiller und Goethe bestellt hätte, sowie auch einen Band von Flaubert, der über die Bretagne geschrieben hat. Dieses Buch Über Felder und Strände: Eine Reise in die Bretagne ist auch ins Deutsche übersetzt.
Er schreibt: (…) das heißt, unter so viel Schätzen, die sie nicht besitzen, haben sie mir wenigstens das geschickt. Du siehst, das Sursum hat nicht nachgelassen. Und das, wenn Dein Sohn in einem erträglichen Gesundheitszustand, ohne Beschäftigung (…) ganz sich selbst überlassen würde, ich spreche nicht von der Arbeit, denn wenn ich auch nicht sagen kann, ich hätte wieder an meinem Roman gearbeitet in dem Sinne, dass ich von ihm absorbiert worden wäre und ihn in Gänze konzipiert hätte, so ist doch das Heft seit dem Tag, an dem ich es gekauft habe (…) und das nicht alles darstellt, was ich gemacht habe, da ich vorher auf losen Blättern gearbeitet habe – so ist doch dieses Heft nun zu Ende, und es zählt 110 große Seiten), nach einer gewissen Zeit gebildeter als die Gebildeten wäre.

Man kann aus diesem Schreiben herauslesen, dass Proust es nun geschafft hat, das Schriftstellern als Beruf zu betrachten. Das hat mich sehr gefreut, dass er dabei sehr wahrscheinlich auch von seiner Mutter unterstützt wird. Von dem Vater liest man leider nichts mehr.

Aber dass Proust durch seine Erkrankung an seiner Arbeit gehindert wird, geht deutlich aus dem Brief hervor. Aber er zeigt auch auf, dass er nicht ganz untätig geblieben ist. Stolze 110 große Seiten während der Krankschreibung ist schon enorm, wenn man auch bedenkt, dass Proust, um zu regenerieren, auch viel Schlaf benötigt hat, wie man aus dem Brief entnehmen kann. Er hat dadurch noch einen zusätzlichen enormen Zeitverlust hinnehmen müssen.

Er grüßt seine Mutter mit Dein kleiner Marcel.

25 Jahre ist Marcel alt, und scheinbar macht er sich nicht nur vor seinem Geliebten so klein, sondern auch vor seiner Mutter. Vielleicht wurde er von der Mutter stark bemuttert, weil er von Kind auf schon sehr kränklich war.

An Alfred Franklin
Januar 1897

Alfred Franklin ist der Administrator der Mazarine - Bibliothek, in der Proust im Ehrenamt eingestellt ist. Auch hier bekundet er Ausfallzeiten, doch Franklin geht damit Proust gegenüber wohlwollend um. Er bittet um Verlängerung seiner Beurlaubung, da er noch immer mit seinem Studium beschäftigt sei. Wahrscheinlich ist sein Philosophiestudium noch gar nicht abgeschlossen, und er die Bibliothek für seine Studien gerne nutzen möchte.
Die derzeitige Richtung meines Studiums hat mir, mehr noch als mein Gesundheitszustand, die Verlängerung meiner Beurlaubung, um die ich im Ministerium nachgesucht habe, zur Notwendigkeit gemacht. Da man mir hat ausrichten lassen, dass dieser Verlängerung stattgegeben worden sei, glaubte ich mich nicht nur im Recht, als ich nicht in die Mazarine zurückkehrte, sondern fürchtete auch, den guten Gepflogenheiten zuwiderzuhandeln, wenn ich während meiner Beurlaubung die Bibliothek beträte: In der Tat hätte ich häufig den starken Wunsch, dort wie jeder andere Leser arbeiten zu können. Ich fürchte, Sie könnten es als einen Mangel an Takt und Zurückhaltung auslegen, wenn ein beurlaubter Angestellter sich frei in der Bibliothek bewegt.

Außerdem schreibt er, dass er sich freuen würde, seine Kollegen und seine Vorgesetzte wiederzusehen, deren Liebeswürdigkeit er so sehr schätzen würde. Aber wenn jemand beurlaubt ist, wieso ist es ein Problem, sich auf der Dienststelle zu zeigen? Anders wäre es, sich während einer Krankschreibung in die Öffentlichkeit zu begeben.

Aber der Brief zeigt, wie gewissenhaft Proust seiner Arbeit gegenüber als Angestellter ist. Aber was bedeutet in Frankreich Ehrenamt? Hier in Deutschland erhalten ehrenamtliche Mitarbeiter*innen kein Gehalt, das wird in Frankreich sehr wahrscheinlich anders gehandhabt, denn Proust musste hier eine schwere Aufnahmeprüfung bestehen, um aufgenommen zu werden. Das muss also eine Anstellung sein, die mehr als ein unbezahltes Ehrenamt ist.

An Robert de Montesquiou
Mai 1897

Und wieder ein Brief an einen Schriftstellerkollegen. Hatten wir nun länger nicht. Proust hat Monsieur France und Montesquiou kurzfristig zum Diner eingeladen. Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust über dieses Abendessen einen Bericht in der Gaulois verfasst hatte, der am 25.Mai 1897 publiziert wurde. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
>Ein höchst literarisches und elegantes Diner fand gestern Abend bei Marcel Proust statt, der erstmals seine zahlreichen Freunde zusammenführte. (…)<. Es sei ein schönes Abendessen gewesen, hieß es weiter, >bei dem pariserischer Geist und Witz nur so perlte<.

Die Fußnote zählt acht Gäste mit einem anschließenden >>usw<<. Ich könnte mir schon eine ganze intellektuelle Gesellschaft vorstellen. Unter den Gästen befand sich auch Reynaldo Hahn. Auch Robert de Montesquiou hatte die kurzfristige Einladung angenommen. Doch Damen waren hier nicht vertreten.
Ich lade keine Damen ein, und wir werden nur ganz wenige sein, denn so bin ich nicht gezwungen, sehr enge Freunde einzuladen, die auf keinen Fall auf einige meiner Gäste treffen dürften.

Das hatte politische Gründe, denn 1897 ging in Frankreich der Antisemitismus los und wie aus der Fußnote zu entnehmen ist, geht es hier um die Dreyfusaffäre, die in Frankreich begonnen hatte, und sie die französische Gesellschaft und auch Prousts Freunde zu spalten begonnen hatte.

Die Dreyfusaffäre hatte Proust auch in seiner Recherche sehr ausführlich behandelt.

Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus, 1859-1935, wurde 1894 zu Unrecht auf die Teufelsinsel verbannt. Man hatte ihm Spionage für das Deutsche Reich vorgeworfen, weshalb er wegen Landesverrat verurteilt wurde. Emile Zola hatte sich für den zu Unrecht Inhaftierten eingesetzt und veranlasste eine Petition, zu der es dazu eine lange Unterschriftenliste gibt. Weitere Details sind dem Brief zu entnehmen.

Laut Wikipedia liegt die Teufelsinsel 13 km vor der Küste von Französisch-Guayana in Südamerika.

Nun muss auch Proust seine Haltung zu Dreyfus zeigen, womit er in den letzten Briefen sich eher herausgehalten hatte. Aber mittlerweile zeigt er Partei für Dreyfus, beteiligt sich an der Unterschriftenliste, die Zolas Petition mitbeigefügt wird. 

Telefongespräch mit Anne
Anne sind dieselben Briefe ins Auge gefallen wie auch mir. Anne hat Prousts Liebenswürdigkeit berührt und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten. Auch die Verniedlichung, Dein kleiner Marcel, konnte sich auch Anne damit erklären, dass Proust von der Mutter von klein auf, weil er so krank war, ein wenig verhätschelt wurde.

Anne und mir machen die Briefe immer noch große Freude, wir haben nicht ein Wochenende ausfallen lassen. Wir fühlen uns beide von Proust stark bereichert.

Nächstes Wochenende geht es weiter von Seite 228 bis 239.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 29. Juli 2019

Enttäuschte Liebe

Seite 207 – 2017  

Auf den folgenden Seiten erlebten Anne und ich Marcel Proust wieder voll in seinem Element. Schüttet sein Herz aus, bzw. wie Anne sagt, trägt er sein Herz auf der Zunge, redet allerdings um den heißen Brei, schreibt sehr ausschweifend, sodass man zwischen den Zeilen lesen muss, wobei uns beim zweiten Mal lesen seine Probleme deutlich wurden. Proust steckt in einer schweren Liebeskrise mit Reynaldo Hahn. Zwei dieser Briefe haben uns diesbezüglich beschäftigt.

In einem anderen Briefen geht es thematisch auch um Literatur, diesmal um Plagiatsvorwürfe.

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Ein sehr persönlicher Brief, trotz förmlicher Anrede. Proust ist seelisch betrachtet tief gekränkt, weil Hahn ihm versprochen haben soll, Proust alles mitzuteilen, was er auf Reisen erlebt habe.
Reynaldo, ich hatte heute eine Anwandlung schlechter Laune, Sie dürfen sich darüber nicht wundern oder mir deswegen böse sein. Sie haben mir gesagt >Ich werde Ihnen nie wieder etwas sagen.< Das wäre ein Eidesbruch, wenn es stimmen würde. Aber auch wo es nicht stimmt, ist der Schlag für mich äußerst schmerzhaft. Dass Sie mir alles sagen werden, ist seit dem 20, Juni meine Hoffnung, mein Trost, meine Stütze, mein Leben. (207)
Eigentlich klingt das ein wenig banal, gekrängt zu sein, weil der Freund sich weigert, ihm von seinen Erlebnissen zu berichten, die Hahn ohne Proust in Deutschland erfahren hat. Alles von dem Freund wissen zu wollen, haben wir als ein seelisches Klammern aufgefasst, das so viel Nähe einfordert, die für viele Menschen in dieser Weise als einengend empfinden würden. Da wir leider keinen Antwortbrief von Hahn vor uns liegen haben, müssen wir uns denken, was Proust verzweifeln lässt.
Um Ihnen keinen Kummer zu bereiten, spreche ich fast nie davon, aber um nicht selbst großen Kummer zu haben, denke ich fast immer daran. So haben Sie mir ausgerechnet das gesagt, was mich wirklich >verletzen< kann. Ich ertrüge lieber tausend Beleidigungen. Ich verdiene sie, häufiger als Sie glauben. Aber ich verdiene sie nicht in den Augenblicken schmerzlichster Anstrengungen, in denen ich, ein Gesicht ausspähend, Namen vergleichend oder eine Szene wiederherstellend, die Lücken eines Lebens zu füllen trachte, das mir teuer ist als alles andere, das mir aber Anlass zu trostloser Unruhe bleiben wird, solange mir selbst seine unschuldigsten Regionen unbekannt sind. (Ebd)
Prousts Neugier, die in Eifersucht mündet, verschafft ihm Probleme, und er selbst nicht weiß, wie er diese einzuschätzen hat.
Wenn aber meine Einbildung absurd ist, sollte man ihr nichts in den Weg legen, denn es ist die Einbildung eines Kranken. Es ist sehr boshaft, einem Kranken damit zu drohen, ihm seine Lebensflamme auszublasen, weil seine Manie ihm auf die Nerven geht.
Proust war nicht nur körperlich sehr kränklich, auch psychisch, wie er erkennt, war er nicht gesund. Selbst aus seiner Sicht neigt er zur Manie, und aus anderen Büchern habe ich entnehmen können, dass er auch unter Depressionen litt. In Fachkreisen würden man von einer bipolaren Störung sprechen.

Proust macht sich häufig klein, gibt Reynaldo dazu viel zu viel Macht. Auch in diesem Brief gibt er sich als Reynaldos Pony.

Seien Sie nachsichtig mit Ihrem Pony. Würden Sie viele Herren finden mit all den Eigenschaften, die Sie von einem Pony verlangen usw.? (208)

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Weiter geht es im nächsten Brief an Reynaldo Hahn. Allerdings spricht er in den Anfangszeilen von Freundschaft, aber wohl eher in der Form einer Redewendung. Ein paar Zeilen später spürt man die tiefe Verletzung. Egal, wie es gemeint ist, es folgen schwere Vorwürfe Hahn gegenüber:
Unsere Freundschaft hat nicht mehr das Recht, hier das Wort zu ergreifen, dafür ist sie nun nicht mehr stark genug. Aber Ihre Geschichte macht es mir zur Pflicht, nicht dabei zuzusehen, wie Sie so dumme, so bösartige und auch so feige Handlungen begehen, ohne zu ihrem eigenem Wohl den Versuch zu unternehmen, Ihr Gewissen wachzurütteln und Sie dazu zu bringen, dies, wenn schon nicht einzugestehen – denn das verbietet Ihnen Ihr Stolz -. so doch zumindest zu fühlen.
Was hat Proust so getriggert? Dass Hahn zu wenig Zeit mit ihm verbringt? Erst begibt sich der Freund ohne ihn für mehrere Monate ins Ausland, siehe letzte Briefe, und als er wieder im Land ist, verbringt er seine Zeit auf Abendveranstaltungen, statt sie alleine mit Proust zu verbringen.
Als Sie mir sagten, dass Sie zum Souper blieben, war dies nicht das erste Zeichen Ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Aber als Sie mir zwei Stunden später, nachdem wir freundlich geplaudert und Ihre musikalische Unterhaltung genossen hatten, ohne Zorn und ganz kühl sagten, dass Sie nicht mit mir nach Hause wollten, war dies der erste Beweis von Boshaftigkeit, den Sie mir gegeben haben.
Das sind schon große Vorwürfe, einem Menschen Boshaftigkeiten zu unterstellen, nur, weil Hahn seine Zeit anders verbringen möchte. Aus den nächsten Zeilen geht hervor, dass Proust sich von Hahn nicht mehr geliebt fühlt. Proust scheint als ein Hochsensibler zu Gefühlen einen großen Hang zu haben. Vieles wirkt melodramatisch, wenn er sich emotional nicht beachtet fühlt.

Aus der Fußnote geht hervor, dass diese Eifersuchtsszenen auch in der Recherche Unterwegs zu Swann eingebettet waren. Ich kann mich deutlich an mehrere Eifersuchtsszenen des fiktiven Marcels erinnern. Schon als kleiner Junge konnte er sie äußern, wenn die Mutter sich um ihre Gäste gekümmert hat, und sie den Jungen ohne Gutenachtkuss ins Bett geschickt hat. Der kleine Marcel war eifersüchtig auf die Gäste seiner Mutter.
Und wenn mir etwas Kummer bereitete, das für Sie ein wirkliches Vergnügen war wie Reviers, habe ich niemals gezaudert. Im Übrigen bereue ich nichts von dem, was ich getan habe.
Anne und ich haben uns gefragt, was er getan haben könnte? Sexuelle Annäherungen? Das sind nur Vermutungen, wissen können wir das nicht.

In der Fußzeile steht, dass Proust gemeinsam mit Hahn einen Ausflug in Reviers gemacht haben könnte. Sicherlich sind sich die beiden hier sexuell nahegekommen.

Weitere Vorwürfe dieser Art sind dem Brief zu entnehmen.

In der Abschlusszeile bezeichnet sich Proust auch in diesem Brief wieder als Hahns Pony.
Ihr kleines Pony, das nach diesem Huftritt ganz traurig und allein in den Stall zurückkehrt, als dessen Herr Sie sich einst gern bezeichneten.
Diese Vorstellung, wirklich als Bild wunderschön beschrieben, dennoch wirkt sie auf mich sehr infantil. Auf jedem Fall keine erwachsene Liebe, in der beide Partner auf Augenhöhe sich bewegen.

Weiter wirft er Hahn vor:
Fast wünsche ich mir schon, dass das Verlangen, mir Freude zu machen, nie eine Rolle bei Ihnen gespielt hat, bei Ihnen nie vorhanden war. Andernfalls müssten – wenn solche Jämmerlichkeiten, denen Sie mehr verhaftet sind, als Sie glauben, so oft die Oberhand bei Ihnen gewinnen – diese mehr Gewalt über Sie haben, als ich glaube. All das wäre nur Schwäche, Stolz und Kraftprobe. (…)
Aber an all das glaube ich nicht, ich glaube nur, dass, genauso wie ich Sie sehr viel weniger liebe, Sie mich überhaupt nicht lieben, und das, mein liebster Reynaldo, kann ich Ihnen nicht übel nehmen.

Kann man den letzten Satz ernst nehmen? Natürlich nimmt er es Reynaldo übel. Anne und ich sind auf die nächsten Briefe zwischen Proust und Hahn gespannt.

An Lucien Daudet
August 1896

Proust befand sich auf Reisen, die er unterbrechen musste, da er wieder erkrankt war. Er hat sich eine schwere Erkältung eingefangen. Ist heiser und fiebrig. Lucien schrieb Proust, um über seinen Onkel zu schreiben. Allerdings besteht der Brief aus Fragmenten, was Proust Lucien mitteilt. Auf den Seiten sind zudem literarische Themen mitabgedruckt. Proust schien zu der Zeit jede Menge Novellen geschrieben zu haben, die von einem anderen Schriftsteller plagiiert wurden. Doch hierzu Proust:
Lieber Lucien, ich gestehe Ihnen unumwunden, dass diese Wunderwerke nicht von Guillemont stammen, sondern von mir. Und ich leide, wenn ich daran denke, dass derartige Dinge unbekannt bleiben werden. Im Ernst: wollen Sie, dass wir uns bei einer angesehenen Zeitung in >Vorschlag bringen< und mit unseren >kleinen Krawatten< Geld verdienen, indem wir einmal wöchentlich ein noch >unerforschtes< Feld beackern?
Telefongespräch mit Anne
Wir hatten Mitgefühl mit diesem liebenden Marcel, dessen Forderungen nicht erwidert wurden. Und wie sehr er unter seinem Liebeskummer litt, wobei für uns nichts Tragisches passiert ist. Aber wir sind auch nicht die Verliebten und können dieses Liebesleid ganz objektiv betrachten, allerdings wird dieser Liebeskummer sehr einseitig erlebt, denn Hahn scheint gelassen seinen Weg auch ohne Proust zu gehen, was Proust schmerzlich verletzt. Da aber Reynaldo Hahn für Marcel Proust bis zu seinem Lebensende eine wichtige Person bleiben wird, bleibt es für uns noch spannend, wie sich diese Männerbeziehung noch weiter gestalten wird.

Ich stellte mir noch die Frage, wie Franz Kafka es geschafft hat, alle seine Novellen weltweit publizieren zu lassen, während Marcel Prousts Novellen unbekannt geblieben sind? Mit seinen Novellen hat er sich sein Geld verdient. Hierauf werden wir so schnell wohl keine Antwort finden. 

Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werden, lesen Anne und ich morgen nochmals zehn/elf Seiten und werden uns darüber am Dienstag austauschen. 

Die nächsten Briefe; von Seite 217 – 228.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Donnerstag, 25. Juli 2019

Gary Shteyngart / WIllkommen in Lake Success (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Fünf Wochen habe ich für dieses Buch benötigt, da ich derzeit meinen Kopf nicht freibekomme, da so viel anderes ansteht. Das ist das erste Mal, wofür ich für ein Buch so lange gebraucht habe.

Warum schreibe ich das? Hauptsächlich für mich, wenn ich diese Buchbesprechung nach einer gewissen Zeit wieder nachlesen möchte, und ich mich nicht wundern muss, weshalb mich das Buch so viel Zeit beansprucht hat.

Aber hat es wirklich nur an mir gelegen? Nein, nicht nur an mir, es hat auch etwas an dem Buch gelegen. Es war sehr zäh, hat sich gezogen, sodass die Handlung für mich nach etwa zweihundert Seiten die Glaubwürdigkeit verloren hat. Deshalb werde ich mich in dieser Besprechung kurzhalten.

Außerdem wurden viele Themen angerissen, die nicht zu Ende gedacht wurden.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung beschreibt das Leben einer Kleinfamilie namens Cohen. Barry Cohen ist etliche Jahre älter als seine Frau Seema. Seemas Eltern sind Einwanderer und kamen ursprünglich aus Indien, während sie selbst in den Staaten geboren ist und dadurch die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hat. Barry, Ende dreißig, ist Jude und seit über zwanzig Jahren in der Finanzbranche tätig. Er verwaltet Wertpapiere bis zu 2,4 Milliarden Dollar.

Seema ist Juristin und 29 Jahre alt.
Sie haben einen gemeinsamen Sohn namens Shiva. Ein langersehntes Kind, da es mit dem Kinderkriegen zuvor nicht wirklich klappen wollte, bis Seema einer künstlichen Befruchtung zugestimmt hat. 

Der kleine Shiva ist aber kein normales Kind. Es ist autistisch. Die Eltern müssen lernen, mit der Besonderheit ihres Kindes umzugehen. Aber der Autismus fordert die Eltern heraus. Eigentlich passt er nicht in das Lebensbild des Vaters, denn Barry kommt aus einer perfekten Welt, in der Schwächen nicht geduldet werden. Das Kind spürt die mangelnde Zuneigung seines Vaters und lehnt ihn vehement ab. Die Ehe der Eltern wird auf die Probe gestellt.

Seit Seema die Diagnose ihres Sohnes erfahren hatte, verbringt die junge Mutter jede freie Minute, für das Kind da zu sein. Sie nimmt alle Stränge in die Hand, organisiert eine Tagesmutter und medizinische Hilfe, in der das Kind gefördert werden kann, während Barry gar nicht wahrhaben will, dass sein Sohn autistisch ist. Dadurch, dass Seema jede freie Minute für ihr Kind investiert, so ist es Barry, der glaubt, zu kurz zu kommen.

Seema wirft ihm bedingt durch seinen Beruf Empathie- und Fantasielosigkeit vor.

Barry besitzt viele teure und anspruchsvolle Uhren.
Die Uhr schmiegt sich um sein Handgelenk wie ein Artefakt aus einem goldenen, technisch ausgereiftem Universum, und sie tat kund, was für ein Mann Barry eigentlich war. (2018, 28)
Die Probleme zu Hause hält Barry nicht aus und macht sich auf, mit einem Bus nach Richmond zu reisen, um seine alte Jugendfreundin zu finden. Doch eigentlich ist er auf der Flucht. Auf der Flucht vor seinem Sohn, vor seiner Frau, nicht zuletzt auch vor sich selbst.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Mich hat genervt, dass der Autor ein großes Geheimnis um den Autismus gemacht hat. Er hat die Erkrankung viele Seiten über umschrieben, um wahrscheinlich die Thematik spannender aufzuziehen. Aber ich glaube, dass jeder anspruchsvolle Leser*in weiß, was Autismus ist. Ich bin sehr schnell hinter seine Umschreibung gekommen.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Politisch: Die kritische Sichtweise zu Donald Trump.
Barry ist ein Trump – Gegner.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Keine

Welche Figur war mir antipathisch?
Barry aber auch seine Frau. Eigentlich fand ich alle Figuren unsympathisch, vor allem die, die in einer starken materiellen Welt gefangen sind und wenige innere Werte besitzen.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel  
Beides sehr ansprechend.

Zum Schreibkonzept
Auf den 430 Seiten ist das Buch in 13 Kapiteln gegliedert. Es gibt keinen Prolog aber einen Epilog.

Meine Meinung
Eigentlich hatte mich das Buch anfangs fasziniert. Den Klappentext fand ich ansprechend, aber die ganze Thematik hat mich irgendwann angefangen zu langweilen. Dann war mir das Bild  zwischen den Amerikaner*innen und den Migrant*innen zu einseitig und zu dick aufgetragen. Und überhaupt viel zu viele Gedanken über die Hautfarbe. Warum müssen Menschen so viel über die Hautfarbe schreiben? Es gibt dunkle Menschen. Es gibt helle Menschen. Es gibt braune Menschen … Wo ist das Problem, wenn die Menschenwelt von Natur aus bunt ist? 

Mein Fazit
Ich freue mich, dass ich nun mit dem Buch durch bin, und dass ich durchgehalten habe, ohne es vorzeitig abzubrechen.

Da dieses Buch auf Whatchareadin gelesen wurde, verlinke ich meine Besprechung mit der Leserunde.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Hat mir die Geschichte an sich gut gefallen?
Trotz guter Bewertung meinerseits, nein.
Neun von zwölf Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch:

Hier geht es zu Whatchareadins Leserunde. 

Ein herzliches Dankeschön an den Penguin Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 
________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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Sonntag, 21. Juli 2019

Ein Mann schenkt einem anderen Mann Liebesblumen - ein peinlicher Zwischenfall

Seite 194 - 207   

Auf den folgenden Seiten erfährt man, dass es in Prousts Familie zwei Todesfälle gab.
Auch spricht Proust von seinem Buch, das er geschrieben hat, und das uns hier in Deutschland unbekannt ist. Dieses Buch ist sogar von seiner Mutter wohlwollend aufgenommen worden, was heißen könnte, dass sie mittlerweile ihren Schriftstellersohn akzeptiert hat. Und es geht hier auch wieder um eine Konfliktklärung, die Proust mit dem Dichter Robert de Montesquiou wiederholt pflegt.

An Robert de Montesquiou
April 1896

Montesquiou publizierte Hortensias blue am 27. Mai 1896. Proust, der sehr für die Gedichte seines Freundes zu haben ist, schickte ihm als eine nette Geste passend zu dem Gedicht einen Strauß Hortensien, die Montesquiou nicht erfreut hatte, wie man aus dem Zitat unten entnehmen kann, da es unüblich ist, einem Mann Blumen zu schenken. Proust hat darauf sehr gekränkt reagiert, was zeigt, wie sensibel er ist. Ihm sind seine Mitmenschen nicht gleichgültig. Und es ist ihm nicht gleichgültig, was sie über ihn denken.
Was mich schmerzt und von Ihrer Seite so sehr verwundert hat, ist nun Folgendes: Ich habe mich Ihnen gegenüber immer so liebenswürdig, wie es mir nur möglich war, erwiesen, und so lästig, so unangenehm ich sein mag, so müssen Sie doch die Vorzüglichkeit und den feurigen Eifer meiner guten Absichten Ihnen gegenüber anerkennen. (197)

Proust hinterfragt sich selbst. Im Postskriptum schreibt er:
Warum ist man zu liebenswürdig? Kann man überhaupt zu liebenswürdig sein? Ihre feinen Unterscheidungen und vor allem Ihre Verärgerungen sind mir unbegreiflich. Ich brauche dringend eine Lektion von Ihnen und habe größte Lust darauf, ich meine damit eine Erklärung und nicht, dass Sie mir >eine Lektion< erteilen in dem Sinne, in dem Ihre Äußerung gegenüber Madame Lamaire (Künstlerin, Anm. d. Verf.) hinsichtlich der Hortensien eine für mich war.

Anscheinend hat Montesquiou hinter Prousts Rücken abgelästert, und Proust es über Dritte erfahren hatte. Für den armen Proust eine peinliche Situation, wie ich mir vorstellen kann. Genaueres ist laut der Fußnote aber nicht eruierbar. Anne hat diese Szene auch als Klatsch und Tratsch aufgefasst.

An Laure Hayman
Mai 1896

Im nächsten Brief, der am 11.Mai 1896 an Laure Hayman geht, ist zu entnehmen, dass Prousts Onkel Louis Weil am 10.Mai 1896 im Alter von achtzig Jahren an einer Lungenfellentzündung verstorben ist. Laure Hayman hatte eine hohe Meinung von diesem Onkel, aber weshalb sie nicht an der Beerdigung teilgenommen hat, geht aus den Briefen nicht hervor. Allerdings hat sie Proust ihr Bedauern schriftlich niedergelegt.

Laure Hayman ist eine Geliebte des Verstorbenen gewesen.

Am 10. Juni 1896 verstarb der Großvater Nathé Weil im Alter von 82 Jahren. Nathé Weil ist der Vater von Madame Prousts. Prousts Mutter hatte der Tod ihres Vaters seelisch mitgenommen. Und so schreibt er an Reynaldo Hahn:
Mama geht es leidlich. Sie scheint ihren immensen Kummer mit mehr Kraft zu bewältigen, als ich zu hoffen wagte. (206)

An Robert de Montesquiou
19. Mai 1896

In diesem Schreiben geht es um den Antisemitismus. Laut der Fußnote spielt Proust auf eine Diskussion über Emile Zola an, der im Figaro wiederholt Stellung gegen antisemitische Vorurteile nimmt. Montesquiou, der die Artikel selbst auch gelesen haben muss, möchte zu der Judenfrage gerne Prousts Meinung hören, da sich Proust bisher zu dieser Thematik eher bedeckt gehalten hat. Er begründet seine Zurückhaltung folgendermaßen:
Ich habe Ihnen gestern nicht auf Ihre Frage nach meiner Meinung zu den Juden geantwortet. Und dies aus einem ganz einfachen Grund: Ich bin, wie mein Vater und mein Bruder, katholisch, meine Mutter hingegen ist Jüdin. Sie werden verstehen, dass dies für mich ein hinreichend triftiger Grund ist, mich aus derartigen Diskussionen herauszuhalten. (200)

Ich selbst dachte auch erst, dass Proust Jude ist. Dies hatte ich aus vielen Literaturforen entnommen.

Der nächste Brief geht an Reynaldo Hahn.
Juli 1896, Proust ist hier, am 10. Juli, 25 Jahre alt geworden

Reynaldo Hahn befindet sich auf Deutschland Reisen und besucht seine Schwester in Hamburg. Wie ich in der letzten Besprechung schon mitgeteilt habe, ist, dass Hahns Vater deutscher ist. Obwohl Proust hier wieder die förmliche Anrede gebraucht, spürt man an dem Brief, wie nah er Hahn ist und der Brief glauben lässt, dass die beiden ein Paar sind, was aber eher nur angedeutet wird.
Ich wäre glücklich, wenn Sie, ohne erneut die Mühen einer Reise auf sich zu nehmen, noch ein wenig Ihr >liebes Deutschland< genießen könnten, (…). Anders als die Lemaire bin ich all den Orten, an denen wir nicht zusammen sein können, keinesfalls feindlich gesinnt. Und entzückt, dass Sie Ihren Frieden haben. Ich wünsche, dass Sie dort solange wie möglich bleiben können, und ich schwöre Ihnen, dass ich, sollten die raren Momente, in denen ich die Lust verspüre, den Zug nehmen, um Sie gleich wiederzusehen, sich häufen und unerträglich werden, Sie darum bitten würde, zurückzukommen oder selbst kommen zu dürfen. (203)

Hahn scheint mit der räumlichen Distanz keine Probleme zu haben, während Proust emotional anders gestrickt zu sein scheint. Dabei erinnere ich mich an die Szene zurück, wo Proust in der Bibliothek Mazarine sich in einer Aufnahmeprüfung befindet, und er zwischendrin den Saal verlassen musste, um noch schnell seinem Freund zu telegrafieren.
Aber das ist eine unwahrscheinliche Hypothese. Bleiben Sie, solange Sie sich dort wohl fühlen. Bedenken Sie mich nur von Zeit zu Zeit in Ihren Briefen – nichts davon was mosch wäre, nichts davon gesehen -, denn wenn Sie es von Zeit zu Zeit auch sagten. Und ich bin – ohne Selbstverleugnung – glücklich, dass Sie bleiben. Aber ich werde auch sehr glücklich sein, ach, mein Liebster, sehr sehr glücklich, wenn ich Sie wieder umarmen darf, Sie, der Sie mir mit Mama der liebste Mensch auf der Welt sind. (Ebd.)

Ich hatte schon letztes Mal geschrieben, dass Hahn nach Prousts Mutter der wichtigste Mensch für ihn ist. Aber nein, ich hatte untertrieben; Proust stellt Hahn auf dieselbe Stufe, auf die er seine Mutter gestellt hat. Darauf kann sich Hahn wirklich etwas einbilden. Irgendwie klingt das einerseits recht rührend, andererseits aber auch recht naiv, und zeigt, dass Proust mit seinen 25 Jahren sich emotional nicht wirklich von seiner Mutter hat lösen können. Ob Hahn diese Art von emotionaler Ebene angenehm ist? Proust scheint sehr bemüht zu sein, es seinem Freund recht zu machen, ihn mit seiner seelischen Abhängigkeit nicht zu verärgern.
Aber ganz rasch noch (ich gebe mir Mühe, Ihnen nicht zu schreiben, was Sie verärgern oder verstimmen könnte, da es nicht in meiner Macht steht, Sie aus der Ferne mit tausenderlei Nettigkeiten eines Ponys zu besänftigen, die ich für Ihre Rückkehr aufbewahre). (Ebd.)

Weshalb Proust den letzten Absatz in eine Klammer gesetzt hat, ist mir nicht ganz klar. Kurze Begriffsklärung zu Mosch, siehe obiges Zitat.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass mosch in Prousts und Hahns Idiolekt ein Synonym für Homosexualität darstellt, angelehnt an méchant, böse, und mosche, hässlich. Homosexuell zu sein ist in einer geächteten Gesellschaft etwas Hässliches, etwas Böses, etwas widernatürlich Abstoßendes.

Dass die beiden eine Geheimsprache sprechen, hatten Anne und ich schon vermutet.

Telefongespräch mit Anne
Anne hatte sich die Frage gestellt, ob Proust parallel zu Hahn nicht auch noch zu Montesquiou eine sexuelle Beziehung gepflegt hat? Eine berechtigte Frage, aber darauf werden wir wohl kaum eine Antwort bekommen. Aber ich denke schon, dass Proust viel ausprobiert hat, siehe unten.

Merkwürdig fanden wir beide, dass die Beziehung zu Prousts Freunden die Anrede in den Briefen förmlich geblieben ist. Vielleicht, um die Homosexualität zu tarnen. Es war allerdings damals nicht mal üblich, die Eltern zu duzen. Aber muss man sich in den Briefen verstecken?
Hängen geblieben sind Anne und ich auch an dem Brief, der Montesquiou bestimmt war. Wie ist es für einen Mann, der von einem anderen Mann einen Strauß Blumen geschenkt bekommt? Angenehm erfreut war der Dichter darüber nicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Es scheint, als würde Proust häufig mit seinem offenen Herzen ins Fettnäpfchen treten, weshalb er in dem Brief an Hahn so sehr vorsichtig war, ihn mit seiner Emotionalität nicht einzuengen.
Vielleicht hatte Proust keine Berührungsängste, seinem Freund Blumen zukommen zu lassen, da dieser so viele Gedichte über Blumen verfasst hat. 

Traurig waren wir auch über den Tod des Großvaters Nathé Weil, da wir nun keine an ihn gerichteten Briefe mehr zu lesen bekommen. Der Großvater schien für Proust häufig ein Ausgleich zwischen sich und seinen Eltern gewesen zu sein.

Geredet haben wir auch über den zweiten Band, der über 1000 Seiten umfasst. Briefe, die bis zu Prousts Tod reichen. Wir sind neugierig, wie er sich im späteren erwachsenen Alter noch entpuppen wird. Auch wenn die Antwortbriefe ausbleiben, nehmen wir wie ein roter Faden doch an seiner persönlichen Entwicklung teil.  

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 207 – 2017.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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