Sonntag, 29. November 2020

Stefano Mancuso / Die unglaubliche Reise der Pflanzen (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wunderbares, inspirierendes Sachbuch zur Pflanzenkunde, das mich sehr nachdenklich gestimmt und mein Bewusstsein zu dem Leben der grünen Gewächse noch weiter geschärft hat. Man bekommt es hier mit vielen neuen Erkenntnissen zu tun, von denen ich zuvor noch nichts gehört habe. Aber manches kannte ich schon durch die Bücher von Peter Wohlleben, nicht nur, dass Pflanzen in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, sondern sie wie die anderen Mitseelen auch, Individuen seien. Ein paar weitere wichtige Aspekte fand ich äußerst interessant, denn ich wusste nicht, dass Pflanzen ein Geschlecht haben und sie demnach auch geschlechtsfähig wären und sie sich durch sexuelle Fortpflanzung vermehren würden. Wie sie das machen, hat Mancuso sehr schön in seinem Buch geschildert. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Um was geht es in diesem Buch?
Im ersten Kapitel geht es um Pflanzen als Pioniere, als Kämpfer und Heimkehrer. Im zweiten Kapitel geht es um Flüchtlinge und Eroberer. Im nächsten Kapitel bezeichnet der Autor die Pflanzen als Kapitäne, dann als Einsiedler und als Anachronisten zum Schluss. In jedem Kapitel geht der Autor auf diverse Pflanzenarten ein und beschreibt sie in deren Unterschiedlichkeit und  Individualität.

Mancuso betrachtet die Pflanzen durch ihre Verwurzelung als sesshafte Wesen, die aber nicht unbeweglich seien. Er beschreibt recht anschaulich, wie diese Pflanzen es schaffen, sich trotz ihrer Verwurzelung überall auf der Welt zu verbreiten und zu vermehren.

Er geht auch auf Pflanzen ein, die in Asien ihren Ursprung haben, und sie es fertiggebracht haben bis ins 17 Jhd. auch in Europa anzukommen und sich hier anzusiedeln. Mancuso beschreibt diesen Prozess als eine Migrationsbewegung. Migrationsbewegung, damit hatte ich bisher immer Flüchtlinge oder Arbeitsmigrant*innen in Verbindung gebracht. Nein, hier sind nicht die Menschen gemeint, sondern die Pflanzen, die migriert sind. Verursacht durch Nachbarpflanzen wie die Bäume oder durch Winde, durch Blätter oder durch Tiere, die die Samen als Transportpartner verstreut bzw. weitergetragen haben. Selbst über Meere gelangten verschiedene Samen auf europäisches Festland, ohne dass sie durch das Salzwasser eine Zerstörung erfuhren.

Wenn man sich mit Migrationsbewegung befasst, genügt ein Blick auf die Pflanzen, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen unaufhaltsamen Prozess handelt. Mithilfe von Spuren, Samen und allen verfügbaren Transportmitteln verbreiten sich die Gewächse von Generation zu Generation und erobern auf diese Weise neue Lebensräume. (202, 10)  

Der Autor zeigt auch auf, wie stark die Natur ist, dass selbst auf Ukrainisch kontaminiertem Boden durch das Reaktorunglück Tschernobyl zu beobachten sei, wie dort neue Pflanzen entstehen. Oder auf Fukushima in Japan. 2011 erlitt Fukushima durch ein Erdbeben einen Atomunfall, und dort sei ebenso zu beobachten, wie neue Pflanzen auf der kontaminierten Erde wachsen und sich auch Wildtiere ansiedeln.

In Fukushima überlebten drei Bäume das Reaktorunglück. An allen drei Bäumen soll jeweils eine Narbe zu sehen sein.

Es tröstet, dass die Natur symbolisch gedacht unser Desaster verzeiht. Aber wenn wir weiterhin achtlos mit der Natur umgehen und sie zerstören, dann zerstören wir in erster Linie uns. Und wir werden uns von der Zerstörung nicht erholen, die Pflanzen aber schon. Deshalb gilt es, achtsam mit der Natur umzugehen.

Anscheinend ist der Mensch noch um einiges tödlicher für Pflanzen als radioaktive Strahlung. Durch sein Fernbleiben wurde ungewollt ein riesiges Naturschutzgebiet geschaffen. Trotz der Strahlung ist die pflanzliche und tierische Vielfalt inzwischen größer als vor der Nuklearkatastrophe. Heute finden sich hier Luchse, Waschbären, Rehe, Wölfe (… ) unterschiedliche Vogelarten, Hasen und Eichhörnchen. Sogar der vor über einem Jahrhundert verschwundene Braunbär ist zurückgekehrt. (23) 

Macht dieses Zitat nicht nachdenklich? Dass der Mensch für die Umwelt gefährlicher ist als radioaktive Strahlen? Das bedrückt mich, wenn ich dies lesen muss.

Und die Pflanzen? Sie machten es sogar noch besser als die Tiere. Pripjad war eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern, in der auch die meisten Mitarbeiter des nur drei Kilometer entfernten Kernkraftwerks lebten. Sie wurde unmittelbar nach dem GAU vollständig evakuiert. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einen detaillierten Fotobericht über den heutigen Zustand Pripjad zu sehen. Es ist unfassbar, aber 30 Jahre nach der Katastrophe ist die ganze Stadt wie ein ukrainisches Angkor Wat mit Pflanzen bedeckt. Pappeln wachsen auf Dächern und Birken auf Terrassen, während Büsche aus dem Asphalt sprießen und sechsspurige Straße sich in grüne Flüsse verwandelt haben. (Ebd) 

Der Autor bezeichnet die Emigration der Pflanzen auch als Zeitreisende. Durch alle Zeiten reisten Pflanzen mithilfe von Transportpartnern durch den gesamten Erdball.

Zeitreisende existieren - zumindest solche, die aus der Vergangenheit zu uns in die Gegenwart gelangen. Sie sind überall zu finden und so zahlreich, dass wir sie schon gar nicht mehr wahrnehmen. Wer sind sie? Natürlich die Pflanzen - wer denn sonst? Einige Arten, vor allem Bäume, haben dank ihrer extremen Langlebigkeit, mit der kein Tier sich messen kann, ganze Epochen überdauert, um bis in die heutige Zeit zu überleben. Andere wiederum verwahren ihre Keimlinge in unglaublich widerstandsfähigen Samen und ermöglichen auf diese Weise ihren Nachkommen die Reise durch Raum und Zeit. (78)

Heimische Pflanzen? Gibt es sie?

Die meisten invasiven Tier - oder Pflanzenarten, die wir heute kennen, sind auf diese Weise zu uns gelangt. Und es gibt sehr viel mehr biologische Invasoren, als man meinen möchte. Tatsächlich sind zahlreiche Arten, von denen wir glauben, sie seien schon immer Teil unserer Umgebung gewesen, erst von mehr oder weniger langer Zeit eingewandert. Viele Pflanzen, die wir heute als Teil unseres kulturellen Erbes betrachten, waren ursprünglich Fremde, die sich inzwischen jedoch so gut integriert haben, dass wir sie nicht mehr als solche erkennen. (34)

Interessant fand ich auch die Genmanipulation verschiedener Pflanzenarten, deren Auswirkungen auf diese Pflanzen mir nicht richtig bewusst war. Man raubt ihnen dadurch nicht nur ihre Identität, sondern auch ihre Widerstandskraft. Die Genmanipulation durch die Lebensmittelindustrie birgt das Risiko, Pflanzen in ihrer Art auszurotten. Wer hat schon einmal eine Banane mit Samen gesehen? Ich zumindest nicht. Und bald wird es auch keine Trauben mit Kernen mehr geben und auch die Avocado ist auf bestem Weg, ihren Kern zu verlieren. Die Gefahr ist, dass diese Früchte, Tochterpflanzen genannt, anfällig sind für bestimmte Krankheiten. Sie sind nicht mehr resistent genug, diese abzuwehren. Eine Massenabfertigung ähnlich wie wir sie von der Tierhaltung aus der Landwirtschaft her kennen.

Beraubt man eine Pflanze jedoch die Möglichkeit, ihre eigenen Samen zu produzieren, degradiert man sie vom Lebewesen zum bloßen Produktionsmittel in den Händen an der Lebensmittelindustrie, die allein darüber entscheidet, welches Individuum sich wann, wo und wie vermehrt. Und das ist noch nicht alles. Eine kernlose Pflanze kann sich nicht mehr durch sexuelle Fortpflanzung vermehren, sondern nur noch vegetativ. Auf diese Weise werden einige wenige Individuen millionenfach reproduziert, Tochterpflanzen, die mit ihrer Mutterpflanze genetisch identisch sind. Die daraus resultierende geringere genetische Vielfalt birgt große Gefahren, denn ein einziger Parasit oder eine einzige Krankheit kann genügen, um ganzen Populationen den Garaus zu machen. (132f)

Dies waren nur ein paar Gedanken, die ich hier festgehalten habe. In dem Buch finden sich noch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die nachzulesen mehr als interessant sind.

Zum Schreibkonzept
Ein sehr schöner, flüssiger Schreibstil. Das Buch ist auf 138 Seiten in sechs Kapiteln mit Unterthemen gegliedert und in jedem Kapitel behandelt der Autor verschiedene Pflanzenarten. Sehr schöne kontinentale Aquarellzeichnungen sind mitabgebildet. Das Buch ist Mancusos Eltern gewidmet. Zum Schluss findet man ein paar Anmerkungen.

Cover und Buchtitel  

Beides super gut getroffen. Vor allem der Buchtitel hält, was er verspricht. 

Meine Meinung
Es hat mir viel Freude bereitet, dieses Buch zu lesen und es weckt meine Lust, am Thema dran zu bleiben.

Mein Fazit
Ein sehr zu empfehlendes Sachbuch nicht nur für Botaniker oder Pflanzenliebhaber*innen. Auch für ganz gewöhnliche Leser*innen wie mich hilft es, die eigene Sichtweise zu unseren grünen Mitseelen zu hinterfragen und auch das eigene Konsumverhalten ein wenig zu revidieren.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Ich habe vor ein paar Jahren eine italienische Bücherfreundin auf Facebook  getroffen, die mitbekommen hat, dass ich viele Fachbücher zu Tieren lese und hat mir Mancuso ans Herz gelegt. Ja, den Pflanzen parallel zu den Tieren auch Aufmerksamkeit widmen zu sollen, habe ich als ihre Botschaft aufgefasst. Ich habe zwar Peter Wohlleben eifrig gelesen, aber wen kenne ich schon von Botanikern anderer Länder? Und schon gar nicht aus Italien. In den deutschen Buchläden finden sich immer belletristische Genres zur italienischen Literatur, die griffbereit in den Regalen stehen. Besonderheiten müssen bestellt werden. Aber wenn man einen Autor hier nicht kennt, so kann es auch nicht bestellt werden. Deshalb ein großes Dankeschön an Giovanna Calvo, die in Kalabrien lebt.

Schön fand ich auch, dass meine neue Bücherfreundin P. G. das Buch als Bibliothekarin für ihre Stadtbibliothek anschaffen konnte, nach dem sie es selbst gelesen hat. Genauso wie ich war sie von dem Buch sehr angetan.

Danke auch an P. G.

Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung.

Meine Bewertung

Meine Bewertung Sachbuch

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik.
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

________________

Das Leben findet immer seinen Weg.
(Stefano Mancuso)

Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Samstag, 28. November 2020

Stefano Mancuso / Die unglaubliche Reise der Pflanzen - Aus dem Italienischen

 Klappentext  

Pflanzen sind die großen Reisenden auf unserer Welt. Sie sind überall angekommen, obwohl sie unbeweglich zu sein scheinen.

Sie machen den Blauen Planeten zur grünen Insel im Weltall. Die faszinierende, verblüffende Geschichte der größten Gruppe von »Lebewesen«, die wir als solche gar nicht wahrnehmen und (noch) nicht hinreichend wertschätzen. Am weitesten verbreitet auf unserem Planeten sind nicht Menschen, sondern Pflanzen, deren Intelligenz uns das Leben und Überleben überhaupt ermöglicht.

Sie verwandeln Wüsten in blühende Kontinente, sie breiten sich auch in den entlegensten Gegenden der Welt aus, ihr Lebenswille ist unbezwinglich. Sie sind der Inbegriff natürlicher Schönheit und empfindungsfähiger als Tiere. Pflanzen tauschen sich untereinander aus, sie kommunizieren und sind soziale Wesen. Die eigentlichen Pioniere der Erde sind die Pflanzen. Sie sind Flüchtlinge, Heimkehrer, Kämpfer, Einsiedler und Zeitreisende, und das ohne sich erkennbar zu bewegen. Mühelos verbreiten sich Pflanzen über alle Kontinente hinweg und machen seit fast 500 Millionen Jahren unseren Planeten zu einer fruchtbaren Erde.

Zahlreiche Aquarelle veranschaulichen die Schilderungen von Stefano Mancuso. Welche unglaublichen Leistungen Pflanzen, ohne die wir nicht überleben könnten, täglich vollbringen, führt der italienische Bestsellerautor eindringlich vor Augen. Denn wir wissen kaum etwas über die Pflanzen, und was wir wissen, ist falsch. Ein wunderbar gestaltetes Buch, das uns inmitten des Klimawandels auf die unerreichte Schönheit der Natur wieder und wieder achten lässt und mit ihr – und ihren Pflanzen – versöhnt. 

Autor*inporträt

Stefano Mancuso, geboren 1965 in Catanzaro - Kalabrien, ist Professor für Pflanzenkunde und einer der führenden Autoren des »Nature Writing«. Mancuso forscht und lehrt an der Universität Florenz, leitet das Laboratorio Internazionale di Neurobiologia Vegetale. Mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen gilt er international als der führende Pflanzenforscher. Sein Buch »Die Intelligenz der Pflanzen« stand monatelang auf der Bestsellerliste.

Meine ersten Leseeindrücke

Ein sehr interessantes Buch, das ich in dieser Art über Pflanzen bisher noch nicht gelesen habe. Viele neue Aspekte, die der Autor hier einbringt, haben mich sehr zum Nachdenken angeregt. Da ich das Buch eigentlich schon ausgelesen habe, werde ich morgen eine Buchbesprechung dazu schreiben.

Buchdaten

·       Originaltitel : L'incredibile viaggio delle piante

·       Gebundene Ausgabe : 154 Seiten

·       ISBN-10 : 3608981926

·       Herausgeber : Klett-Cotta; 2. Druckaufl. 2020 Edition (22. Februar 2020)

·       Sprache: Deutsch


Hier geht es zur Verlagsseite von Klett Cotta.

Hier geht es zu meiner späteren Buchbesprechung.



Montag, 23. November 2020

Raffaella Romagnolo / Dieses ganze Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was soll ich zu dem ausgelesenen Buch schreiben? Die Lorbeeren teile ich ganz gerne schon gleich in meinen ersten Zeilen meines Vorspannes aus. Aber dieses Buch hat mich eigentlich nach meiner Anfangseuphorie mehr ermattet. Zu viele komplexe Themen auf wenigen Seiten.

Als ich mich gestern Abend mit Anne über das Buch ausgetauscht hatte, Anne war damit längst durch, sind in mir tiefere Gedanken noch gar nicht zu greifen gewesen. Ich konnte sie erst am nächsten Tag, also heute, aus mir herauslocken, sodass ich sagen kann, dass ich das Buch im Nachhinein dennoch als relativ gelungen empfunden habe, wenn sich auch eine gewisse Differenziertheit an Personenbeschreibung vermissen ließ, wie ich dies später noch begründen werde.

Im unteren Teil habe ich eine kleine kritische Diskussion angeknüpft und dabei auch Romagnolo mit Ferrante verglichen. Immerzu ist aus mir heraus während des telefonischen Austauschs mit Anne ein Freudscher Versprecher herausgerutscht. Immer wieder vertauschte ich unbewusst Romagnolo mit Ferrante, bis ich mich hinterfragt hatte, was mir diese Versprecher sagen wollten? Tatsächlich konnte ich darauf eine hilfreiche Antwort finden, die ich anderen Leser*innen nicht vorenthalten möchte.

Wer nicht zu viel im Vorfeld über den Inhalt erfahren möchte, weil man das Buch selbst lesen möchte, so bitte ich, sich nur die Buchvorstellung oder die Handlung vorzunehmen. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
In dieser Handlung bekommt man es in retrospektiver Form mit einer italienischen Familie aus Piemont zu tun, die aus vier Genrationen besteht. Doch die Held*innen dieser gegenwärtigen Familiengeschichte sind Paola De Giorgi, 16 Jahre alt, deren jüngerer Bruder Ricardo aber auch deren Schulfreunde Antonio und Philippo Ferrari als Nebenfiguren. Paolo und Ricardos Eltern sind wohlhabend. Hier wird Geld verschwendet, wo anderswo hart dafür gearbeitet werden muss. Der Vater leitet eine Baufirma des Familienunternehmens seiner Frau Monica namens Costa Costruzione und ist von Beruf Bauingenieur. Paolas Mutter war eigentlich die Vorstandsvorsitzende dieses Betriebes, bis ihr Mann diese Rolle von ihrem Vater zugetragen bekommen hatte ... Beide Geschwisterkinder De Giorgi sind anders als der Durchschnitt der Kinder. Ricardo ist körperlich schwerbehindert und geistig etwas retardiert, obwohl dieses Kind Schach spielt. Auch zeigt er autistische Züge. Ricardos Behinderung passt nicht in dieses fadenscheinige Familienidyll. Und auch Paola scheint vor allem für die Mutter körperlich zu unattraktiv, zu plump, zu unperfekt zu sein, da sie nicht dem Schönheitsideal entspricht. Für ihr Alter und ihre Größe ist sie eigentlich noch normalgewichtig, aber ihre Mutter gibt ihr das Gefühl, fettleibig zu sein. Paoloa ist 1,74 m groß und wiegt 75 Kilo. Außerdem leidet sie unter ihrem Pferdegesicht ... Paola ist eine reflektierte Jugendliche, kommt dadurch mit ihren oberflächlichen Schulkameradinnen nicht zurecht. Auch bei ihren Eltern eckt sie durch viele Fragen an, stößt an Mauern, versucht, Tabus aufzubrechen, als z. B. plötzlich die Carrabinieri vor ihrer Haustüre steht ... Sie spürt, dass das Familienglück mit Geheimnissen und Lebenslügen überschattet wird. Sie vergleicht ihre Familie mit der von Antonio, der aus armen Verhältnissen kommt. Antonio wohnt in einem sozialen Brennpunkt, der sich Margeritensiedlung nennt. Diese Siedlung, die in Wirklichkeit PEEP (Piano, Edilizia Economica Popolare) heißt, verabscheut Paolas Mutter, was für die Jugendliche auf Unverständnis stößt ... Der Vater kommt abends spät nach Hause und zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück.

Das Hauptgeschehen spielt sich in der Gegenwart, im Zeitalter der sozialen Netzwerke wie Facebook und Co ab.

Ähnlich wie im Vorgängerbuch Bella ciao bekommt man es auch hier mit einer kühlen und liebesarmen Familie zu tun.

Zwischen Paola und Antonio entwickelt sich eine leise Liebesbeziehung ... Paola fühlt sich zu ihm hingezogen, da er anders ist als ihre anderen Schulkamerad*innen.

Die Autorin reißt in ihrem Buch recht sprunghaft viele Problempunkte an, die ich mal aufgelistet habe, weil ich unmöglich auf alle Themen eingehen kann, ich es aber gerne würde. Sie behandelt darin:

-   Häusliche Gewalt gegen Frauen in der ersten und zweiten Generation

-   Patriarchisches Gesellschaftssystem bis zur dritten Generation / Ungleiche Verteilung der Geschlechterrollen

-   Korruption

-   Illegale Geschäfte mit der Giftmüllentsorgung

-   Gegensätze Armut / Reichtum und Standesunterschiede aus den verschiedenen Generationen

-   Identitätsprobleme der jungen und der älteren Generation

-   Tabus

-   Fehlgeleiteter, gesellschaftlicher Wandel

-   Realitätsverzerrung / Realitätsflucht

-   Jugendliebe aus der zweiten und der vierten Generation mit Standesunterschieden

-   Sozialrassismus und patriotischer Rassismus

Eine zu starke Überfrachtung von Problempunkten, die vom Schreibstil her nicht bis zum Schluss ausgehalten wurden.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Das waren ein Haufen Szenen, die ich zum Teil im Groben gerne zusammenfassen möchte. Insgesamt scheint es hier um eine italienische Familie zu gehen, die ihre Probleme von Generation zu Generation weitergegeben hat, anstatt sich ihnen zu stellen, um sie zu bekämpfen. Ganz häufig zieht die Autorin Parallelen zu den Fantasyromanen Harry Potter und Herr der Ringe zurate. Wer diese Romane kennt, weiß, wie intensiv die Kämpfe gegen das Böse ausgetragen wurden. Ganz häufig flechtet die Autorin Aragorn in ihren Erzählmustern mit ein, der als ein Symbolträger für königlichen Mut steht. Er bekämpft das Böse samt dem Schwert, packt es an der Wurzel ... Aus Harry Potter wird der Weasley Junge Ron erwähnt, der bei einer Schlacht zusammen mit Hermine Voldemorts letzten Horkrux zerstört. Im Gegensatz zu diesen mutigen Kriegern scheint die Familie De Georgi in einem Status quo oder viel mehr einem Dornröschenschlaf verfallen zu sein. Die Familienmitglieder ertragen lieber ihr unerträgliches Schicksal, indem sie die Realitäten z. B. durch Shoppen und Erfüllung von Schönheitsidealen … ausblenden, als sich einem Kampf zu begeben, der sie von dem Bösen befreien könnte. Zu groß ist die Angst vor dem Statusverlust …

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Besonders gut hat mir gefallen, dass Antonios jüngerer Bruder Philippo keine Scheu vor Ricardos Behinderung hatte. Beide Kinder gingen eine Freundschaft ein und spielten gerne miteinander Schach und so trafen sie sich regelmäßig und heimlich zu Hause bei Antonio. Kinder sind doch häufig die größeren Lehrmeister*innen verglichen zu vielen unreifen Erwachsenen, wenn man bedenkt, dass Ricardo lange Zeit vor der Gesellschaft versteckt wurde.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Es waren die Kinder Paola, Ricardo, Antonio und dessen jüngerer Bruder Philippo. Die Rumänin Nina war die einzige Sympathische von den Erwachsenen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die gesamte italienische Erwachsenenwelt ist mir übel aufgestoßen. Diese Oberflächlichkeit und diese Verlogenheit fand ich widerlich. Statt Probleme anzupacken, um sie zu lösen, werden sie erfolgreich verdrängt, >denn Shopping, Paoletta, ist die einzige Medizin<. Aus der Sicht der Großmutter.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Das Mädchen auf dem Cover soll sicher Paola De Giorgi sein. Aber ein

Pferdegesicht hat sie hier nicht. Sie wirkt eigentlich recht hübsch und ansehnlich. Paola scheint durch die Mutter irgendwie in einer pubertären Wahrnehmungsverzerrung zu stecken. Erst dachte ich, dass dieses Pferdegesicht nur als eine Art Stimmung einer Jugendlichen dargestellt wird. Die innere Wahrnehmung, die durch die Mutter hineingelegt ist, macht aus Paola keine glückliche Jugendliche. Aber da sie auch von ihren Mitschüler*innen als Die Dicke mit dem Pferdegesicht verspottet wird, scheint sie tatsächlich etwas entstellt zu sein. Aber warum gibt das Cover dies nicht her? Will man die Leserschaft nicht verschrecken? Schade, dass man den Leser*innen immer schöne
Bildchen anbieten muss, um die Leselust zu stimulieren. Ich bin somit wieder neugierig auf das Originalcover geworden, das mich aber noch viel 
weniger angesprochen hat als das von Diogenes.

Und der Buchtitel? Dieser geht mehrmals aus dem Kontext hervor. Dieses ganze Leben übernommen aus dem Italienischen. Was machen wir aus unserem Leben? Wie füllen wir es aus? - war eine Frage, die sich mir aus dem Kontext heraus gestellt hat.

Zum Schreibkonzept
Dieser Familienroman ist auf 268 Seiten gepackt. Bevor es in die Familie geht, befinden sich auf den ersten Seiten eine Widmung und zwei einleitende Verse verschiedener Dichter. Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert. Es beginnt mit dem Monat April der Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der 16-jährigen Paola. Am Schluss findet man eine Anmerkung und die übliche Danksagung.

Ein paar kritische Gedanken

Was fand ich besonders an diesem Buch?
Besonders fand ich an diesem Buch, dass die mittellosen Kinder Antonio und Philippo in der Schule Klassenbeste waren und sie das Gymnasium besuchten. Endlich mal ein ins Deutsche übersetzter italienischer Roman über ärmere Kinder, die nicht als bildungsunwillig dargestellt wurden. Antonio sollte nach dem Abitur zur Uni wechseln und ging während der Sommerferien einer Aushilfstätigkeit nach, um etwas Geld dazuzuverdienen.

Besonders fand ich auch, dass die Figuren in ihrer äußerlichen Erscheinung wie Haar- und Augenfarbe durchmischt waren.

Besonders fand ich auch viele unterschiedliche Geschichten anderer Genres zum Vergleich, um die Probleme der Figuren zu verdeutlichen bzw. um ihnen den Spiegel vorzusetzen. Neben den Figuren aus den beiden Fantasieromanen denke ich hierbei auch an die Geschichte von Ciccio Kopflos. Dieses Einfließen jener Geschichten fand ich kreativ sehr gelungen. Allerdings ist unser Menschenleben kein zurechtgestrickter Fantasieroman, in dem man die Fäden der Figuren dahin lenken und strecken kann, wo man sie haben möchte. Im wirklichen Menschenleben bleibt vieles unberechenbar und unvorhersehbar. 

Realitätsüberprüfung
Der Rassismus zwischen den Nord- und den Süditaliener*innen ist heute weitestgehend nicht mehr anzutreffen, während bei Romagnolo die Süditaliener*innen noch immer mit dem abwertetenden Schimpfwort als terrone bezeichnet werden, die einen Status ähnlich wie Flüchtlinge aufgedrückt bekommen. In der Form, dass sie z. B. wieder zurück nach Hause gehen sollen. Aber dennoch finde ich es gut, dies zum Thema zu machen. Rassismus ist in Italien nach wie vor verbreitet, meist aber Menschen gegenüber, die aus anderen Kontinenten kommen. Andersherum gibt es aber auch recht viele Italiener*innen, die sich für diese Menschen sogar einsetzen.

Zu dem Rassismus den Landsleuten gegenüber habe ich verschiedene Südländer*innen befragt, die im Norden des Landes ihren Wohnsitz haben. Sie klagten über keinerlei Diskriminierungen etc. Sie fühlen sich gleichbehandelt.

Das hat mich gefreut zu hören, weil es ja doch Entwicklungen zu geben scheint. Aber gewisse Vorurteile wird es auch immer geben, das ist mir bewusst, dass sie bei einigen Menschen, wie überall auch, nicht auszurotten sind.

Auch behinderte Menschen werden nicht mehr von der Gesellschaft versteckt, sondern in der Gesellschaft integriert. In den Schulen werden behinderte Kinder inkludiert. Was verkauft uns Romagnolo für ein italienisches Menschenbild? Behinderte Menschen haben es in diesem Land nicht besser und auch nicht schlechter als woanders in Europa auch. Behinderte Menschen werden je nach Grad der Behinderung sogar in verschiedenen beruflichen Sparten eingesetzt. Schlechtenfalls bilden sie eine Parallelgesellschaft, wie sie auch in Deutschland anzutreffen ist. Auch in Deutschland ist die Inklusion längst kein abgeschlossener Prozess.

Italien war immerhin eines der ersten Länder, das behinderte Menschen in den 1970er Jahren aus Isolier- und Verwahrstationen befreit hat … In belletristischer Literatur, die ins Deutsche übersetzt werden, tauchen diese und andere Entwicklungen des Landes nicht auf, hierbei muss man auf Fachbücher oder auf Biografien zugreifen, was ich sehr schade finde, weil diese Art von Büchern von vielen nicht gelesen werden. 

Hier ein Link zur Behandlung von behinderten Menschen in Italien.

Was hat mir gefehlt?
Mir haben erwachsene Figuren mit differenzierteren Charakterstrukturen gefehlt. Überall auf der Welt gibt es verschiedene Menschentypen, die ihr (kompliziertes) Leben unterschiedlich in die Hand nehmen. Auch in Italien gibt es jede Menge Kämpfernaturen, die sich nicht mit ihrem durch die Geburt verschrienen Schicksal einfach zufriedengeben und gestalten daraus das Bestmögliche. Auch in Italien gibt es Menschen, die komplett andere Wege gehen als die Figuren in diesem Roman. Diese Art von Menschen haben mir hier einfach gefehlt. Neben dem Bösen hat mir das Gute gefehlt. 

Mitunter auch fehlende Vorbilder
Ein anspruchvolles Buch, das nicht nur zur reinen Unterhaltung dient, sollte auch positive Vorbilder aufleben lassen und nicht ausschließlich über abschreckende Figuren schreiben. 

Romagnolo und Ferrante im Vergleich
Ist Romagnolo vielleicht die Antwort auf Ferrante? Das erweckt den Eindruck, wenn man Ferrante naiv liest und man Romagnolo mit ihr vergleicht. In den Familien beider Romane gibt es wenig differenzierte Charaktere unter den Erwachsenen, während bei Ferrante die Menschen durch ihren existentiellen Kampf von Grund auf als böse, dumm und als gewaltsam triebgesteuert dargestellt werden, so könnte man bei Romagnolo glauben, dass sie das sind, weil sie sich nicht mit ihrem Schattendasein befassen. Diese Figuren packen in beiden Romanarten das Übel nicht an der Wurzel, um es herauszureißen und bleiben ewig in ihrem Leid und in dem Bösen gefangen … Wären wirklich alle Menschen dort gleich, könnte man das auch tatsächlich so glauben und so hinnehmen. Sie sind aber nicht alle gleich. Das habe ich schon als Kind begriffen, dass die Welt überall unterschiedliche Charakterformen hat, selbst dann noch, wenn man einer homogenen Gesellschaft angehört. Überall auf der Welt gibt es gute und weniger gute Menschen. Und das ist nicht mal abhängig vom sozialen Hang und Rang der verschiedenen Gesellschaftstypen eines Landes. Warum sollte das in Italien denn anders sein?

Eine italienische Apokalypse
Wie bei Ferrante ist auch dieses Buch von einer Apokalypse gezeichnet, und ich mich frage, wie es kommt, dass Italien nicht längst dem Untergang geweiht ist? Irgendwas Gutes muss es auch in diesem Land geben, wenn das Böse so mächtig ist, das am Ende sich selbst auffressen müsste. Mit einem Lupenblick suchte ich vergeblich nach gesunden Erwachsenen … Ich suchte vergeblich nach der zweiten Seite der Medaille, was ich sehr schade fand.

Deshalb weigere ich mich, dieses einseitige italienische Menschenbild anzunehmen, auch wenn mir die Probleme dort durchaus bewusst sind. Aber sie haben auch Stärken. Mir wurde immer wieder von Italiener’innen versichert, dass ich nach Italien kommen sollte und italienische Bibliotheken aufsuchen müsste, wenn ich über ein differenzierteres Italien lesen möchte. Warum werden diese Bücher nicht ins Deutsche übersetzt? Ich bin der italienischen Sprache leider nicht mächtig genug, um diese Bücher verstehen zu können. Aber ich freue mich, dass ich Zugang zu diesen Menschen habe und ihnen Fragen stellen kann, die mir helfen, sie mit differenzierten Antworten zu füllen.

Mein Fazit
Absolut ein beachtenswerter Roman für kritische Leser*innen. Für Unkritische hinterlässt das Buch leider wieder ein nur sehr einseitiges und klischeehaftes, stereotypes italienisches Gesellschaftsbild, das die Menschen auf ihre Schwächen und Probleme reduziert. Da ich dieses Bild durch deutsche Medien aber schon von Kind auf nur zu gut kennenlernen musste, bin ich reichlich gesättigt davon, daher hat es für mich nun die Konsequenz, von übersetzter italienischer Belletristik auf Biografien umzusatteln. In guten Biografien bekommt man es mit Tatsachenberichten zu tun. Mit Oriana Fallaci war ich z. B. mehr als positiv überrascht. Diese fiktiven Romane, die über Jahrzehnte hinweg eine einseitige italienische Lebenswelt darstellen, muss ich leider immer wieder hinterfragen, weil sie mir durch ihre Undifferenziertheit so wenig glaubhaft erscheint.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Da ich von der Autorin den historischen Roman Bella ciao gelesen habe, der mir viel besser gefallen hat, bin ich auf die neue Romagnolo durch den Diogenes Verlag aufmerksam geworden.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte; künstliche oder glaubwürdige Erzählweise
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Acht von zwölf Punkten.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für fas Leseexemplar. 

Hier geht es zu Annes Buchbesprechung.

Hier  geht es zum Vorgängerwerk Bella ciao.

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In jedem Land gibt es gute
und weniger gute Menschen.
Die Welt ist bunt,
das liegt schon in der Natur der Schöpfung.

Gelesene Bücher 2020: 23
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

 

Montag, 16. November 2020

Raffaella Romagnolo / Dieses ganze Leben

 Lesen mit Anne

Klappentext  

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Paola passt nicht in diese Welt, findet sie. Wo Glanz und Erfolg das Maß vorgeben, hält sie sich lieber an ihren Bruder, der im Rollstuhl sitzt, gerne Schach spielt und auf Likes pfeift. Auf Verordnung ihrer Mutter muss Paola täglich mit Richi an die frische Luft. Eine gute Gelegenheit, der Enge der elterlichen Villa zu entfliehen und Gegenden zu erkunden, wo Paola das wahre Leben vermutet – das so ganz anders ist, als sie dachte.

Autor*inporträt

Raffaella Romagnolo, geboren 1971 in Casale Monferrato. Sie unterrichtet Geschichte und Italienisch an einem Gymnasium. Seit 2007 schreibt sie auch Romane – mit Erfolg. Ihr Roman ›Bella Ciao‹ sorgte international für Aufmerksamkeit und erschien in zahlreichen Sprachen. Für ›La figlia sbagliata‹ war sie für den Premio Strega nominiert, ebenso mit ihrem Jugendbuch ›Respira con me‹. Raffaella Romagnolo lebt in Rocca Grimalda im Piemont.

Meine ersten Leseeindrücke

Ich befinde mich gerade auf der Seite 135. Der Roman wirkt verglichen zum Vorgänger Bella ciao ein wenig still, was ich angenehm empfinde. Doch auch hier bekommt man es mit einer recht kühlen Familie zu tun, die auf einer anderen Art in einem Lebenskampf steckt.

Ich bin noch weiter auf dieses Buch gespannt, das thematisch in eine völlig andere Richtung geht und dessen Familiengeschichte aus der Perspektive einer 16-jährigen Jugendlichen namens Paola De Giorgi erzählt wird, die durch ihr leichtes Übergewicht in Identitätsproblemen steckt, und sie sich komplett als hässlich bezeichnet. Sie entspricht außerdem nicht dem Schönheitsideal ihrer Mutter.

Aber nicht nur dies. Ich befinde mich gerade auf der Ebene, auf der Paola durch das merkwürdige Verhalten seitens ihrer Eltern Geheimnisse und Lügen aufdecken möchte.

Ich bin gespannt, wohin uns die Reise noch führen wird.

Buchdaten

·       Originaltitel : Tutta questa vita

·       Gebundene Ausgabe : 272 Seiten

·       ISBN-10 : 3257071442

·       Herausgeber : Diogenes; 1. Edition (28. Oktober 2020)

·       Sprache: Deutsch

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Montag, 9. November 2020

Mahatma Gandhi / Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist der Weg (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wundervolles Buch, ausgesprochen gute Reden / Texte, was mich nach dem Lesen weiterhin inspiriert hat, eine Biografie von Gandhi unbedingt lesen zu wollen, da ich noch mehr Hintergründe zu seiner Kindheit und zu seiner Herkunftsfamilie in Erfahrung bringen möchte. Dass Gandhi in jeder Form ein gewaltfreies Leben präferiert hatte und er Vegetarier war, diese Details scheinen allgemein bekannt zu sein. Aber wer war Gandhi als Junge? Er wurde schon sehr früh mit einem gleichaltrigen Mädchen verehelicht. Leider gab das Buch darüber keine weiteren Auskünfte preis, sodass ich online ein wenig habe eruieren müssen. Angeblich sei Gandhi mit sieben Jahren verheiratet worden. Ich konnte mir das so schwer vorstellen, da beide Kinder aufgrund ihres Alters noch unmündig waren. Ist das wirklich zu  glauben? Das fand ich ein wenig schade, dass eine genaue Zahl darüber im vorliegenden Buch explizit nicht zu entnehmen war.

Ansonsten fand ich in dem Buch alles eindrucksvolle Texte aus Gandhis politischem, gesellschaftlichen und religiösen Leben, wie ich weiter unten noch beschreiben werde.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Innerlich konnte ich mich mit vielen der Reden, die Gandhi verfasst hatte, außerordentlich gut identifizieren, wobei ich mich keineswegs als eine Weltverbesserin halte. Aber die vielen Gedanken, die ich mir im Stillen über mein Weltbild mache, habe ich in Gandhis Texten wiedergefunden, und er macht Mut, dran zu bleiben, sich nicht an die gesellschaftlichen Vorgaben, die der allgemein üblichen Denkweisen entsprechen, anzupassen, wenn sie anderen direkt und oder indirekt damit schaden.

Doch Gandhi war nicht nur ein großer Denker und Redner, er war auch Praktiker. Er hat es geschafft, in verschiedenen indischen Dörfern Grundschulen zu gründen, um viele Kinder von der Straße und von der Kinderarbeit zu entlasten.

Gandhi war auch fähig, Menschen alle gleich zu betrachten. In seiner Rede Gleichheit für alle Menschen fand ich Folgendes zu lesen:

Durch das Zusammenspiel vielfältiger Ereignisse in meinem Leben kam ich mit Menschen vieler Glaubensrichtungen und Gemeinschaften in engen Kontakt, und nach meinen Erfahrungen mit all diesen Menschen darf ich wohl sagen, dass ich nie zwischen Verwandten und Fremden, Landsleuten und Ausländern, Weißen und Farbigen, Hindus und Indern anderen Glaubens - seien sie Muslime, Parsen, Christen oder Juden - unterschieden habe. (2019, 41)

Dieses Zitat fand ich persönlich genial, gerade wir Menschen aus der westlichen Welt schauen sehr oft herablassend auf Kulturen, die nicht der eigenen entsprechen, und bezeichnen diese häufig als rückständig. Ohne zu bedenken, dass jeder Mensch in jedem Land, in das er hineingeboren wird, andere Voraussetzungen vorfindet. Jeder Mensch findet andere Vorgaben, andere Instrumente vor, mit denen er sein Leben bestmöglich gestalten muss. Als DeutscheR ist es leicht zu sagen, dass z. B. Frauen aus den muslimischen Ländern, die Kopftücher tragen, mittelalterlich seien, ohne selbst dort aufgewachsen zu sein. Noch nie sind so viele Menschen um die Welt gereist wie heute, aber noch nie waren die Missverständnisse zwischen den Kulturen so groß wie heute.

Schon die Medien verbreiten Halbwahrheiten und sorgen für große Divergenzen, wo ich häufig innerlich dem widerspreche, weil mich vieles kritisch stimmt. Gandhi lebt die Botschaft der Liebe und der Empathie vor. Nur mit Empathie ist es möglich, Wissen im Umgang mit anderen Menschen unabhängig der Kultur und der Glaubensrichtung umzusetzen.

Der Kongress glaubt nicht an die Vorherrschaft einer Gruppe oder Gemeinschaft. Er glaubt an eine Demokratie, in der Muslime, Hindus, Christen, Parsen und Juden den gleichen Rang einnehmen-alle Religionsgemeinschaften, die dieses weite Land bewohnen. (52) 

Allerdings bezieht Gandhi, wie aus seinen anderen Texten hervorgeht, diese Sichtweise nicht nur auf die Unterschiede der Religionsgemeinschaften, sondern auch auf die Unterschiede der Lebensweisen verschiedener Länder.

Die Botschaft der Liebe richtet er an seine eigenen Landsleute, die durch die britische Kolonialisierung viel Leid und Gewalt erlitten hatten.

Ich möchte, dass ihr die Botschaft Asiens versteht. Sie kann nicht durch die westliche Brille gesehen werden oder durch die Nachahmung der Atombombe. Wenn ihr dem Westen eine Botschaft bringen wollt, muss es die Botschaft der Liebe und der Wahrheit sein. Ich möchte, dass ihr von hier weggeht mit dem Gedanken, dass Asien den Westen durch Liebe und Wahrheit erobern muss. Ich möchte nicht bloß an euren Verstand appellieren, ich möchte euer Herz gewinnen. (...) Selbstverständlich glaube ich an die >eine Welt<. Wie könnte ich auch anders, da ich die Botschaft der Liebe, die diese großen, unbesiegbaren Lehrer uns hinterlassen haben, geerbt habe? In diesem Zeitalter der Demokratie, in diesem Zeitalter des Erwachens der Ärmsten der Armen könnt ihr diese Botschaft mit dem größten Nachdruck erneuern. Ihr werdet die Eroberung des Westens vollenden, nicht durch Vergeltung dafür, dass ihr ausgebeutet worden seid, sondern mit wirklichem Verständnis. Ich vertraue darauf, wenn ihr alle eure Herzen vereinigt - nicht bloß eure Köpfe -; um das Geheimnis der Botschaft zu verstehen, die diese weißen Männer des Ostens uns hinterlassen haben, und wenn wir uns dieser großen Botschaft wahrhaftig würdig erweisen, wird die Eroberung des Westens vollendet sein. Selbst der Westen wird die Eroberung lieben. (53) 

Der Umgang mit anderen Religionen

Bei >Toleranz<  mag die unbegründete Annahme mitschwingen, andere Glaubensrichtungen seien der eigenen unterlegen, und Respekt lässt auf ein gönnerhaftes Verhalten schließen, während Ahimsa (Gewaltlosigkeit, Anm. der Autorin) uns lehrt, der Religion der anderen dieselbe Achtung entgegenzubringen, wie wir sie unserer eigenen gegenüber empfinden. Auf diese Weise räumen wir die Unvollkommenheit unserer eigenen Religion ein.

Die Religion unserer Vorstellung - unvollkommenen, wie sie ist - ist stets einem Prozess der Entwicklung und Neuinterpretation ausgesetzt. Nur so ist es möglich, in Richtung Wahrheit, in Richtung Gott fortzuschreiten. Und wenn alle von Menschen entworfenen Glaubensvorstellungen unvollkommen sind, stellt sich die Frage, ob die eine oder die andere besser ist, überhaupt nicht. Alle Religionen sind eine Offenbarung der Wahrheit, doch sind alle zugleich unvollkommen und dem Irrtum unterworfen. Die Verehrung für andere Religionen muss uns nicht blind machen für ihre Fehler. Ebenso müssen wir uns der Fehler unserer eigenen Religion voll bewusst sein, es dabei aber nicht bewenden lassen, sondern versuchen, diese Fehler zu überwinden. Bei einer unvoreingenommenen Betrachtung aller Religionen würden wir nicht nur nicht zögern, sondern es für unsere Pflicht erachten, in unseren Glauben jeden annehmbaren Zug der anderen Religionen aufzunehmen. (107) 

Wobei wir in einem Zeitalter leben, in der die Religionen in unserem eigenen Land immer mehr in den Hintergrund treten. Größtenteils gibt es in unserer kulturellen Entwicklung keine göttliche Instanz mehr. Dennoch ist es hilfreich, Achtung anderen Glaubensrichtungen einzuüben, bezogen aber auch auf die unterschiedlichen Kulturen. Auch unsere gesellschaftlichen Normen und Bestimmungen sind nicht perfekt, sondern immer weiter verbesser- und ausbaubar. Auch bei uns sind, anders als in anderen Ländern, z. B. die Geschlechterrollen noch immer ungleich verteilt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Gandhi wurde von den Engländern aufgefordert, sein vegetarisches Essverhalten aufzugeben, da nur Fleisch aus einem Mann einen starken Mann machen könne. Noch nie in seinem Leben hatte Gandhi Fleisch gegessen und hat sich dennoch dazu bringen lassen, es zum ersten Mal mit Ziegenfleisch zu probieren. Die Erfahrung damit fand ich zwiespältig. Einerseits traurig, dass Gandhi von den Engländern dazu gedrängt wurde, andererseits musste ich über die folgende Auswirkung so sehr lachen:

Das Ziegenfleisch war zäh wie Leder, ich konnte es einfach nicht hinunterschlucken. Mir wurde übel, und ich musste mit dem Essen aufhören.

 Danach hatte ich eine schlechte Nacht. Furchtbarer Albtraum quälte mich. Jedes Mal, wenn ich gerade eingeschlafen war, meinte ich, eine lebendige Ziege in mir meckern zu hören, und schreckte voller Schuldgefühle hoch. (134) 

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass Gandhi auch Tiere achtet und sie nicht unter die Menschen stellt, sondern sie gleichrangig behandelt.

Für mich ist das Leben eines Lamms nicht weniger wertvoll als das eines Menschen. Ich wäre nicht bereit, dem leiblichen Bedürfnis zuliebe das Leben eines Lamms zu opfern. Je hilfloser ein Geschöpf ist, umso mehr Anspruch hat es nach meiner Überzeugung darauf, vom Menschen vor der Grausamkeit des Menschen geschützt werden. (138) 

Dieses Zitat finde ich sehr schön. Wir essen Fleisch, weil es alle tun, ohne uns bewusst zu machen, wie viel Leid z. B. in einer Wurst steckt, die einmal Tier gewesen ist.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich mit allen Texten Gandhis identifizieren können. In allen seinen Reden konnte ich mich innerlich wiederfinden, nur dass ich das nicht so sehr nach außen trage, außer dass ich darüber schreibe.

Cover und Buchtitel
Beides finde ich sehr ansprechend. ... denn der Frieden ist der Weg, ist allerdings auch eine Entwicklung, die wir Menschen uns erst erarbeiten müssen. 

Zum Schreibkonzept
Auf den 176 Seiten ist das Buch in mehreren kurzen Kapiteln unterteilt. Es beginnt mit einer Einleitung und endet mit interessanten Aphorismen. Die Kapitel / Themen sind kurzgehalten und wenig ausschweifend. Manchmal ist auch eine Jahreszahl hinzugefügt. Die Texte beinhalten verschiedene Vorträge zu Menschenrechten, zu den unterschiedlichen (Welt)religionen, zum Weltfrieden sowie auch zur Ernährung und zur gesunden Lebensweise, um nur ein paar zu nennen.

Meine Meinung
Auch wenn ich mit dem Kastensystem der Hindus wenig anzufangen weiß, finde ich die Haltung Tieren gegenüber sehr vorbildlich und gerecht. Während im Christentum Tiere für die Sünden der Menschen durch Töten geopfert werden, finden diese Riten bei den Hindus definitiv nicht statt. Wer den Hinduismus achtet, lässt auch kein Tier für den Fleischverzehr schlachten. Dennoch lebte Gandhi gesund, wie dies im Kapitel Ernährung und Gesundheit zu entnehmen ist.

Fazit
Sehr eindrückliche und nachdenkenswerte Texte. Ein recht dünnes Werk zwar, aber jede Seite habe ich als sehr gehaltvoll empfunden. Es hat mir viel Freude bereitet, diese Texte zu lesen, da sie von der Entstehung bis heute noch immer zeitgemäß geblieben sind.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Zufälligerweise habe ich das Buch durch ein anderes Buch im Internet entdeckt. Auf jeden Fall möchte ich nach dieser Gandhi-Lektüre eine Biografie hinzuziehen.   

Meine Bewertung Sachbuch

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik.
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkte

Zwölf von zwölf Punkten.

Vielen herzlichen Dank an den Kösel Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

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Wo Toleranz, Nächstenliebe und Wahrheit herrschen,
können selbst Unterschiede lehrreich sein.
(Mahatma Gandhi)

Gelesene Bücher 2020: 21
Gelesene Bücher 2019: 34
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Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)