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Ihr Lieben,
nach der Bitte von Franziska aus den letzten Kommentaren vom 12.8.2023 im „Das Kleine Ich geht auf Reisen …“ meinen Text zur Kriegsthematik frei zu schalten, habe ich ein altes Theaterstück von mir gefunden, das ich auf meinem Blog übertragen werde. Ein Theaterstück von anno 1990.
Darin geht es peripher nicht nur um Kriege im Allgemeinen, sondern auch um die Gesellschaft, und um den einzelnen Menschen, etc.
Die Überschrift und die Verpackung sind etwas gespenstisch. Ich wollte wach rütteln und habe mir Bilder ausgedacht, die das hätten schaffen sollen.
Ich hatte damals den Tod und die Verwesung als lebenden Endprozess aufgebrochen, um damit gleichzeitig Tabuisiertes in Verbindung zu bringen. Die Sinnlosigkeit unseres Lebens sollte ausgedrückt werden, wenn so viel zerstört wird und nicht nur durch Kriege ...
Die beiden Protagonisten sind Paul und Juliane. Paul spricht unter der Erde mit Juliane über der Erde.
Das Stück besteht aus einer Eingangsszene, aus fünf weiteren Szenen im Hauptteil und aus einer Abschlussszene.
Los geht geht es nun im Vorspann mit Juliane und ihrer Freundin Simone.
Viel Interesse beim Lesen!
Eingangsszene
Juliane und Simone
Juliane holt ihr Fahrrad aus dem Keller. Als sie sich draußen darauf schwingen möchte, wird sie von einer vorbeigehenden Freundin namens Simone grüßend angehalten. Dabei wirkt Juliane recht locker und froher Laune.
Simone: Fährst Du wieder auf den Friedhof? Wie geht es deinem Paul, Juliane?
Juliane zuckt mit ihren Schultern: Nun ja, wie soll es ihm gehen? Unverändert. Er ist noch immer mit seiner Verwesung beschäftigt.
Simone: Ja, das kann ich mir vorstellen. Wie weit ist er denn?
Juliane: Noch nicht sehr weit. Er braucht länger als andere. Paul war schon immer ein sehr langsamer Mensch.
Simone: Auch in der Verwesung? Wie lange ist Paul denn tot?
Juliane: Eigentlich schon mehrere Jahre. Ich weiß nicht genau, ich habe sie nicht gezählt.
Simone: Und er quält sich trotzdem noch? Kann sich wohl kaum damit abfinden. Er war immer anders, dein Paul. Sogar im Tod sucht er noch das Leben. Er scheint mit voller Bewusstheit zu verwesen.
Juliane: Ja, er verwest philosophisch, wie du weißt.
Simone: Ich weiß. Andere sterben schneller. Und auch die Lauten sterben, die Lauten, stell' dir vor, Juliane.
Juliane: Die Lauten sterben auch. Ja, das zumindest ist beruhigend.
Simone: Die Lauten sterben und dann ist Ruhe, nach dem der Tod sie erfasst hat. Erst dann halten sie ihre Klappe und werden still. Die Lauten sterben schneller, die, mit den abgestumpften Sinnen, weil sie kein Bewusstsein besitzen. Dein Paul ist da ganz anders. Er besitzt Bewusstheit, ... und will alles ganz genau wissen. Lässt nicht locker, geht allem auf den Grund.
Juliane: So ist Paul eben.
Die beiden verabschieden sich salopp, als Juliane sich daraufhin mit dem Fahrrad auf den Weg macht und zum Friedhof fährt.
Erste Szene
Die stolze Mutter
Vor dem großen Tor des Waldfriedhofs stellt Juliane ihr Fahrrad ab und läuft zu Pauls Ruhestätte. Als sie dort angekommen ist, fängt sie zu lächeln an. Sie sieht die vielen schönen, bunten Blumen auf dem kleinen Hügel, die sie glücklich stimmen. Zudem liest sie immer wieder das Zitat von Hermann Hesse auf dem langen, breiten Grabstein, obwohl sie es schon auswendig kennt.
Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein. Ihr seid da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön! Sei nicht du selbst, sei Lügner und Feigling, so ist die Welt arm und scheint der Verbesserung bedürftig.
Juliane: Grüß' dich Paul. Wie geht es dir?
Paul: Wie schön, dass du mich mal besuchen kommst, Juliane. Ich dachte, du hättest mich vergessen.
Juliane: Wie kann ich dich vergessen, Paul? Übrigens, ich habe Simone getroffen und sie sagte, dass die Lauten schneller sterben.
Paul: Wen meint Simone mit den Lauten? Meint sie die Lauten, die laut vor Schmerzen schreien?
Juliane: Nein, sie meint die Lauten mit den stumpfen Sinnen.
Paul: Ja, dann könnte sie damit recht haben. Liebst du mich noch, Juliane?
Juliane: Ja, doch. Nur, seit du tot bist, ist es zwischen uns anders geworden. Es hat sich viel verändert seit dem.
Paul: Was hat sich verändert? Hast du etwa einen neuen Freund?, eine neue Liebe?
Juliane: Ach Paul, du scheinst dich, was die Liebe betrifft, auch im Grab nicht verändert zu haben. Du müsstest wissen, dass es Bedeutenderes gibt als das.
Paul: Als was?
Juliane: Na, du weißt schon, ... als Liebschaften.
Paul: Ich vermisse die Frauen hier unter der Erde. Grüß' sie mir.
Juliane: Glaubst du, es gibt nichts Wichtigeres auf der Welt als Liebschaften?
Paul: Grüß' sie mir. Mit Liebschaften kann man übrigens neue, kleine Erdenbürger schaffen.
Juliane schaut dabei auf Nachbars Grab.
Juliane: Ja, das kann man. Dafür benötigt man nicht einmal den Verstand, sprach sie in einem in sich gekehrten Flüsterton. Deine Nachbarin ist übrigens eine Frau, sagte sie nun erneut Paul zugewandt und deutete schwach mit ihrem Finger darauf.
Paul: Sie ist schon skelettiert. Willst du mich etwa beleidigen?
Juliane: Was hast du? Sie ist eine Kollegin von dir.
Paul: Juliane, nun beleidigst du mich nochmal. Ich bin noch nicht verwest wie sie. An mir ist noch viel Fleisch. Du kannst mich nicht mit diesem Skelett vergleichen, das nicht mal mehr ein Geschlecht besitzt.
Juliane: Du meinst, sie ist toter als du?
Paul: Erzähl' mir, Juliane, wie ist die Welt über mir?
Juliane: Auf deinem Grab wachsen sehr viele Blumen. Es ist ... , sie wird von Paul unterbrochen ...
Paul: ... Frühling? Oh, ich spüre reine Wehmut. Was ist mir der Sarg nur so eng.
Juliane: Ach, Paul, lass' uns doch ernst bleiben.
Paul: Ich bin ernst, Juliane. Zu ernst sogar. In einem engen Raum gequetscht zu sein ist nicht gerade lustig. Und außerdem, Juliane, lass' uns ruhig ein bisschen lustig sein. So wie früher, weißt du noch?
Schweigen. Nachdenken. Erinnern.
Juliane: Wie weit bist du eigentlich mit deiner Verwesung?
Paul: Ich habe ziemlich lange Fingernägel. Es ist, als würden sie weiter wachsen. Minimal zwar, aber sie wachsen. Und auch meine Haare. Sie wachsen. Es wächst im Tod an mir noch weiter, und zeigt, wie lebendig ich eigentlich noch bin. Das ist totale Magie.
Juliane: Hm.
Paul: Auch fühlt sich meine Auflösung so feucht an. Das können unmöglich meine eigenen Exkremente sein, die unbeherrscht meinen Körper verlassen. Vielleicht sind das die Exkremente von den kleinen Tierchen in mir und außerhalb von mir. Sie kriechen überall rum. Eklig.
Juliane: So viel ist der Mensch wert, Paul.
Paul: Jeder Mensch sollte Probeliegen dürfen. Und die Maden auf sich und in sich kriechen lassen und sich selbst dabei beobachten, wie er zerfällt.
Juliane: Du bist so makaber, Paul.
Paul: Ja, absolut makaber. Dermaßen makaber, dass ich heute wieder ein Jucken gespürt habe, unten, unten am Fußzeh, dann am ... ach, irgendwie juckt es mich überall und ich kann mich nicht einmal kratzen, obwohl ich lange Fingernägel besitze.
Juliane: Aber Paul, für das, dass du schon so lange tot bist, verwest du recht langsam. Dass noch so viel an dir dran ist?
Paul: Es geht nicht schneller, Juliane, es geht nicht schneller. Sag', wie sieht es aus auf der Welt? Sind die Menschen weiser und klüger geworden?
Juliane: Es gibt ein paar Weltverbesserer, die es gut meinen. Aber selbst die sterben. Die anderen Weltverbesserer, die mehr Schaden anrichten, sie scheinen sich zu vermehren und wirken schon fast unsterblich, weil es so viele von ihnen gibt.
Paul: Immer noch die, die im Parlament sitzen?
Juliane: Die meisten von ihnen, ja, aber nicht nur die. Machtbesessene gibt es überall. Auch in Familien können sie vorkommen. In Betrieben und Arbeitsstätten. Das weißt du selbst, Paul.
Paul: Aber natürlich weiß ich das, Juliane. Nur, es kommen auch neue. Es kommen neue Weltverbesserer. Es werden täglich neue Menschen geboren. Ganz kleine, neue Menschen, siehst du das denn nicht? Ein Teil von ihnen kann sehr gut ein Weltverbesserer werden und für das Wohle aller einstehen. Für das Wohle aller.
Juliane: Es ist aber nicht so leicht, wie du es dir denkst, Paul. Die Zeiten sind in dieser Beziehung die gleichen geblieben.
Paul: Wetten, dass die Mutter noch immer stolz auf ihr Kind ist?
Juliane: Oh, ja, Paul. Das ist sie. Und wie.
Paul: Aber nicht auf jedes Kind, oder?
Juliane: Ja, da hast du recht. Nicht auf jedes Kind. Ein paar projektive Sündenböcke werden schon geboren. Die muss es schließlich in der Welt auch geben. Die sind sehr wichtig, damit man ihnen fremde Fehler aufsetzen kann. Aber auf die ist niemand stolz, Paul, niemand, obwohl sie so viel Last tragen. Und dennoch glaubt fast jede Mutter, die keinen Sündenbock auf die Welt gebracht hat, dass ihr Kind etwas ganz Besonderes sei. Ein Vater ist auch auf sein Kind stolz, nur anders. Nun, dieser Stolz ist aber keineswegs besser als der Stolz der Mutter.
Paul: Und ich wette, du fragst dich immer noch, warum diese besonderen Kinder später nicht fähig seien, eine Welt zu verändern?
Juliane: Sie sind zu beschäftigt mit all' dem, was am Rande Politik und Gesellschaft fordern. Juliane denkt nach. Wenn viele dieser Kinder erwachsen sind, tun sie politisch und gesellschaftlich das, was andere auch tun.Tut die Politik Sinniges, dann verhält sich die Gesellschaft auch sinnig. Tut die Politik Unsinniges, dann tut die Gesellschaft auch Unsinniges. Nach diesen Mustern sind die Kinder erzogen worden. Deshalb können sie keine Welt verändern. Das Besondere in ihnen schläft, schlummert, ist nicht aktiviert. Die Kinder können nicht werden, was sie innerlich schon sind, sondern das, wie und was sie zu sein haben. Dafür sorgt dann schon das Bildungssystem. Darin liegt das Unglück. Die meisten Eltern durften ja auch nicht sich selbst werden.
Paul: Du meinst, sie fügen sich einem Staat ähnlich einer Ameisenmentalität? Das hatten wir doch schon. Seit Menschenbeginn. Hast du mir nichts Neues zu berichten, Juliane? Haben sie keine Träume?
Juliane: Naja, Paul die Ameisen tun kollektiv schon viel Sinniges für die Aufrechterhaltung ihres Staates, aber ohne viel nachzudenken. Sie knechten sich ein Leben lang für die Königin.
Und natürlich, klar haben haben die Menschen Träume, Paul. Was stellst du mir für eine Frage? Aber auch im Modernen wird der Mensch institutionell von sich wegerzogen. Da haben nicht mal Eltern eine Chance, das Kind in Freiheit aufwachsen zu lassen. Die Eltern sind selbst gefangen in diesem Netz, das ihnen übergestülpt wurde. Die Freiheit, ganzheitlich gefördert zu werden, damit das Kind werden kann, was es innerlich schon ist, ist nur an wenigen Privatschulen möglich.
Paul: Das heißt, noch immer zu viel Einmischung in die kindliche Seele? Dann gibt es weiterhin Gewinner und Verlierer? Existieren noch diese zwei Erziehungsschablonen?
Juliane: Noch immer, Paul, noch immer. Deshalb werden sie von den Anstalten produziert, diese ominösen Versager und diese ominösen Gewinner. Ominös deshalb, weil die Gewinner auch nicht die wahren Gewinner sind. Viele von ihnen haben keine Träume wie wir beide sie haben. Der Traum z. B. von einem Weltfrieden. Der Traum von einem gesunden Planeten für alle; für Tier und für Mensch gleichermaßen. Der Traum, Weltmensch sein zu dürfen und dafür weg von der Idee nationaler Wurzeln, die auch nur erdacht wurden, um das eigene Volk einzuschließen, während andere mit dieser Wurzeltheorie ausgeschlossen werden. Führt häufig zu einem latenten Rassismus. Doch der Traum, alle Menschen und Tiere auf unserem Planeten als unsere Verwandten zu betrachten, fehlt im Durchschnittsmenschen.
Paul: Sie haben ein anderes Verständnis von Glück als wir, Juliane.
Juliane: Ich weiß, Paul, ich weiß. Gäbe es zum Beispiel keine Kriege. Keine Kinderarbeit. Keine Kinder, die für die reichen Länder bei einem Hungerlohn Konsumgüter produzieren. Oder würden die reichen Länder aufhören, für andere Krisenländer Waffen zu produzieren, dann wären auch wir glücklicher.
Paul: Wir bereichern uns hier, damit woanders mit unseren Waffen Menschen getötet werden. Ganze Länder werden mit unseren Waffen vernichtet.
Juliane: Schon absurd, diese Tatsache. Ja, Paul, absurd ist das. Mit dem Töten werden schmutzige Geschäfte gemacht, auch wenn sie nach außen hin sauber aussehen.
Nachdenkliche Stille.
Juliane: Wir wären glücklicher, gäbe es auch den Tieren gegenüber keine Qualen mehr durch uns Menschen, dann wären auch wir glücklicher, Paul. Solange der Mensch zu wenig Gespür für sich und für seine Umwelt besitzt, werden diese Missstände hauptsächlich von den reichen Ländern stillschweigend hingenommen, solange sie selber nicht betroffen sind.
Paul: Und gäbe es nicht dieses politische Elend im eigenen Land. Die vielen Manipulationen und Lügen, dann wären auch wir glücklicher.
Juliane: Auch das, Paul, auch das. Uns kann man nicht so leicht mit Lügen abfertigen.
Paul: Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn Leute Hass, Neid, Aggressionen und Gier anderen Menschen, Tieren und Dingen gegenüber verspüren.
Juliane: Sie lieben ihre Kinder. Sie lieben ihre Familien. Sie lieben ihre Tiere. Sie lieben ihre Häuser. Sie lieben ihr Land. Und diese Werte bekommen die Kleinen vermittelt, was sie als Glück bezeichnen. Von universeller Liebe verstehen die Wenigsten etwas. Den Planeten zusammen wachsen zu lassen, statt ihn zu zerstören, das ist für uns Glück, Paul. Und das geht zusätzlich nur mit universeller Liebe.
Paul: Nicht alleine mit dem Verstand. Ich weiß Juliane. Schwierig, wenn die Empathie in den Bildungseinrichtungen nicht wirklich gefördert wird und einseitig auf die intellektuelle Bildung ausgelegt ist.
Juliane: Wir wissen aus der Geschichte, was der geschulte Intellekt alles für desaströse Taten anzurichten weiß.
Nachdenkliche Stille.
Juliane: Und durch die Übererziehung wachsen in manchen Häusern kleine Monster heran. Kleine, egoistische Monster, die süß und nett ausschauen und wenn sie groß sind, sitzen manche von ihnen, die die Gesellschaft als Gewinner bezeichnet, in einem Parlament und wollen eine Welt verändern, und denken dabei an nichts Anderes, als an die eigenen zu füllenden Taschen, die sowieso schon zum Überlaufen voll sind.
Paul: Man kommt ja nur mit vollen Taschen ins Parlament, Juliane. Vergiss das nicht. Und die Versager, Juliane? Viele von ihnen werden womöglich noch immer weggesperrt durch kriminelle Energien.
Juliane: Kriminelle Energien der Gewinner dagegen werden mittlereile von der Gesellschaft und vom Gesetz größtenteils verharmlost und geduldet.
Paul: Spielen diese kleinen Süßen noch immer Kriege? Quälen sie aus Spaß noch immer Tiere, die im Ernst sterben?
Juliane: Viele spielen immer noch Kriege. Virtuell zwar, die Seele tötet trotzdem, wenn auch zum Spaß. Da rollen die Köpfe und es schießt Blut aus allen Richtungen. Die Seele ist spielerisch mit Töten beschäftigt.
Juliane denkt nach, als sie weiter spricht. Nicht alle, doch noch zu viele, die weiterhin auch reale Tiere quälen aber nicht nur Tiere, sondern auch schwächere Kinder. Sie erfinden Lügengeschichten, um ein Kind bei einem Erwachsenen zu denunzieren, damit es bestraft wird. Und die Schadenfreude, Paul, die Schadenfreude.
Paul: Fehlende Empathie. Die Kleinen können sie nicht lernen, wenn die Großen das nicht einmal können. Sie wissen nicht, was Empathie ist.
Juliane: Das ist es, was der Planet benötigt. Empathie! Empathie! Alle! Empathie, der Weg, der zur universellen Liebe führt. Viele Wissenschaftler haben wir, aber nur wenige von ihnen konnten bisher Kriege aufhalten. Auch nicht den Hunger in der Welt stoppen. Wir brauchen Empathie, Paul. Manches Kind verspürt das unnatürliche Bedürfnis, andere zu quälen. Die Computerspiele fördern diese zusätzlich. Das Töten muss aufhören. Gewalt muss aufhören.
Paul: Ja, nun, das Kind wird selbst auch gequält, Juliane. Ständig wird an ihm rumerzogen, auch in einem Laisser-faire Modell und es muss seine eigenen gesunden Potenziale unterdrücken.
Juliane: Es weiß nicht mal, was es selbst ist, Paul. Die Seele trägt die Informationen wie ein Samen einer Pflanze verborgen mit sich. Und wer glaubt schon an die Seele? Alle Menschen bringen mit der Geburt eigene Bedürfnisse und Fähigkeiten in die Welt mit und könnten sich damit wohltuend nützlich machen, wenn diese zur Entfaltung freigesetzt werden würden, statt sie im Keim zum Ersticken zu bringen. Aber sie glauben nicht an diese Informationen, obwohl es genug Studien dazu gibt, die sie belegen.
Paul: Ich weiß, Juliane, ich weiß. Wenn die Kinder nach ihren eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten erzogen worden wären, wären sie sich selbst geworden und müssten nichts Fremdes leben. Das wäre der neue Mensch. Fragt sich nur, weshalb es so viele kluge Studien gibt, die nicht umgesetzt wurden?
Juliane: Vielleicht sind diese Studien nicht gewollt? Unwissende Menschen mit tauben Sinnen lassen sich leichter manipulieren. Es ist verständlich, dass Aggressionen entstehen, die woanders abgeladen werden müssen. Die Menschen müssen alle sich selbst werden, sonst hört das Elend hier auf dem Planeten niemals auf. Wir brauchen echte Träume, Paul. Und echte Menschen.
Paul: Puh, Juliane. Echte Träume und echte Menschen scheinen weiterhind dringendst nötig zu sein. Steht das Hesse-Zitat noch auf meinem Grabstein?
Juliane: Natürlich, Paul, natürlich … Später sprechen die Kleinen häufig genau wie ihre Eltern und wie der durchschnittliche Rest über eine Zahnpasta, über Kleidergrößen, über das Wetter, über Fitness, über Wettkämpfe ... . Sie sprechen über Statussymbole und über Konsumgüter und du siehst zu, wie sie diese Themen immer mehr zu ihren Hauptthemen machen. Du beobachtest, wie sie sich in die künstliche Welt hineinstürzen und konsumgierig werden, so, wie sie es von den Großen vorgelebt bekommen haben. Themen wie Weltfrieden ... werden auch sie später gerne einem Parlament überlassen, das vor Empathielosigkeit nur so strotzt.
Paul: Die Menschen scheinen noch immer die alten zu sein, Juliane?
Juliane: Wie schon gesagt, Paul. Die Mutter ist noch immer stolz auf ihr Kind.
Zweite Szene
Die Todesspritze
Juliane wendet sich von Pauls Grab ab. Sie geht ein bisschen Spazieren, bleibt aber in dessen Nähe. Sie genießt die Stille, die Ruhe an diesem Ort. Sie hört Vogelgezwitscher auf den Bäumen, ohne einen Vogel zu sehen. Sie lässt ihre Blicke nach allen Richtungen hoch oben schweifen, doch der Himmel wirkt klar aber leer. >Es ist so schön hier oben auf der Erde und der Himmel wirkt geheimnisvoll<, spricht sie leise mit sich selbst. >Doch von unten sieht alles gleich aus, da kann ein Friedhof von oben noch so schön sein. Und unten gibt es nicht mal einen Himmel<. Plötzlich hört sie Pauls Stimme sie rufen.
Paul: Juliane, wo bist du?
Juliane: Ich bin hier, Paul. Hier bin ich.
Paul: Du bist so weit weg.
Juliane stellt sich wieder an Pauls Grab und sagt: Ich bin doch hier, Paul.
Paul: Was ist los mit dir, Juliane?
Juliane: Gar nichts. Ich brauchte einfach mal kurz Ruhe.
Paul: Strenge ich dich an, Juliane?
Juliane: Naja, deine Verwesung, sie ist dermaßen absurd. Dermaßen absurd eben, wenn auch biologisch sinnvoll, dass die Erde wieder zurücknimmt, was sie einst hat erschaffen lassen.
Paul: Ich habe es mir nicht ausgesucht, Juliane.
Juliane: Ich weiß.
Paul: Du bist auch irgendwann dran.
Juliane: Deine Verwesung ist Gift für die Umwelt.
Paul: Nicht schmutziger als das Leben, das wir hinterlassen.
Juliane: Ich lasse mich verbrennen, Paul.
Paul: Glaubst du wirklich, dass das umweltfreundlicher ist? Verstehst du nicht, dass der ganze Mensch eine Verpestung ist? Das merkst du doch auch an den Taten, die genauso stinken.
Juliane: Deshalb ist es wichtig, dass wir die Welt mit feingeistigen und mit feinfühligen Gedanken und mit konstruktiven Taten füllen. Jeder einzelne von uns. Diese können nicht verwesen. Sie hinterlassen auch keinen Schmutz und keine Schmerzen wenn wir gehen.
Paul sehnsüchtig: Ich würde gerne so ein feingeistiger Gedanke sein. Oder eine wohle Tat.
Juliane: Weil sie unsterblich sind? Vergiss' es, Paul, du bist und bleibst ein Mensch, der gerade am Verwesen ist. Was ist daran so schlimm? Du bist dabei, dich aufzulösen. Du gehst in ein Nichts über. Du bist für nichts mehr verantwortlich. Das Leben geht ohne dich weiter.
Paul: So schnell, Juliane, geht das hier unten nicht zu Ende, wie du von mir weißt. Wart' mal ab, bis du so weit bist. Noch lange ist es nicht zu Ende.
Juliane: Hast du nicht gehört, Paul? Ich lasse mich verbrennen. Ich möchte das nicht erleben, was du da unten erlebst. Und damit das Sterben gelingt, lasse ich mir nach meinem Tod noch ordentlich eine zusätzliche Todesspritze verpassen. Sicherheitshalber!!!
Paul: Du meinst, lieber zwei mal tot als einmal zu wenig?
Juliane: Wie schon gesagt. Um sicher zu gehen, ja. Wenn ich tot bin, dann möchte ich auch tot sein. Nicht so wie du, Paul. Nirgends gefangen liegen, nicht einmal in einer Urne möchte ich liegen und lasse daher meine Asche verstreuen in einem Land, wo dies erlaubt ist. Außerdem möchte ich frei sein, auch im Tod noch.
Paul: Liebst du mich denn gar nicht mehr? Ich bekomme gerade Liebesgelüste. Ich möchte mit dir schlafen, Juliane. Lass' dich berühren, damit noch etwas von mir da ist. Das Leben ist doch so ...
Juliane unterbricht: ... soll ich etwa dein Grab aufschaufeln und mich zu dir legen? Mitten in deinen *hüstel* Verwesungssaft ... ? Mensch, Paul, mach' keine Witze. Ich bekomme das Kotzen.
Paul: Ach, Juliane, ich wundere mich, dass du mich überhaupt noch besuchen kommst. Wo ich dir nichts mehr zu bieten habe und kann dir von hier unten nichts Erfreuliches mehr berichten. Warum kommst du trotzdem?
Juliane: Weil ich dich liebe, Paul. Ich vermisse die philosophischen Gespräche mit dir. Warum stellst du mir bei jedem Besuch immerzu dieselbe Frage?
Paul: Du liebst mich immer noch? Wenn ich könnte, würde ich dir meine Freude zeigen, denn es ist so einsam hier unten. Und die Toten als meine neuen Nachbarn reden nicht. Sie sind stummer als der Stumme selbst unter euch. Wenn ich könnte, würde ich lieber mit dir zusammen ohnmächtig sein, oder mit dir die Welt ein Stück verbessern.
Juliane: Ach Paul, red' keinen Unsinn. Du hast deine Chancen gehabt. Was nützen alle deine Theorien, wenn das Herz dabei fehlt? Du hast selbst nichts umsetzen können. Trockene Theorien klingen gut, aber gewirkt haben sie wenig und ich erkenne durch dich, durch deinen Tod, dass ich nicht anders bin.
Paul: Ich habe meine Chancen gehabt, Juliane, du hast recht. Und tatsächlich zu wenig in mich hinein gespürt, einfach zu wenig in mich hinein gespürt und zu viel gedacht, du hast recht, Juliane. Kurzes Zögern. Ach, Juliane, sage mir; warum sind wir Menschen nur so sterblich?
Juliane: Es ist gut, dass es den Tod gibt, Paul, sonst würden wir unendlich mit unseren Dummheiten weiter machen. Das wäre grausam.
Paul: Ach, man könnte aus den Dummheiten lernen.
Juliane: Vergiss' nicht, Paul, vergiss' unseren Sartre nicht, den Existentialisten. Vergiss sein Theaterstück nicht.
Paul: Die letzte Chance?
Juliane: Die letzte Chance. Wir würden immer wieder dieselben Dummheiten machen ... Juliane denkt nach ... wenn wir, so denke ich, nicht endlich anfangen, gleichzeitig beim Denken unser Herz zu öffnen, Paul, unser Herz. Vorhin haben wir über die fehlende Empathie bei anderen gesprochen. Sehr abstrakt, Paul, sehr abstrakt. Wie ist es mit unserer Empathie?
Paul: Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen, Juliane. Mein Herz löst sich hier unten gerade auf.
Dritte Szene
Olivia
Vier Wochen später
Traurig und nachdenklich stellt sich Juliane an Pauls Grab. Sie legt ihm einen Topf mit weißen Narzissen auf die Erde und daneben eine Friedenstaube aus Keramik. Wie bei jedem Besuch liest Juliane anschließend rituell das Hesse-Zitat, bevor sie mit nach unten geneigtem Kopf Paul begrüßt.
Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein. Ihr seid da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön! Sei nicht du selbst, sei Lügner und Feigling, so ist die Welt arm und scheint der Verbesserung bedürftig.
Juliane: Guten Morgen, Paul. Ich grüße Dich.
Paul: Guten Morgen, Juliane. Lange warst Du nicht mehr hier.
Juliane: Vier Wochen?, sprach sie leise. Ist das lang?
Paul: Vier Wochen erst? Hier unten scheint die Zeit still zu stehen. Kommt mir länger vor.
Juliane: Paul, es gibt keine Zeit mehr für dich.
Paul: Weshalb gibt es für mich keine Zeit mehr, Juliane?
Juliane: Sie ist mit dir mitgestorben, Paul. Du hast deine persönliche Zeit mit ins Grab genommen. Es ist vorbei. Willst du das nicht endlich einsehen?
Paul: Nichts ist vorbei, Juliane. Das Leben oben? Ja, das ist vorbei. Aber hier unten ist noch ordentlich was los. Zwar nicht so wie bei Hades, Gott sei Dank. Denn hier herrscht keiner über mich. Ich werde auch nicht mit Fegefeuer geknechtet aber los ist trotzdem noch so manches.
Juliane: Wen interessiert das schon, was bei dir unten los ist?
Paul: Na, mich, Juliane. Mich. Und dich ebenso, dachte ich.
Juliane spricht gedankenverloren: Paul, ich muss dir etwas mitteilen. Ich muss dich informieren.
Paul: Du musst mich informieren, mir mitteilen? Nun sag' schon. Ist etwas passiert? Deine Stimme klingt gerade recht fiebrig.
Juliane: Es ist etwas Unfassbares passiert, Paul.
Paul: Um Himmels Willen, was ist los?
Juliane: Kannst du dich an das junge Mädchen erinnern, die kleine Olivia?
Paul: Ich kann mich an Olivia erinnern, ja. Was ist mit dem Mädchen?
Juliane: Paul, warte. Mir gehen gerade so viele Gedanken durch den Kopf. Paul, ich bin so durcheinander. Pause ... Tiefer Atemzug. Was glaubst du, wie lange benötigt eine Pistolenkugel aus einer Entfernung weniger Meter, bis sie beim getätigten Abschuss beim Opfer gelandet ist?
Paul: Pistolenkugeln können auch aus der Ferne gut fliegen. Kommt auf den Abdrücker an, wie korrekt er zielen kann. Ein paar Sekunden?
Juliane: Ein paar Sekunden, ja. Nicht, dass ich das nicht selbst gewusst hätte, Paul. Ich wollte es nur von dir noch einmal hören. Ich wäre gewillt, so einen Schuss gezielt auf ein sinnloses Objekt in Zeitlupe aufnehmen zu lassen. Um diese wenigen Sekunden verstehbar zu machen, wie mächtig, ich wiederhole, wie mächtig diese wenigen Sekunden nur sein können. Ein paar kurze Sekunden vernichten auf einen Schlag 21 lange Jahre ...
Paul: Auf was willst du hinaus, Juliane? Ist Olivia erschossen worden? Ist sie tot?
Juliane: Olivia hat 21Jahre lang eine Erziehung genossen, wie wir sie allen Menschen wünschen. Sie durfte so aufwachsen, dass sie vollständig sie selbst werden konnte.
Paul: Ich weiß, Juliane, ich weiß. Sie durfte in Freiheit sich wie ein Samenkorn entfalten, und die Pflanze werden, die in dem Samenkorn steckt. Die Eltern beobachteten das Kind, wie es sich entfaltete und gaben ihr das, was es brauchte. Ohne große, moralische Erziehung.
Juliane: Ja, und dazu wurde sie respektvoll behandelt und hat gelernt, andere ebenso zu respektieren und zu achten. Es gab kein unter ihr. Es gab kein über ihr. Alle standen neben ihr.
Nachdenkliche Stille auf beiden Seiten, als Juliane weiter spricht: Wer glücklich ist, wünscht sich, dass auch andere glücklich sind.
Paul: Das heißt ja nicht, dass sie keine Probleme hatte, die Olivia.
Juliane: Ihre Probleme wurden in Liebe aufgefangen, Paul. Die Eltern standen ihr immer bei.
Paul: Ich erinnere mich, als die Eltern meinten, dass bei den Problemen ihres Kindes nur ein Untergang das Schlimmste sei. Für alles andere fände sich immer eine Lösung.
Juliane: Und erinnerst du dich, Paul, sie besuchte keine öffentliche Schule und wurde zu Hause von den Eltern unterrichtet, damit sie ihr mitgebrachtes Potenzial ganzheitlich entfalten konnte.
Paul: Sehr wohl erinnere ich mich. Die staatlichen Schulen als die reinsten Bildungsfabriken wollten die Eltern ihrem Kind nicht zumuten.
Juliane: Ja, richtig. Bildungsfabriken, jetzt, wo du es sagst, fällt mir das auch wieder ein, als sich die Eltern vehement dagegen aufgelehnt hatten.
Paul: Später, Juliane, später ist sie aber doch auf eine Schule gegangen. Weißt du nicht mehr? Auf eine Privatschule, die auf Ganzheitlichkeit ausgerichtet war. Alle Sinne wurden gebildet, da die Intelligenz viel umfassender ist, als man sie objektiv zu messen vermag.
Juliane: Ja, auf alle Sinne. In dieser Schule lernte sie mit Herz und Verstand zu denken und zu fühlen.
Erinnern, kurzes Schweigen.
Juliane: Olivia hatte sich selbst eine Schule gewünscht. Sie wollte nicht mehr zu Hause unterrichtet werden und die Eltern haben das respektiert aber lange gebraucht, bis sie eine Schule wie die ihrige haben finden können.
Paul: Sie musste jeden Morgen weit fahren, um diese Schule zu erreichen aber das haben die Eltern durch ihre begünstigte Position in Kauf nehmen können. Ich erinnere mich noch sehr gut. Ich hatte Olivia sogar ein paar Mal vertretungsweise selbst in die Schule gefahren.
Juliane: Ja, ich erinnere mich auch, Paul.
Paul: Was hat sie erzählt und erzählt und erzählt, die Kleine Olivia. Sie war auf der Schule sehr glücklich.
Juliane: Ich erinnere mich, dass auf dieser Schule die künstlerischen Fächer gleichwertig vermittelt wurden wie die naturwissenschaftlichen. Und ein Kind bekam mehr Stunden in den Fächern, die seinen Begabungen entsprachen. Olivia war nicht so viel jünger als ich und ich bewunderte sie für diese Schule.
Kurze Stille. Juliane denkt nach.
Paul: Ich weiß Juliane, ich weiß.
Juliane: In dieser Schule gab es keine Versager, Paul und keine Verlierer. Alle hatten ihre Talente. Nachdenkliche Stille. Und es gab trotz der unterschiedlichen Hautfarbe auch keine ausländischen Kinder ... Kinder mit Migrationshintergrund, was für ein stigmatisierender, hässlicher Begriff, da alle Kinder als Kinder dieses einzigartigen Planeten verstanden wurden, während sie in den staatlichen Schulen vielerorts noch heute in die Rolle von Prellböcken gepresst werden, um das eigene Versagen eines maroden Schulsystem zu kaschieren. In Olivias Schule fanden keine Vergleiche mit anderen Kindern, da jedes Kind nur mit sich selbst verglichen werden könne. Und feinfühlig brachte man ihnen politische Bildung bei. Ein Pflichtfach bis zum Schluss.
Paul: Jawohl, politische Bildung mit Herz und Verstand. Dabei wurden viele politische Szenen nach dem theoretischen Unterricht in Rollenspielen gepackt, damit die Kinder sowohl in die Täter als auch in die Opfer gleichermaßen sich einfühlen konnten.
Nach der Schule wollte Olivia Künstlerin werden. Sie konnte sehr gut malen und auch im Musischen war sie talentiert.
Juliane lächelt: Ich sehe Olivia vor mir, wie klein sie war, und sie ihre Lippen zum Pfeifen geformt hatte, und sie sich weinend geärgert hat, weil sie keinen Ton wie ihr Onkel herausbekommen hatte, der immer musikalisch gepfiffen hatte. Olivia ist Musikerin geworden. Die Pfeiferei war keine Laune von ihr. Musikerin ist sie geworden, Paul. Mit 18 bekam sie als Flötistin schon ihren ersten Musikervertrag. Und sie war dankbar ihren Eltern gegenüber ... Paul unterbricht Juliane.
Paul: Warum war? Ist sie tot, die Olivia?, Juliane, sag doch etwas.
Juliane: Gleich, Paul, gleich. Nicht so einfach, das auszusprechen. Kurzes betretendes Schweigen. Vor drei Tagen war Olivia bei mir und brachte mir eine Einladung zu dem Konzert ihrer Blaskapelle vorbei. Dann erzählte sie mir, wie glücklich sie sei, dass sie die Freiheit haben durfte, hauptberuflich Flötistin zu werden. Sie erzählte mir parallel die Geschichte von einem älteren Freund, dessen Freundin Schriftstellerin werden wollte und die Eltern ihr das verboten hatten, weil damit kein Brot zu verdienen sei. Dass schriftstellern kein richtiger Beruf sei. Kein gewinnbringender Beruf, und kein sicherer Beruf. Sie musste Jura studieren, weil der Vater auch Jurist sei, und weil dieser Beruf in der Gesellschaft hoch angesehen wäre.
Paul: Aber sie hätte rebellieren können, Juliane. Warum hat sie das nicht getan?
Juliane: Diese Frage habe ich auch gestellt. Olivia meinte, dass sie das nicht geschafft hätte. Sie konnte sich nicht durchsetzen ... durchsetzen gegen ihre Eltern. Sie hatte nicht genug Kraft und nicht genug Selbstvertrauen. Aber das Studium musste sie abbrechen, weil sie psychisch krank wurde. Sie lebt jetzt seit ein paar Jahren in einer psychiatrischen Wohnform und es ist fraglich, ob sie dort jemals wieder herauskommen wird.
Paul: Das war's dann wohl mit ihrer Juristenkarriere und mit dem Vorzeigetöchterchen der Eltern. Was aber willst du mir sagen, Juliane?
Juliane: Ich möchte dir sagen, Paul, zurück zu Olivia, dass sie dieser neue Mensch geworden wäre. Ein Mensch mit den eigenen Träumen. Ein Mensch, der sich zu sich selbst hat entfalten dürfen ..., Juliane stockt, ehe sie weiterspricht. Ein neuer Mensch, ... sie stockt erneut, hätte man sie nicht innerhalb von wenigen Sekunden totgeschossen. So, jetzt ist es heraus, Paul. Jetzt ist es heraus. ... Stocken ... 21 Jahre Zeit in einer Zeit von wenigen Sekunden totgeschossen. Das muss man sich mal in aller Ruhe bewusst machen.
Paul: Entsetzlich. Ich ahnte sowas schon, Juliane. Ich wollte dich nur nicht drängen.
Juliane: 21 Jahre individuelle Erziehung wurden innerhalb von Sekunden hinweggerafft. Juliane laufen die Tränen. Überlege mal, Paul, 21 Jahre haben Olivias Eltern benötigt, einen ganzheitlichen glücklichen Menschen groß zu ziehen. Und innerhalb von wenigen Sekunden wurden diese 21 Jahre vernichtet, Paul. Das geht einfach nicht in meinen Kopf rein.
Nachdenkliche Stille auf beiden Seiten. Juliane schnäuzt sich die Nase in ein Taschentuch
Juliane: Die Eltern haben ein Stück Weltfrieden großgezogen, Paul. Olivia hatte gelernt, jedes Lebewesen zu achten. Jeden Bach, jeden Fluss, jedes Meer, und jedes Tier. Jede Pflanze achtete sie. Selbst im Unkraut konnte sie das Schöne sehen. Sie achtete jeden Menschen, weil sie sich in alle Menschen gut hineinversetzen konnte. Nur die Zerstörer waren ihr fremd, aber mit der Zeit lernte sie, sich auch in sie urteilsfrei hineinzudenken und hineinzuspüren.
Kurze Pause. Stille. Stocken.
Paul: Red' weiter, Juliane. Red' weiter. Sprich dich aus. Es wird dir gut tun.
Juliane: Und auf die Ernährung achtete sie, indem die Eltern und die Schule es ihr zusätzlich vorgelebt haben. Allerdings wurden sie auch gebildet, was die Massentierhaltung betrifft. Sie entschied sich auch nach der Schule, die gewaltfreie Ernährung beizubehalten, Paul.
Sie lernte, wie schon gesagt, erst sich selbst zu achten, dann lernte sie auch andere zu achten. Sie hätte niemanden töten können, Paul, niemanden. Auch für Olivia gab es keine gerechten Kriege. Sie sagte, 'wenn ich Kriege befürworte, dann wäre es so, als stünde ich selbst als Soldatin an der Front, um Menschen zu töten.' Auch hätte sie niemandes Geld haben wollen. Kein Geld, das nicht ehrlich verdient war. Sie lernte durch die Eltern und durch die Schule genügsam zu sein. Geistige Werte bekamen einen höheren Stellenwert als materielle Werte.
Paul stockt.
Paul: Mir ist, als habe man eine Friedenstaube getötet, sprach nun auch Paul in einem Flüsterton.
Juliane: Die Friedenstaube, Paul, die Friedenstaube klingt so abgelutscht. Wir brauchen neue Symbole und neue Werte für alle. Die Friedenstaube nimmt kaum noch einer ernst. Trotzdem habe ich dir heute eine aus Keramik auf dein Grab gesetzt.
Paul: Aber warum auf mein Grab, Juliane?
Juliane: Wenn ich könnte, lieber Paul, würde ich diesen Vogel auf alle Gräber setzen.
Vierte Szene
Der Friedhof für tote Intellektuelle
Vier Tage später
Juliane beugt sich über Pauls Grab und greift nach den darauf wachsenden, üppigen Pflanzen und Blumen. Anschließend liest sie rituell das Hesse-Zitat
Die Welt ist nicht da, um verbessert zu werden. Auch ihr seid nicht da, um verbessert zu werden. Ihr seid aber da, um ihr selbst zu sein. Ihr seid da, damit die Welt um diesen Klang, um diesen Ton, um diesen Schatten reicher sei. Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön! Sei nicht du selbst, sei Lügner und Feigling, so ist die Welt arm und scheint der Verbesserung bedürftig.
Sie lässt es etwas wirken und wendet sich nun Paul zu.
Juliane: Guten Morgen, Paul.
Paul: Guten Morgen, Juliane. Schön, dich wieder an meinem Grab zu wissen. Dieses Mal scheint mir die Zeit seit deinem letzten Besuch kürzer vorzukommen.
Juliane: Vier Tage, jawohl, diesmal sind nur vier Tage seit dem vergangen.
Stille.
Juliane: Es wachsen so viele Rosen, Lilien und sogar Erdbeeren wachsen auf deinem Grab, stell‘ dir vor, Paul. Ein sehr fruchtbarer Boden, dieses Fleckchen Erde.
Juliane stellt sich wieder auf.
Paul: Nur leider nutzt mir diese Fruchtbarkeit nichts mehr, Juliane. Bei mir ist, was dies betrifft, alles tot. Ich hoffe, die Erdbeeren schmecken wenigstens. Kannst du mir Licht machen? Es ist so finster hier unten.
Juliane bückt sich erneut und pflückt sich eine Erdbeere, hält sie vor ihren Augen, dreht sie nach allen Seiten um und knabbert sie an, steckt sie anschließend ganz in den Mund und lässt sie langsam kauend in sich zergehen, bevor sie die ganze Erdbeere hinunter schluckt. Sie pflückt noch eine weitere.
Juliane: Ich kann dir kein Licht machen, Paul. Aber deine süßen Erdbeeren, sie schmecken etwas bitter.
Paul: Vielleicht liegt das daran, weil so viele ... räuspert ... weil so viele Gase und etwas von meiner Zersetzung nach oben dringen.
Juliane hüstelt und würde am liebsten die heruntergeschluckte Erdbeere wieder herausspucken und schnickt die zweite weg. Sie dreht sich um, und versucht zumindest den Geschmack der gegessenen Erdbeere auszuspeien.
Paul: Wie sehen denn die Rosen aus? Und die Lilien?
Juliane mit trockener und leicht krächzender Stimme: Schön, die Erdbeeren sehen auch schön aus und greift nach der Wasserflasche aus ihrem Rucksack und trinkt daraus. Schmecken tun sie nur nicht. Du hast ein wirklich schönes Grab, Paul. Es ist recht farbenfroh, oben herum ist alles sehr viel schöner, wenn ich aber das Grab aufmachen würde und in die Tiefe schauen ...
Paul: ... dann würdest du sehen, was alles vom Menschen übrig geblieben ist, Juliane. Die Taten lassen sich allerdings nicht begraben. Sie sterben nicht. Die schlechten nicht und die guten auch nicht.
Juliane setzt sich auf den Rand des Grabes. Träumend streift sie mit der Hand auf der Erde herum.
Juliane: Weißt du, Paul, auch durch deinen Tod denke ich oft über die Zerbrechlichkeit eines Lebewesen nach. Bei dir war es die Krankheit, die dich von dem Erdboden nach unten gebracht hat. Trotzdem hast auch du Respekt verdient.
Paul etwas zynisch: Oh, ja, Juliane. Das habe ich. Welch' eine Weisheit von dir.
Juliane: Olivias Tod geht mir aber auch nicht mehr aus dem Kopf. Sie ist tot, obwohl sie gesund war. Sie hätte verglichen mit dir noch leben können. Durch nichts kann sie ersetzt werden, durch nichts kann der Schuss wieder rückgängig gemacht werden. Der Schuss löscht den gesamten Menschen aus. Wie zerbrechlich wir Lebewesen doch alle sind. In einem Krieg werden durch eine einzige Bombe innerhalb weniger Sekunden ganze Gruppen von Menschenleben ausgelöscht. Wir benötigen viel Zeit, bis wir ausgewachsen sind, und nur kurz, um zerstört zu werden. Das muss man begreifen können, diese kurzen Momente an Sekunden. Dass ein Mensch, der einen Schuss tätigt, oder der eine Bombe wirft, nichts dabei empfindet, stimmt mich dagegen unaufhörlich nachdenklich, weil es unfassbar ist.
Stille auf beiden Seiten.
Juliane: Du hast immer von einer besseren Welt geträumt, Paul. Wir haben von einer besseren Welt geträumt. Obwohl wir alles haben. Wir haben eine gute Schulbildung. Ein abgeschlossenes Studium. Einen guten Arbeitsplatz und vieles mehr. Aber das hat uns nicht wirklich zu einem glücklichen Leben gereicht. Wir hatten noch viele Pläne. Viele Pläne hatten wir, Paul, und wie schön es wäre, in einer Welt zu leben, in der die Menschen ganz sich selbst sein dürften.
Stille. Nachdenken. Räuspern.
Wir haben geträumt, dass es so etwas wie Kriege nicht mehr geben würde, weil der Mensch nicht mehr in der Lage wäre, ein anderes Lebewesen umzubringen, weil jede Tat Bewusstheit bedeuten würde.
Begriffe wie Ausländer würden wir ersetzen mit Erdenbürger. Nationaler Ausweis ersetzen mit einer Identitätskarte Weltmensch. Die Liebe wäre nicht mehr begrenzt auf die eigene Familie. Auf das eigene Kind. Auf das eigene Tier. Auf das eigene Land.
Paul: ... Ich weiß, Juliane, ich weiß.
Juliane: Der Mensch wird erst dann zu einem Kriegstreiber, oder zu einem Mörder, oder zu einer raffgierigen Person, wenn er von seinem wahren Wesen entfernt wurde. Er weiß nicht mal, was sein wahres Wesen ist. Er kennt sich nicht. Er weiß auch nicht einmal was wahres Glück ist. Und der Mörder ist nicht allein der Mörder. Dass er ein Mörder wurde, war auch durch den Einfluss seines Umfeldes geschuldet. Nur sitzt der Mörder allein im Gefängnis. Wie ungerecht.
Paul: Wir sprechen hier von den Mördern ... aber die Braven, die Braven, Juliane, die innerlich und äußerlich brav sind, sind auch nicht unschuldig. Und die müssen gar nicht ins Gefängnis.
Juliane: Das sag' ich doch, Paul. Das wollte ich damit sagen. Sie sind nicht unschuldig. Das sind sie nicht. Ja, das sind sie nicht. Jawohl. Nur spricht man zu viel über die Mörder und zu wenig über die Braven. Aber gerade die Braven wissen immer, was richtig ist. Sie wissen immer, was falsch ist. Die Braven urteilen so schnell über die Unbraven und aber auch über die anderen Braven. Im Nationalsozialismus war der Durchschnittsmensch dermaßen brav, dass es das Leben von sechs Millionen Juden und Widerstandskämpfer gekostet hat. Die stillen Demonstranten schließe ich aus. Sie hatten Angst. Sie waren aus Angst brav aber sie haben keinen Menschen schikaniert. Niemanden denunziert, niemandem geschadet. Niemanden getötet durch Anzeigen. Diese Braven zähle ich nicht dazu.
Nachdenkliche Stille.
Juliane: Die Braven und die Mörder. Ein gutes Paar. Aber Olivia ist jetzt tot. Olivia, die nicht sooo viel jünger ist als ich, Paul, vergiss Das nicht. Alle ihre Sinne wurden geschult. Weißt du was, Paul? Heute Morgen habe ich in meinen Unterlagen Erich Kästner gefunden. Einen Vers von ihm, der zwischen den Buchseiten gelegen hat.
Juliane nimmt das Buch von Wolfgang Borchert "Draußen vor der Tür" aus ihrem Rucksack und zieht den ausgeschnittenen Vers heraus.
Juliane: Wir sind nicht alleine, Paul, mit unseren Idealen. Das tröstet mich. Wie sehr sie über uns lachen würden, die anderen, wenn sie nur hören würden, was wir hier reden. Ich lese dir mal vor, was Kästner geschrieben hat. Der Abschied heißt sein Vers.
Nun ich mich ganz von euch löse,
hört meinen Epilog:
Freunde, seid mir nicht böse,
daß ich mich selber erzog.
Wer sich strebend verwandelt,
restlos und ganz und gar,
hat unselig gehandelt,
wenn er nicht wird, was er war!
Juliane wiederholt: Wer sich strebend verwandelt, ... hat unselig gehandelt, wenn er nicht wird, was er war. Das könnte von uns sein, Paul. Nicht? Und meint damit aber vor allem die Theoretiker.
Paul: Sicher.
Juliane: Mich beruhigt, dass wir damit nicht alleine sind, Paul, mit unseren Idealen.
Paul: Kästner war schon sehr besonders. Er hat so eine Schule wie Olivia nicht benötigt.
Juliane: Wer so ein Gedicht schreiben kann, braucht eine Schule wie die von Olivia nicht, das ist wohl wahr. Aber geschadet hätte sie ihm auch nicht. Und sein lyrisches Ich hätte sich nicht von seinen Freunden verabschieden müssen, denn alle wären sie geworden, das, was sie einmal waren.
Paul: Ich spüre Wehmut, Juliane, denn mich beschämt, dass ich tot bin. Mich beschämt, dass ich tot bin und ich nun zu nichts mehr für die Welt zu tun in der Lage bin. Juliane, hol' mich hier raus, bitte.
Juliane: Ich kann dich nicht rausholen Paul. Zum X-ten Male. Und außerdem, was würdest du anders machen, wenn ich es könnte?
Paul: Theorien umsetzen, Juliane, Theorien umsetzen würde ich. Und ich würde mit dir ein Kind machen und dieses Kind dieselbe ganzheitliche Bildung wie Olivia zukommen lassen ....
Juliane unterbricht: ... Paul, du könntest mein Vater sein.
Paul: Ich bin aber nicht dein Vater, verflixt. Picasso hat noch mit neunzig ein Kind gezeugt. Mit neunzig ist er nochmal Vater geworden mit einer Frau, die hätte seine Ur...Enkelin sein können.
Juliane: Du bist aber nicht Picasso und ich nicht die Ur...Enkelin
Paul: Juliane, wir könnten mehrere Kinder machen. Ich bin lange nicht so alt wie Picasso. Wir könnten noch mehrere Kinder machen, damit eine kleine Gesellschaft entstünde und diese sich draußen besser verteilen könnte und wir wären nicht mehr so einsam.
Juliane: Deine Gedanken sind dermaßen absurd, Paul.
Paul wird leise und flüstert.
Paul: Ich weiß, dass meine Gedanken absurd sind, Juliane. Das würde ich trotzdem tun, auch wenn ich bekennen muss, dass es dafür zu spät ist.
Juliane: Hast du noch Zähne im Mund, Paul? Mal ganz ernst, hast du sie noch?
Paul: Juliane, ich wiederhole immer wieder, wir sind die ganze Zeit über ernst. Aber ja. Ich habe noch Zähne im Mund. Nun, feste Substanz, richtig feste Substanz, die nicht verwest. Sie verwesen nicht, die Zähne. Sie bleiben, was sie sind. Nicht nur bei mir.
Juliane: Was soll ich dir raten, Paul? Ich kann dir nur raten, dann beiß' deine Zähne zusammen und vergiss die Welt, vergiss deine Reue, und beiß' deine Zähne zusammen, so wie ich es manchmal tun muss. Ich würde dir schon ganz gerne helfen, aber du bist tot, Paul, du gehörst nun mal unter die Erde. Vielleicht musst du einfach stark bleiben und ertragen, bis alles vorüber ist.
Paul: Das sagt sich so leicht. Du bist nicht betroffen, Juliane. Bis ich mit meiner Verwesung durch bin, haben andere ein ganzes Kind großgezogen. Irgendwie dauert das alles sehr lange.
Juliane: Ich bin noch nie gestorben, Paul, ich kann nicht wissen, was du dort unten ertragen musst. Hättest du dich nur verbrennen lassen. Aber ich besuche dich oft, so oft ich kann, damit du etwas Ablenkung erfährst.
Kurze Pause, nachdenkliche Stille.
Juliane: Ihr seid schon komische Geschöpfe, ihr Toten. Erst sterbt ihr, dann kommt ihr mit euren ganzen Auflösungsprozessen nicht klar und wollt unbedingt und um jeden Preis wieder zurück ins Leben. Sogar den Stumpfsinn wären einige bereit zu ertragen. Merkwürdige Kompromisse. Auch die toten Intellektuellen sind merkwürdig.
Paul: Juliane, wieso benutzt du den Plural? Was redest du da? Und wen meinst du mit den toten Intellektuellen?
Juliane: Vor längerer Zeit bin ich mit Simone in einem Park spazieren gegangen. Wir hatten uns gewundert, weshalb vor den Toren Wächter standen. Beamte in Uniform waren das, mit Gewehren an der Seite. Es war aber gar kein Park, Paul. Es war ein öffentlicher Friedhof, der wie ein Park aussah. Und wir beobachteten Kreaturen, die unvorstellbar gewesen sind. Wir erfuhren erst später, dass es ein Friedhof der lebenden toten Intellektuellen war ...
... wird von Paul unterbrochen.
Paul: ... noch nie davon gehört. Sonderbar.
Juliane: Lass' mich ausreden, Paul. Dort wandelten sie, ohne eingeächert oder begraben worden zu sein. Die Toten auf diesem Friedhof durften frei verwesen. Man sah Landschaftsgärtner, die die Gebeine der fertig Verwesten aufgelesen haben, die zur Entsorgung in einem großen Container geworfen wurden.
Paul: Sonderbar, Juliane. Sonderbar.
Juliane: Überall standen üppige Weihrauchpflanzen, die den Verwesungsgeruch aufgesagt hatten. Und große Paläste, in denen sich die Toten von der Öffentlichkeit zurückziehen konnten. Ganze Tempel sah man dort. Sogar Philosophenschulen waren aufgestellt. Sie brauchten sich während ihrer Verwesung nicht zu langweilen. Sie waren tatsächlich frei, diese Toten, die nicht sterben konnten, weil sie ihren Tod nicht wahrhaben wollten. Und es gab einen, der noch mehr forderte. Er wollte zurück ins wahre Leben und versuchte, die Friedhofsmauer hochzuklettern, um drüber zu steigen. Nachts, angeblich wenn die Wächter schliefen.
Paul: Nachts? Woher weißt du das? Wart ihr etwa dabei?
Juliane: Paul, eigentlich wollte ich dir nichts von ihm erzählen. Ich habe es die ganze Zeit für mich behalten. Aber du drängst mich regelrecht dazu mit deiner Wehklagerei.
Paul: Nun sag' schon und höre auf, mich zu schonen.
Juliane: Wir waren natürlich nicht dabei, Paul. Wer geht schon nachts auf Friedhöfe? Hör' mir einfach zu, Paul. Dieser tote Intellektuelle hat es mir selbst erzählt, dass er nachts häufig Ausbruchversuche wagte, die nicht gelingen wollten, weil auch draußen überall Wächter standen, die ihn von der Mauer wieder zurück gestoßen haben. Jedenfalls sprach auch er bedauernd davon, die Welt nicht verbessert zu haben, obwohl er Dozent an einer renommierten Universität war. Er war Professor der Politologie und der Germanistik und schon sehr alt geworden. Er hat hochgestochen gesprochen, sehr hochgestochen aber nichts davon, was er hätte besser machen können. Ein absoluter Theoretiker. Ein Theoretiker mit einem kastrierten Herzen, so schien es mir jedenfalls, obwohl seine linke Brusthöhle wie ausgeschabt aussah.
Paul: Na sowas. Eine ausgeschabte Brusthöhle? Ausgeschabt ist auch kastriert, Juliane. Und was hat er dir gesagt?
Juliane: Nun ja, er selbst sprach mich an. Er war dermaßen verzweifelt, so verzweifelt wie du jetzt und sagte:
Junge Frau, gerne wäre ich wieder so jung und so lebendig wie Sie. Ich wäre bereit, alles im Leben zu ertragen, nur tot möchte ich nicht mehr sein. Mir sollen selbst die Ungerechtigkeiten dieser Welt egal sein. Ich möchte leben und sterben sollen ruhig andere. Was habe ich mein Leben vertan mit den vielen Theorien, die mein Gehalt und meine Stellung in der Gesellschaft zwar hoch oben aufgestockt haben, und ich dadurch etwas glücklicher sein durfte als andere, mehr war das aber auch nicht. Das habe ich erst am Schluss erkennen können.
Paul: Sonderbar.
Juliane: Ja, Paul, warte. Er sagte:
Ich akzeptiere, ich akzeptiere das Elend, die Kriege, selbst die Politiker akzeptiere ich. Ich akzeptiere alles, was ich zu Lebzeiten für eine bessere Welt abgelehnt habe, wenn ich doch nur wieder leben könnte. Ich habe einfach keine Ahnung, wie eine Welt besser zu machen geht. Dies muss ich mir nun eingestehen. Meine Bücher haben mich überlebt und stehen in der Bibliothek. Meine Studenten haben nichts von dem umsetzen können, was sie aus meinen Büchern bei mir gelernt haben.
Juliane: Er hat nichts begriffen, Paul, nichts. Seine Theorien waren eigentlich gut. Sein Wissen war gut und hat die Welt damit bereichert. Ohne seine Bücher wäre die Welt sehr arm. Aber er sagte:
Was nützen mir alle diese schöngeistigen Theorien, wenn doch alles beim Alten bleibt in der Welt?
Juliane: Er hat nach seinem Tod gelitten, Paul, gelitten, wie du jetzt. Als Toter war er verzweifelt, weil seine Theorien weder beim Volk noch bei der Regierung landen konnten.
Er schrie mich an und rief: Vergeudete Lebenszeit. Alles vergeudete Lebenszeit. Er schaute mich mit großen Blicken an und beschimpfte mich: Machen Sie es wenigstens besser als ich. Fangen Sie gefälligst an, sich gewaltlos für den Ersten Weltfrieden einzusetzen. Was Sie nicht schaffen, können spätere Generationen fortsetzen. Aber fangen Sie schnellstmöglich damit an! UND HÖREN SIE ENDLICH AUF, MICH ANZUSTARREN!!!
Er hat es tatsächlich nach mehreren Kletterversuchen geschafft, über die Friedhofsmauer zu klettern, um wieder bei den Lebenden zu sein. Er konnte die Wächter austricksen. Er war gescheiter als sie. Halb verwehst und mit wenigen Kräften lief er torkelnd durch die Stadt, und versuchte am Leben der Menschen teilzunehmen. Er hatte gar nichts begriffen, dieser tote Intellektuelle mit seinem kastrierten Herzen. Er hätte nochmal Kästner lesen sollen. Und den Hesse dazu.
Stocken.
Paul: Was ist aus ihm geworden?
Juliane: Es sind über ihn große Zeitungsberichte gedruckt worden. Sämtliche Sender sprachen von ihm, dass er von der Polizei, den Ärzten und den Totengräbern verfolgt wurde, nach dem es in der Stadt einen großen, panischen Aufschrei gegeben hat. Der tote Professor wurde wieder eingefangen und auf einem normalen Friedhof begraben. Auf sein Grab hat man schwere Steine gelegt, weil die Friehofsgräber die Sorge hatten, er könnte aus seiner Gruft wieder aufsteigen. Er liegt jetzt unter der Erde und kommt nicht mehr heraus.
Nachdenkliche Stille.
Juliane: Er hat nichts begriffen, Paul. Nichts hat er begriffen, obwohl er so gescheit war, dieser Professor mit der ausgeschabten linken Brusthöhle.
Stille.
Fünfte Szene
Anne
Juliane schaut zurück und sieht eine Freundin, eine alte, betagte Dame von fünfundachtzig Jahren mit einem linken Gehstock auf dem Waldfriedhof laufen.
Juliane: Nun denk' mal Paul, wer da vorne kommt. Es ist Anne. Lass' sie uns begrüßen. Ich habe sie lange nicht gesehen.
Juliane winkt der alten Dame zu und ruft in einem halblauten Ton: Huhu Anne, hallo.
Anne erwidert den Ruf und winkt freundlich zurück. Sie kommt auf Juliane mit kleinen Schritten zugelaufen. Anne und Juliane begrüßen sich mit leichten Umarmungen.
Anne: Mensch, Juliane, Mädchen, wie geht es dir? Lange habe ich nichts mehr von dir gehört.
Juliane: Mir geht es gut, Anne. Ich besuche gerade Paul.
Anne: Ach ja, den Paul und schaut dabei auf sein Grab. Mit ihrem Kopf neigt sie sich zu Juliane und spricht in einem Flüsterton: Diskrete Frage, Juliane. Ich habe eine diskrete Frage. Aber braucht dein Paul auch so lange mit seiner Verwesung?
Paul hängt sich ein.
Paul: Deine Frage ist nicht indiskret, wenn du sie direkt an mich stellst, Annchen. Ich brauche lange, ja und es ist sehr unangenehm. Ich benötige viel Zeit mit meiner Verwesung. Es ist ... Paul stockt ... es ist ach, Anne, hol mich doch du hier raus, es drängt mich ins Leben.
Anne: Was hast du vor, Paul?
Paul: Weltverbesserer zeugen mit einem Genenmix zwischen mir und Juliane, damit sie sie in die Welt setzen kann.
Juliane entsetzt: Was? Ich soll Weltverbesserer in die Welt setzen? Aber Paul, dies hatten wir schon unzählige Male diskutiert.
Paul: Ich stelle mir das nur vor, wie wir etwas verändern würden, Juliane. Es drängt mich. Das ist nur eine Vorstellung. Das sage ich nun auch vor Anne.
Anne: Ihr habt schon wieder diskutiert, ich höre, aber wenn ihr Weltverbesserer in die Welt setzen wolltet, dann würdet ihr dadurch nur neue Aggressionen unter den Menschen schaffen. Ich selbst möchte nicht von einem Weltverbesserer ununterbrochen belehrt und moralisiert werden. Das ist eher ein Weltverschlechterer, Paul.
Paul: Auch du würdest von diesem geschützt sein, Anne. Du weißt ja selbst, wie die Gesellschaft auf alte Menschen zu sprechen ist.
Anne: Paul, du bist tot und du bleibst tot. Du selbst hättest im Leben eine Menge Positives für das Weltgeschehen beitragen können. Du warst nämlich so ein Weltverbesserer. Obwohl du sehr viel intelligenter unterwegs warst als die anderen, ist es dir doch nicht gelungen. Etwas hast auch du falsch gemacht.
Paul: Du hast recht. Ihr habt beide recht und ich empfinde Reue, Lebenslust, die Verwesung ist ... wird von Anne unterbrochen.
Anne: ... ich könnte dich sowieso nicht von da unten rausholen, Paul, selbst wenn ich wollte. Das ist ja gar nicht möglich. Und das weißt du. Niemand kann deinen Tod rückgängig machen. Und niemand kann deine Verwesung beschleunigen. Da müssen wir eines Tages selbst alle durch.
Juliane: Jawohl, Paul, Anne hat recht. Auch unsere Taten und Nichttaten würde uns niemand abnehmen und diese ungeschehen machen.
Paul, räuspert: Als ob ich das nicht selbst wüsste.
Juliane hebt leicht die Stimme: Dann verhalte dich auch danach. Wo bleibt deine Weisheit? Wo bleibt die Lebe- und die Sterbekunst von dem Paul, den ich einst mal kannte?
Paul leise: Man wird hier unten ein komplett anderer Mensch.
Juliane wendet sich nun Anne zu.
Juliane: Wie geht es dir eigentlich, Anne? Warum bist du hier? Ist dein Cousin etwa schon gestorben?
Anne: ja, Juliane, nach zwei Jahren schwerer Krankheit hat er es jetzt endlich hinter sich. Vorgestern ist er beerdigt worden. Er war 20 Jahre jünger als ich. Hätte mein Sohn sein können. Mir ist ganz elend zumute.
Juliane: Wie meinst du das, Anne?
Anne: Seine Frau hat mir gestern deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich nicht zu beschweren hätte, als ich über Herzstechen klagte. Mir ging der Tod meines Vetters sehr nahe.
Juliane: Verständlich, Anne.
Anne: Für dich ist das verständlich, Juliane, aber nicht für seine Frau. Die Menschen kommen schon auf merkwürdige Ideen, wenn jemand, der ihnen nahe ist, stirbt. Und ich reagiere darauf. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich noch lebe. Seine Frau ist mir gegenüber sehr zurückhaltend geworden.
Pause, Stille.
Anne: Ich wäre bereit, einen Tausch einzugehen, Juliane. Ich würde gerne sterben und ihren Mann dadurch lebendig machen aber durch meinen Tod wird er weder gesund noch lebendig.
Juliane: Was erzählst du da, Anne?
Anne: Vor einem halben Jahr behandelte sie mich recht grob und unfreundlich, weil sie mit der Krankheit meines Cousins so sehr überfordert war und mir sagte, dass ich sie auch noch überleben werde. Das muss ihr in der Traurigkeit und der Hilflosigkeit so rausgerutscht sein.
Juliane: Tatsächlich?
Paul: Anne, nimm dir das bloß nicht zu Herzen. Sowohl die Jüngeren als auch die Jungen müssten mal endlich anfangen, sich wie die Alten mit dem Tod auseinanderzusetzen. Schon Seneca sagte, dass der Mensch nicht nach Altersstufen abberufen werden würde. Und wer das Glück habe, alt zu werden, könne im hohen Alter noch Schönes aus dem Leben ziehen. Denn keiner sei so alt, dass er nicht mit Recht noch auf einen Tag hoffen könnte. Alles eine Sache der Geisteshaltung.
Anne: Das tut gut zu hören, Paul. Ich danke dir. Wir alten Menschen werden übersehen und man wünscht uns nur noch den Tod, auch, um die Rentenkassen zu erleichtern, in die wir kräftig eingezahlt hatten, als wir selbst im Berufsleben standen.
Paul: Die Politiker, Anne, die Politiker spielen die Generationen gegeneinander aus, um zu vertuschen, wie sie die Gelder verschleudern.
Anne: So direkt sagt das niemand, Paul, aber ich spüre das, Politik und die jungen Menschen. Und was haben junge Menschen heute noch mit den Alten zu tun?
Juliane: Anne, ich höre wohl nicht richtig.
Anne: Wenige Ausnahmen gibt es immer, Juliane. Dabei kann jede Generation von einer anderen lernen. Die Jungen haben nichts mehr mit uns zu tun. Sie leben von uns getrennt. Als sei das Alter eine ansteckende Krankheit.
Juliane: Vielleicht reagierst du nur ein wenig empfindlich.
Anne: Empfindlich?, wenn seine Frau nicht mehr mit mir spricht? Jetzt, wo mein Cousin erlöst ist, möchte ich mich an sein Grab stellen und mich bei ihm entschuldigen, dass er sterben musste und ich noch lebe. Pause. Ich muss jetzt gehen, Juliane, Paul, denn bevor seine Frau kommt, möchte ich den Friedhof wieder verlassen haben.
Juliane: Das tut mir leid, Anne, dass du dir das so zu Herzen nimmst.
Paul: Denk' an Seneca, Anne. Deine Lebensjahre sind dein ureigenes Lebensrecht.
Anne: Ihr tut mir gut, ihr beiden.
Sie schaut Juliane an.
Anne: Komm' mich alte Dame doch mal wieder besuchen, Juliane. Wir hatten immer schöne Gespräche geführt. Das Alter macht sehr einsam, es isoliert uns. Wenn alle Freunde weggestorben sind, interessiert sich kaum noch jemand für uns. Und dabei sind wir ja nicht nur alt, an uns wird aber immer nur das Alter gesehen, die Jungen reduzieren uns auf das Altsein.
Paul: Das ist ein gesellschaftliches Problem Anne, das darfst du nicht persönlich nehmen.
Anne: Ich versuche es nicht persönlich zu nehmen. Wenn ich es nicht persönlich nehme, ändert sich trotzdem nichts an meiner Situation.
Juliane: Ich verstehe dich, Anne, dass das Alter, so wie du es beschreibst, durch die gesellschaftliche Isolation auch ein Stück vorzeitigen Tod sterben lässt.
Anne: Kind, du verstehst mich? Du bist doch noch so jung. Also, kommst du mich besuchen? Vergiss' nicht, Juliane, was du äußerlich siehst, ist nur der alte Körper. Aber der Geist kann bis zum Tod jung bleiben, solange der Verstand klar dabei ist. Es kommt immer nur darauf an, wo im jungen Leben die Schwerpunkte gesetzt wurden, die sich im Alter widerspiegeln.
Paul: Das hast du sehr schön gesagt, Anne.
Anne: Ich muss nun los, ihr beiden.
Die alte Dame nimmt Julianes Gesicht in ihre beiden Hände und küsst sie auf die Stirn.
Anne: Pass' gut auf dich auf, Liebes und alles Gute für deinen Paul, dass er bald seine Verwesung hinter sich bringt.
Sie wendet sich an Pauls Grab.
Anne: Alles Gute für dich, Paul. Mein Mann ist schon seit dreißig Jahren tot und verwest immer noch.
Mit kleinen Schritten entfernt sich Anne mit ihrem Krückstock und schlägt eine andere Richtung ein.
Juliane spricht der alten Dame flüsternd zu, obwohl Anne sie nicht mehr hören kann: Mach's gut, Anne. Es sind auch viele junge Menschen einsam. Mehr als du denkst. Und manchmal ist die Einsamkeit in der Gesellschaft viel größer und stärker zu ertragen als allein.
Juliane wendet sich wieder Paul zu: Du siehst, Paul, Anne möchte auch keine Weltverbesserer haben. Sie hat mehr begriffen als du. Sie ist schlau. Einsamkeit macht schlau, schärft die Sinne.
Paul: Ich wollte einfach neue Menschen schaffen, Juliane. Und überhaupt. Warum hast du mich nie geheiratet? Immer bist du ausgewichen. Nicht mal mein Geld konnte dich locken.
Juliane erstaunt: Paul, was sagst du da? Ich heirate doch nicht des Geldes wegen.
Paul: Du liebst mich nicht wirklich, hab' ich recht?
Juliane: Paul, ich liebe dich auf meine Weise.
Paul: Ich hätte so gerne Kinder mit dir gehabt. Vielleicht hätte ich jetzt hier unten meinen Frieden.
Juliane: Du musst diesen Gedanken jetzt endlich mal aufgeben, Paul. Denke nur an den toten intellektuellen Professor, von dem ich dir erzählt habe.
Paul: Ich denke an ihn.
Juliane: Und außerdem möchte ich überhaupt keine Kinder und erst recht keine Weltverbesserer auf die Welt bringen.
Paul: Hab‘ Ich verstanden.
Juliane: Du weißt, dass diesen Gedanken fast jede Mutter auch mal gehabt hat mit ihren stolzen Kindern, das weißt du, alle sollten sie etwas Besseres werden und trotzdem sind wir nicht weiter.
Paul: Wir sind nicht weiter.
Juliane: Größtenteils alles gewöhnliche Menschen, sobald sie aus den Kinderschuhen rausgewachsen sind. Aber das liegt nicht an der Zeugung, Paul.
Paul: Das liegt nicht an der Zeugung.
Juliane: Selbst ein behindertes Kind ist in seiner Art normal und besitzt auch ein Recht, auf seine Weise ganz zu werden.
Paul: Wie jedes Kind das Recht hat, in seiner Art ganz zu werden.
Juliane: Deshalb, Paul, die Kinder sind ganz in Ordnung, so wie sie geboren werden. Das liegt ganz alleine an einem selbst, an dem Erwachsenen, die Kinder sein zu lassen, was sie sind, und sie darin zu unterstützen und zu begleiten, ein ganzer Mensch zu werden.
Paul: Ganze Menschen, ja Juliane. Dies wäre auch mein Wunsch gewesen.
Juliane: Nun, Paul, dann beenden wir ab sofort diese Diskussion mit der Zeugung von Weltverbesserern. Wir benötigen nur ganze Menschen. Und die Kinder sind schon alle da. Und jeden Tag werden neue Kinder geboren.
Stille, Pause.
Abschlussszene
Juliane schaut auf die Uhr und springt entsetzt hoch.
Juliane: Oh, Paul, es ist schon so spät. Ich habe mich viel zu lange hier aufgehalten.
Paul: Kommst du wieder, Juliane?
Juliane: Du bleibst für mich lebendig, Paul.
Paul: Auch dann, wenn ich skelettiert bin?
Juliane: Auch dann.
Paul: Mit Neuigkeiten? Kommst du mit Neuigkeiten?
Juliane: Das kommt ganz darauf an, was sich in der Welt an Neuigkeiten tut.
Paul: Vielleicht bin ich schon verwest bis dahin.
Juliane: Vielleicht.
Paul: Es drängt mich ...
Juliane: ... vergiss' es, Paul.
Paul: Ich kann nicht vergessen, Juliane.
Juliane traurig und leise: Du musst lernen zu sterben.
Stille. Nachdenken.
Juliane in einem ruhigen, leisen Ton: Ars Moriendi, Paul, Ars Moriendi.
Schweigen.
Juliane: Und ich gehe jetzt hinaus in die Welt, Paul und werde unsere erdachten Theorien, deine und meine, innerlich geprüft, mit einem ausgeweiteten Herzen in kleinen Schritten umsetzen ... und neue entfalten.
Paul: Mit einem ausgeweiteten Herzen? Bist du verrückt? Die rationale Gesellschaft wird dich auf einen Gefühlsmenschen reduzieren.
Juliane: Das muss ich aushalten, Paul. Aushalten muss ich das, wenn ich selbst ein ganzer Mensch werden möchte.
Paul: Damit veränderst du die Welt auch nicht.
Juliane: Ich verändere aber mich, Paul. Und wenn ich mich verändere, verändere ich auch dich in meinem Geiste mit ... und ein bisschen die Welt dazu.
Paul wiederholt Juliane.
Paul: Du veränderst dich. Und in deinem Geiste mich mit?
Juliane: Ja, Paul, dich mit ... und ein bisschen die Welt dazu.
Paul: Und mich trägst du in deiner Wandlung in deinem Geiste mit?
Juliane: Natürlich, Paul. Und du sollst deinen Frieden finden.
Paul: Das höre ich gerne, Juliane. Und den Frieden draußen? Was ist mit dem Frieden draußen?
Juliane: Wie Olivia möchte auch ich lernen, mich in alle Menschen hineinzuversetzen, um deren Sichtweise und deren Charaktere urteilslos besser verstehen zu können.
Paul: Und der Feind, Juliane?
Juliane: Auch der Feind besitzt eine Seele, Paul. Was hat ihn zu einem Feind werden lassen? Wer wäre ich, wenn ich selbst diese Person mit allen seinen Erlebnissen sein würde? Ich möchte mich von der Weltanschauung trennen, die nur eine Wahrheit und einen Weg zulässt. Es existieren mehrere Wahrheiten und mehrere Wege, Paul.
Paul: Du begibst dich damit in eine schwere aber wichtige Richtung, Juliane.
Juliane: Deshalb, Paul, deshalb muss ich das tun. Weil diese Richtung wichtig und richtig für mich ist. Und außerdem bin auch ich ein Stück Welt. Allein und mit dir zusammen, auch wenn ich keine Kriege aufhalten kann.
Paul: Aber mit mir zusammen? Habe ich richtig gehört?
Juliane: Was sagten Olivias Eltern nochmal? Nur der Untergang sei das Schlimmste, für alles andere gäbe es immer eine Lösung.
Kurzes Nachdenken.
Juliane: Jawohl, Paul. Mit dir zusammen.
Paul: Wie schön Juliane. Dann kann mir der Tod jetzt nichts mehr anhaben.
Juliane: Ja, Paul. Jetzt kannst du friedlich sterben, während du in mir lebendig bleibst. Niemals werde ich dich vergessen, Paul.
Julianes weitschweifender Blick. Nachdenken.
Paul: Das ist beruhigend, Juliane.
Juliane: Vor den Taten kommen immer erst die Gedanken, Paul. Was wir gedacht haben, diese Ideen und Ideale sind unsere Reichtümer gewesen und sind es noch.
Paul: So habe ich das auch auch gesehen, Juliane.
Juliane: Aber unser Herz dürfen wir dabei nicht vergessen, Paul. Sonst sind wir niemals vollständig, niemals ganz. Andernfalls sind wir kastriert wie dieser Professor mit seiner ausgeschabten linken Brusthöhle.
Paul: Ich wünsche dir viel Glück dabei, Juliane.
Juliane: Wünsche du mir ruhig Glück, Paul, das kann ich gebrauchen. Ja, wünsche mir ruhig Glück. Während du mir Glück wünschst, gehe ich jetzt hinaus in die Welt, um aber auch das Schöne darin zu sehen, Paul, damit deine süßen Erdbeeren beim nächsten Besuch nicht mehr bitter schmecken.
Paul: Es wird für dich ein neuer Frühling kommen, Juliane.
Juliane: Das wird es, Paul.
Paul: Ars Vivendi, Juliane. Ars Vivendi.
Stille auf beiden Seiten.
Juliane in einer leisen Flüsterstimme: Mach's gut, Paul.
Ende
©️ Mirella Pagnozzi