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Sonntag, 14. Juli 2019

Proust und die Korrespondenz mit Maria Hahn

Seite 183 – 194   

August 1895, 24 Jahre

Auf den folgenden Seiten fand ich die Konversation mit Reynaldos Schwester Maria Hahn recht spannend. Proust befindet sich mit Reynaldo in der Normandie. Von schlaflosen Nächten geplagt schreibt er Maria.

Er bezeichnet Maria als die intelligenteste Frau, die er kennen würde. Er hat ihr seine Novelle, La morte de Baldassare Sylvande … zugeschickt mit der Bitte um eine (konstruktive?) Kritik. Er scheint sehr viel Wert auf Marias Meinung zu legen. Aber scheinbar bleibt eine Antwort aus, was Proust sichtlich irritiert:
Ich weiß nicht mehr, wie ich es mit Baldassare machen soll, denn ich muss ihn jetzt an eine Zeitschrift schicken und werde also Ihre Anmerkung nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Meinung ist aber so ungefähr die einzige, die mir wichtig ist, und wenn man dann, sobald die Sache in dem Band erschienen ist, darüber redet oder schreibt, wird mich das sehr viel weniger interessieren als die Meinung der intelligentesten aller Frauen. Ich weiß also nicht mehr, wie ich es anstellen soll. Wenn es nur einige Zeilen sind, können Sie mir Ihre Beobachtungen abschreiben … Auf jeden Fall möchte ich Sie darum bitten, den Baldassare an Madame Proust (…) zu schicken, die ihn an den Direktor der besagten Zeitschriften weitersenden wird. (183)

Über folgende Textstelle musste ich so lachen, denn Proust ist nie an Worten verlegen. Weiter schreibt er:
(…) Sie sind mit all unseren Eindrücken verbunden, o meine Schwester Maria, Vertraute meiner Gedanken, Leuchtfeuer der umherirrenden Tristesse, Beschützerin der Schwachen, Pflegerin der Kranken, Quell´der Güte, Würze des Geistes, aufblühende Rose, beherzte Sanftmut, Brise über dem Meer, Lied der wackeren Ruderer, zartes Kräuseln der Wellen, Glorie des Morgens, Duft der Freundschaft, Seele der Abende, die Sie (freundliches Gestirn) mit Ihren Feuern erhellen, (…) mit Ihrem Lachen beschwingen, das abwechselnd Echo des Geistes und seine Stimme ist, Abende, die sie Ihren Kleidern einen moralischen Reiz verleihen, Bescheidenheit oder Adel, literarische Eigenschaften, Kürze, Schleier, geworfen über ein Zuviel an Glanz … (184)

Puh, Proust kann einfach keinen Punkt setzen. Gerne hätte ich den Rest dieses Briefes noch abgeschrieben, aber da fehlt es mir an Geduld, auch wenn ich diesen Marcel stark bewundere, wie fantasievoll er seine Gedanken niederzulegen weiß. Und wie mutig, dass er so viel Persönliches von sich preisgibt. Mutig, dass er Menschen schreibt, was er von ihnen hält. Hier in seinen Briefen sind es meist wohlwollende Worte. Obwohl ich mich immer wieder frage, ob er den Menschen zu sehr Honig um den Mund schmiert.

Die Novelle Baldassare hätte ich gerne selbst auch gelesen, weshalb ich schon letztes Wochenende nach ihr im Netz erfolglos recherchiert hatte.

Einen Brief später schreibt Proust Maria wieder jede Menge Schmeicheleien.
(…) Aber da wir im Leben alle gehalten sind, ungleich bedeutende Wandlungen mit unserer Aufmerksamkeit zu bedenken, wäre dieser Wandel es vielleicht nicht wert gewesen, dass ich Sie mit einem Brief belästige und ihm so viel Beachtung schenke, wenn ich darin nicht sogleich das gemeinsame Werk dreier Zuträger entdeckt hätte, die für mich des größten Interesses würdig sind, ich meine Ihre Güte, Ihre Klugheit, die sich in Takt, Gespür, Feinfühligkeit usw. äußert, soweit Ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Sie werden das gewiss abstreiten, denn Personen, die Gutes tun und wissen, wie man es anstellt, wirken im Verborgenen. (Anm. d. Verf.) Auch ich, wenn ich es wagen darf, mich ein kleinwenig mit Ihnen zu vergleichen, bereite im Verborgenen, im Stillen die Bahnen jener, die ich liebe, zerstreue hier Bedenken, säe dort von langer Hand ein Gefühl, der Sympathie aus, bin über alle Maßen glücklich, wenn ich es in voller Blüte sehe und dabei meine Fäden, die ich immer fest in der Hand halte, unsichtbar bleiben. (185)

Den letzten Satz finde ich noch besonders nachdenkenswert. Proust, der die Fäden in der Hand hält, der seine Mitmenschen führt und lenkt, als seien sie  Marionetten. Das bedeutet für mich, er manipuliert auch seine Mitmenschen, was ich schon länger im Stillen für mich gedacht hatte, nur noch nicht ausgesprochen habe, da ich noch nach Beweisen suchte. 

Auf den weiteren Seiten erfährt man etwas über Prousts berufliche Entwicklung. Darüber schreibt er im März 1896 um Rat bittend an Reynaldo.

Er lässt fragen, wo er Monsieur Neveux, Bibliothekar an der Manzarine Bibliothek, treffen soll. Denn Proust hat sein Lizenziat in französischer Literatur am 27.03.1895 erhalten. Proust hätte eine Anstellung im Unterrichtsministerium bekommen, wollte sich dem aber entziehen, da dies eher eine Beamtenlaufbahn, langweilige Bürotätigkeiten mit sich bringen würden und mit Reymonds Hilfe lieber an einer Kunstschule, an der Ecole des Beaux-Arts, unterrichten möchte. Doch aus der Sicht seiner Eltern wäre er für diese Arbeit überqualifiziert. Nun, so bleibt es noch offen, wie sich Prousts beruflicher Werdegang weiter entwickeln wird. Aber er wird sich durchsetzen können. Er hat es schon sehr weit gebracht, einen Weg einzuschlagen entgegen der elterlichen Erwartungen, auch wenn man noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, welche Institution er beruflich nun letzten Endes begleiten wird. 

Des Weiteren erfährt man aus diesem Brief, dass Proust seit dem Sommer 1895 an einem Roman Jean Santeuil schreibt. Ich vermute, dass dies der Roman ist, in dem er über seinen Freund Reynaldo schrieb, den er in die fiktive Figur des Jean Santeuil gepackt hat.

Meine Meinung
Gestern wusste ich noch nicht, ob ich über diese zehn Seiten etwas schreiben wollte, dann hatte ich mich doch dafür entschieden, weil ich Reynaldos Schwester Maria von ihrer Persönlichkeit her so interessant fand, die ich hier unbedingt festhalten möchte. Wer ist Reynaldos Schwester? Habe verzweifelt im Netz nach einem Foto und nach weiteren Daten recherchiert, konnte selbst im französischsprachigen Wikipedia nicht fündig werden. Daraufhin habe ich mich heute Morgen mit Anne über WhatsApp ausgetauscht, da ich auf dem Sprung war und ich nicht viel Zeit hatte. Und ehe ich mich versah, war es Anne, die eine Fotografie im französischsprachigen Netz hat finden können. Wow, Anne hat ein Goldhändchen. Sie ist dafür bekannt, dass sie das findet, woran andere scheitern. Ich habe mich so darüber gefreut. Später werde ich mit ihr telefonieren, da wir uns noch über die Briefe austauschen wollten.

Nochmals kurz ein paar Informationen zu den Hahns. Woher kommen sie? Der Name Reynaldo klingt südamerikanisch und der Familienname Hahn deutsch.

Aus Wikipedia geht hervor, dass die Familie Hahn tatsächlich aus Südamerika, Venezuela, stammt. Die Mutter, Elena María de Echenaguciawar spanisch-baskischer Abstammung. Der Vater, Carlos Hahn, war deutsch-jüdischer Kaufmann, Ingenieur und Erfinder und kam aus Hamburg. Der Vater wanderte nach Südamerika aus, um dort sein Glück zu machen. Hier lernte er seine Frau kennen, und beide bekamen zehn Kinder. Fünf Jungen und fünf Mädchen. Reynaldo war der Jüngste unter seinen Geschwistern. Aus politischen Gründen siedelte die Familie 1878 nach Paris um. Hier war Reynaldo fünf Jahre alt.

1940 verließ Reynaldo wegen der Judenverfolgung Paris, kehrte nach dem Krieg wieder zurück. 

Im zweiten Band aus Proust Briefen geht hervor, dass Maria Hahn 1864 geboren wurde und starb 1948. Sie wurde 84 Jahre alt. Auch sie blieb bis zu Prousts Tod, 1922, mit ihm freundschaftlich verbunden. Weitere Details zu Maria sind dem Buch zu entnehmen. 

Es gibt ein paar Unterschiede zwischen Wikipedia und dem Briefband. Wikipedia schreibt, dass Reynaldo fünf Schwestern hatte, im Buchband sind es aber nur vier. 

Am 28.01.1947 starb Reynaldo mit 73 Jahren. Er wurde auf dem Pariser Friedhof Pére Lachaise begraben.

Telefonischer Austausch mit Anne
Auch Anne bewundert Prousts Sprache, wie versiert und fantasievoll er sich auszudrücken weiß. Mutig zu sein, sein Innerstes herauszukehren, um Menschen immer zu sagen, welche Meinung er von ihnen hat, hatte Anne verglichen zu mir nicht mit Mut in Verbindung gesetzt, sondern dass er nicht anders konnte, als sich zu zeigen wie er war, und seine Mitmenschen ihn nur als offenherzig kannten.

Dass er den Menschen so sehr schmeichelt, das fand auch Anne, vor allem der Maria Hahn gegenüber, mit wie vielen Metaphern seine Briefe ihr gegenüber bestückt sind, war einerseits sehr bewundernswert, andererseits wissen wir nicht, ob diese Briefe nicht auch humoristisch zu verstehen sind? Wie war Prousts Humor? Da Proust eine hohe Meinung von Maria hatte, stellte ich mir die Frage, ob sie nach so vielen Komplimenten überhaupt in der Lage ist, Prousts literarische Texte sachlich in Augenschein zu nehmen? Da Maria auf dem Foto eine sehr resolute Ausstrahlung versprüht, als eine gestandene Dame, so konnten wir es uns beide trotzdem gut vorstellen, dass sie dazu durchaus fähig ist.

Anne und ich haben nun beide fast zweihundert Seiten geschafft. Es macht uns noch immer Freude, die Briefe zu lesen.

Die nächsten Briefe, von Seite 194 - 207.
_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 16. Juni 2019

Briefkontakt mit Robert de Montesquiou

Seite 142 – 152    

Auf den folgenden zehn Seiten beginnen die Briefe nun richtig schwierig zu werden, da es hier ausschließlich um Literaturgespräche geht, was zwar spannend ist, aber vieles ist für uns schwer vorstellbar. Einfacher wird es, wenn das Zwischenmenschliche zwischen Proust und seinen Zeitgenossen auch eine Rolle spielt. Aber es macht mir großen Spaß, mich mit dem Gelesenen schriftlich zu befassen und mich mit Anne auszutauschen. Aber man merkt ganz deutlich, wie Prousts Leben aus der Literatur heraus sprießt. Sein Leben ist Literatur. Und Literatur ist sein Leben. 

25.06.1893, noch ist hier Proust 21 Jahre alt

Der Brief geht an Robert de Montesquiou, *07.03.1855 in Paris, gest. 11.12.1921 in Menton (süd-osten Frankreich)
Montesquiou hat zu dieser Zeit zwei Lyrikbände geschrieben, wovon der zweite Le Chef des odeurs sauaves erst im Januar 1894 erscheinen sollte. Der erste Gedichtband Les Chauves – Souris, wurde 1892 verlegt. Proust ist ganz hin- und weg von den Gedichten, die recht blumige Bilder darstellen, weil sie auch blumig geschrieben sind, wobei dies sicher Naturbetrachtungen sind. Viele Gedichte aus der Natur, so schwärmt Proust mit folgenden Worten:
Seit heute Morgen liege ich auf dieser Sternenweide und bewundere diesen Blütenhimmel, und ich bin bezaubert von all diesen Düften, berauscht von all dieser Klarheit, und wie die Lotophagen (Lotosesser, Anm. M. P.) habe ich keinen Gedanken mehr an eine Rückkehr und wünsche auch nicht, dass es eine solche gebe.

Total trunken ist Proust von den Gedichten Montesquious aus dem zweiten Gedichtband. Er sieht die Natur geistig vor sich, als würde er mitten auf einer Wiese liegen. Das finde ich genial, wie sehr er die Gedichte inhaliert, als seien sie eine Droge. In der Natur findet Proust das Göttliche …
Aber für alles, was nicht Gegenstand des Denkens ist – denn die göttliche Vernunft, die solches erfasst, ist frei von Zeit, Raum und Bezügen -, für alles, was vollkommen geheimnisvoll wie die Musik oder der Glaube, finden sich hier (…) Verse, die es erahnen lassen und es offenbaren, in dem sie es verkörpern. (143)

Wow, wie schön sich mir dieses proustische Bild vor Augen offenbart. Ich kann mir so gut vorstellen, wie Proust sich von diesen wundervollen Gedichten verzaubern lässt. Proust bittet um ein Foto des Dichters. Platonische Liebe?
Das sind nur kleine Ausschnitte, dich ich hier beschrieben habe. Weitere Gedanken zu den Gedichten sind dem Buch zu entnehmen.

Anfang Juli 1893 korrespondiert Prost erneut mit Montesquiou. Gesprächsgegenstand sind nicht nur die Gedichte, sondern hier geht es zur Abwechslung mal wieder um eine bestimmte Frau. Ein brisantes Thema, denn auch hier scheint Proust vor Rätseln zu stehen. Viel mehr vergleicht Proust die Schönheit dieser Frau mit den Gedichten des Dichters. Die Dame, um die es hier geht, ist die Comtesse de Greffulhe, geb. 04.Juli 1860, gest. 21.08.1952. Die Dame habe auf Proust einen großen Eindruck hinterlassen, und so bittet er den Dichter, ihm der Dame ausrichten zu lassen, wie sehr er sie bewundert habe, da Montesquiou öfters mit dieser Dame zu tun bekommen würde. Aber mir war nicht klar, in welcher Verbindung Montesquiou zu ihr stand. Dies wird sich später klären, siehe am Ende unter Telefongespräch mit Anne.
Sie trug eine Frisur von polynesicher Anmut, und malfarbene Orchideen fielen ihr bis in den Nacken wie die >Blumenhüte<, von denen Renan spricht. Sie ist schwer zu beurteilen, wahrscheinlich, weil beurteilen vergleichen heißt und nichts an ihr auszumachen ist, was man weder bei einer anderen noch irgendwo sonst hätte sein können. Doch das ganze Mysterium ihrer Schönheit liegt im Glanz, vor allem im Rätsel ihrer Augen. Nie habe ich eine so schöne Frau gesehen. Ich habe nicht dazu gebeten, ihr vorgestellt zu werden, und werde nicht einmal Sie darum bitten, denn außer der Aufdringlichkeit, die darin liegen könnte, würde ich, wie mir scheint, eine eher schmerzhafte Verwirrung empfinden, wenn ich mit ihr zu sprechen hätte. Aber es wäre mir lieb, sie würde von dem großen Eindruck hören, den sie auf mich gemacht hat, (…) . Ich hoffe, Ihnen weniger zu missfallen, indem ich diejenige bewundere, die Sie über alles bewundern und die ich von nun an nach Ihnen, Ihnen gemäß (…) >in Ihnen< bewundern werde. (145f.)

Dass die Augen das Fenster zur Seele sind, ist bekannt, und dies nicht nur bei den Augen einer Frau.
Auch hier idealisiert Proust sowohl den Dichter als auch die Comtesse, und er hofft insgeheim, der Dichter würde sie ihm vorstellen. Er unterzeichnet mit Ihr respektvoller Bewunderer … .

In einem weiteren Brief vergleicht Proust Montesquiou mit dem Dichter Charles Baudelaire, geb. 09.04.1821 in Paris, gest. 31.08.1867 ebenda. Proust ist der Meinung, dass beide Dichter gut in die Zeit des 17. Jahrhunderts passen würden. Er erwähnt hierbei Verse von Maxime und Corneille. Aber welchen Maxime und welchen Corneille er meint, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Von Charles Baudlaire besitze ich einen Gedichtband von Die Blumen des Bösen. Habe ich vor vielen, vielen Jahren von einem Freund geschenkt bekommen.

04. August 1893, 22 Jahre
Schreibt Proust wieder an Daniel Halévy
Proust, Halévy, Gregh und de la Salle planen gemeinsam, ein Scheibprojekt in Form eines Briefromans. Inspiriert sind sie durch das Vorbild Theophile Gautier (u. a. m.), s. Fußnote 1, Seite 148f. Proust bittet Daniel, längere Briefe zu schreiben, da seine Briefe zu kurz ausfallen würden.
Sie alle schreiben unter einem Pseudonym. Proust bittet alle Teilnehmer, die Briefe gut aufzubewahren, um sie später in der Reihenfolge nochmals lesen zu können. Aus der Fußnote 1, Seite 45, geht hervor, dass das Schreibprojekt gescheitert war.

Im September 1893 schreibt Proust Monsieur Natanson, das muss der Redakteur der Literaturzeitschrift Revue Blanche sein, und bittet ihn, ein paar Gedanken zu dem neuen Gedichtband zu Montesquiou zu schreiben, bevor er im folgenden Jahr veröffentlicht werde. Proust selbst hat eine Novelle geschrieben, Mélancolique …, siehe Fußnote Seite 152.

Telefongespräch mit Anne, 16.06.2019
Uns ist beiden aufgefallen, dass selbst die Fußnoten, die eigentlich sehr umfangreich sind, Lücken aufweisen. Wir wussten beide nicht, wer denn die Dichter aus dem 17. Jahrhundert waren? Wer sind Maxime und Corneille? Ich hatte gegoogelt und es gab zig Maximes. Mit Corneille war ich erfolgreicher, denn es handelt sich um den Dichter Pierre Corneille, der 1606 in Rouen geboren und 1684 in Paris gestorben ist. Er war Dichter und Dramatiker.

Anne hat im Netz herausgefunden, dass Montesquiou homosexuell war, denn seine blumige, lyrische Sprache ließ sie stutzig werden. Aus den Briefen geht das noch nicht hervor, bin aber gespannt, ob diese Thematik später aus Prousts Feder noch fließen wird.

Und wir hatten beide den Eindruck, dass Proust Montesquiou idealisiert hatte, demgegenüber auch die Comtesse Gremfulhe, die nachweislich eine Cousine des Dichters gewesen ist. Leider ging diese Info weder aus Prousts Briefen, noch aus der Fußnote hervor. Das bedeutet, dass wir gezwungen sind, Nachforschungen zu betreiben, um die Briefe besser zu verstehen, was mit viel Arbeit verbunden ist.

______________
Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 2. Juni 2019

Konfliktklärung mit Briefpartnern

Seite 122 – 132, Herbst 1888 bis Juli 1892 (17 bis 21 Jahre)    

Ich kann von Marcel Proust nicht ablassen. Am liebsten möchte ich alles festhalten, was er geschrieben hat, weil er so schön schreiben kann. So schöne Worte eingehüllt in Poesie, trotz häufig ernster Thematik, s. Beispiel unten. Und damit ich das Gelesene nach Jahren wieder nachschlagen kann, wenn ich die eine oder andere Info vergessen habe. 

Wieder begleitet uns die Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität. Die Auseinandersetzung mit Literatur und mit bedeutenden und weniger bedeutenden Menschen seiner Zeit, finde ich hoch interessant.

Wieder ein Brief an Daniel Halévi, Herbst 1888, wo Anne und ich nicht ganz sicher sind, in welcher Rolle sich dieser Daniel sexuell befindet. Verachtet er Homosexuelle, oder ist er selbst homosexuell? Die Briefe sind nicht eindeutig. Im ersten Brief auf diesen zehn Seiten antwortet Proust auf Daniels Kritik in einer so schönen Sprache, dass ich diesen Textauszug unbedingt festhalten möchte.
Du verabreichst mir regelrecht eine kleine Geißelung, aber deine Ruten tragen so schöne Blüten, dass ich dir deswegen nicht böse sein kann, und die Pracht und der Duft dieser Blüten haben mich so sanft betört, dass mir die Dornen weniger grausam erschienen. Du hast mich mit Schlägen der Lyra traktiert. Und deine Lyra hat Zauberkräfte. (122)

Ein paar Zeilen später schreibt er über die Schamhaftigkeit.
Meine moralischen Glaubenssätze gestatten mir, die sinnliche Vergnügung für etwas Gutes zu halten. Sie legen mir auch nahe, bestimmte Gefühle zu achten, ein bestimmtes freundschaftliches Feingefühl, und ganz besonders die französische Sprache, eine liebenswerte und unendlich anmutige Dame, deren Traurigkeit und Sinnenlust ebenfalls erlesen sind, aber der man niemals schmutzige Posen aufzwingen darf. Dies würde bedeuten, ihre Schönheit zu entehren.

Auch dieses Zitat ist so wunderschön, aber man weiß nicht sicher, was Proust mit sinnlichen Vergnügen meint. Und was versteht er unter schmutzige Posen, mit der man die schöne Sprache nicht entehren darf? Hat sich Daniel vulgär ausgedrückt?
Du hältst mich für blasiert und erledigt, Du irrst dich. Wenn du ein so köstliches Wesen bist, wenn du hübsche helle Augen hast, die so ungetrübt die raffinierte Anmut Deines Geistes spiegeln, dass es mir so scheint, als liebte ich deinen Geist nicht vollkommen genug, wenn ich nicht auch deine Augen küsste; wenn dein Körper und deine Augen so grazil und so gewandt wie Dein Denken sind, dass es mir so scheint, dass ich mich besser in deine Gedanken einfände, wenn ich mich in deinen Schoß setzte; wenn ich schließlich den Eindruck habe, dass der Zauber deines Du, dieses Du, bei dem ich lebhaften Geist nicht von dem leichten Körper zu trennen wüsste, der für mich die >>holden Freuden der Liebe<< verfeinert., indem er sie steigert, so ist daran nichts, womit ich diese verächtlichen Sätze verdient hätte, die besser an jemanden gerichtet wären, der Frauen überdrüssig, nach neuen Lüsten in der Pädesterie suchte. (122f)

Über diese Textstelle ist auch Anne gestolpert aber uns beiden ist nicht klar, welches (sexuell oder freundschaftlich) Verhältnis Proust mit Daniel hatte? Proust schätzt feingeistige Menschen, er fühlt sich regelrecht zu ihnen hingezogen. Auch Daniel scheint ein recht intellektueller Geist zu sein, sodass sich der Text für mich von Prousts Seite aus auch wie eine platonische Liebe herausdeuten lässt. Männer, die Frauen überdrüssig seien, sollten nach neuen Lüsten in der Homosexualität suchen. Damit meint er nicht sich selbst. Schwierig zu deuten, wenn uns die Briefe von Daniel nicht vorliegen. Sich auf seinen Schoß setzen wollen, um sich besser in seine Gedanken einzufinden, ist ein merkwürdiges Bild. 

Proust weist in seinem Brief auf die Dichter Montaigne und Sokrates, die im Leben symbolisch gesehen nur Blumen gepflückt haben sollen, und ganz jungen Leuten gestatten, sich zu >>amüsieren<<. Hier scheint die Sexualität gemeint zu sein, (…) um ein wenig alle Vergnügen kennenzulernen und ihr Übermaß an Zärtlichkeit abfließen zu lassen. (123)
Sie dachten, dass diese zugleich sinnlichen und intellektuellen Freundschaften mehr wert seien, wenn man noch jung ist und doch schon ein sehr wahres Gespür für die Schönheit und eben auch für die >>Sinne<< hat, als Liaison mit dummen und verdorbenen Frauen.

Eine Liaison mit dummen und verdorbenen Frauen lässt mich stutzig werden und so frage ich mich wieder, was Proust für ein Frauenbild hat? 

Ein paar Zeilen später widerspricht Proust diese sexuelle Haltung der beiden Philosophen.
Ich werde dir erklären warum. Aber ich lege Wert auf die allgemeine Bedeutung ihres Ratschlags.

Ich hatte recht, Daniel scheint sich über die Homosexuellen abfällig geäußert zu haben, wie aus den vorigen Proustbriefen hervorgeht. Er bittet Daniel:
Behandle mich nicht wie einen Päderasten, das schmerzt mich.

Proust ist für mich mithilfe wichtgier Autoren ein großer Suchender. Er scheint seine sexuelle Identität noch nicht gefunden zu haben, auch wenn er die Homosexualität noch ablehnt. 
Er schreibt diesen Brief bei Alphonse Darlu im Philosophie-Unterricht.

Er scheint diesen Lehrer nicht mehr zu respektieren, von dem er im letzten Brief so geschwärmt hat.

18.05.1889, 17 Jahre
Brief an Anatole France

Proust bezieht jeden Samstag die Literaturzeitung Le Temps. Den Samstag bezeichnet er als sein Festtag. Anatole France ist ein feingeistiger Schriftsteller, dessen Bücher Proust seit vier Jahren liest. Und das nicht nur einmal. Er hat die Bücher immer wieder gelesen, bis er sie auswendig konnte. Proust hegt die Absicht, später über diese Bücher Rezensionen zu verfassen. Und wieder bekommt man es hier mit einem Menschen zu tun, den Proust verehrt. Ich finde es manchmal recht peinlich aber manchmal auch bewundernswert, wie offen er sich Menschen gibt, für die er geistige Bewunderung empfindet.
Unterdessen begnüge ich mich damit, Sie zu verehren, Sie noch umfassender zu verstehen, und ich lese ihre Bücher den klügsten meiner Kameraden am Lycee Concorcet vor. Und ich habe sogar die Lehrer, die etwas hinterher waren und Sie nicht kannten, missioniert. (124)

Ich kann mir das wunderbar gut vorstellen, wie Proust sogar seine Lehrer belehrt.
Sie haben mich gelehrt, (…) an den Büchern, an den Ideen und an den Menschen eine Schönheit zu entdecken, die ich zuvor nicht zu genießen wusste. (ebd)

Proust kommt mir wie eine Pflanze vor, die wächst und wächst, wenn sie nur genug Nährstoffe erhält. Für ihn ist hochgeistige Literatur Nahrung für den Kopf und Nahrung für die Seele.
Sie haben mir das Universum verschönert, und ich bin selbst sosehr ihr Freund geworden, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht mehrmals an Sie denke, auch wenn es mir noch einige Verlegenheit bereitet, mir Ihre physische Gestalt vorzustellen. (Ebd)

Starke Idealisierung; Idealisierungen entsprechen meistens nicht dem realen Charakter eines Menschen. Die Schwärmerei hat ja schon auch beim Philosophielehrer Alphonse Darlu abgenommen, wie wir oben sehen konnten.
Mit der Erinnerung an die Stunden auserlesener Genüsse, die Sie mir bereitet haben, habe ich tief in meinem Herzen eine Kapelle errichtet, die ganz von Ihnen erfüllt ist. (Ebd)

Trotzdem, ist das nicht schön ausgedrückt? Welch mächtige Sprache dieser junge Mensch nur besaß. Da schlägt sicher bei vielen Gleichaltrigen der Neid aus. Vielleicht auch bei Daniel.
Aber Anatole France wird nicht von allen bewundert. Eigentlich wird er von manchen Lesern richtig zerrissen, so lässt der Brief vermuten.

Ich habe sosehr darunter gelitten, Sie in diesem Artikel öffentlich beleidigt zu sehen, dass ich mir die Freiheit herausgenommen haben (sic!), Ihnen zu schreiben, welch grausame Qualen ich darüber empfand. (125)

September 1890, 19 Jahre
Auf der Seite 127 schreibt Marcel einen Brief an den Vater. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das ist, in der Familie schriftlich zu kommunizieren. Wobei hier Proust auf Urlaub ist und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Er muss wieder krank geworden sein und entschuldigt sich schriftlich bei seinem Vater, dass er nicht eher schreiben konnte. Mein Verdacht hat sich erhärtet, siehe weiter unten. 

Proust erwähnt den französischen Schriftsteller Guy de Maupassant, geboren 1850, den er im Haus der Familie Straus kennengelernt hat.Viel erfährt man hier nicht, außer, dass Proust es bedauert, Maupassant nur zwei Mal gesehen zu haben, da auch er erkrankt ist. 


Maupassant ist mein französischer Lieblingsschriftsteller. Und auch Anne hat Zola und Maupassant gelesen.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Marcel Proust selbst an Syphilis, Depressionen und an Wahnvorstellungen litt, sodass er ans Bett gefesselt war. Interessante Diagnosen, die mir nicht bekannt waren, denn irgendwo hatte ich mal gelesen, dass er Asthmatiker war, und dadurch die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat.

1891, 20 Jahre
 Schreibt Proust einen überaus kritischen Brief an Madame Geneviève Straus. Ein sehr mutiger, ehrlicher und offener Brief, indem er die oberflächliche Lebensweise dieser Dame stark infrage stellt. Auch wieder in einer gekonnten Ausdrucksweise. Ich verweise auf den Brief, den ich nicht zerstückeln kann, da man den gesamten Brief in Augenschein nehmen muss.

Im Juni 1892, kurz vor dem 21. Lebensjahr
Schreibt Proust erneut an Madame Straus. Proust befindet sich in der Prüfungsphase. Anscheinend hat sich die gute Dame über Proust abfällig geäußert.
Bis jetzt habe ich alles bestanden, ich hoffe, es wird auch morgen noch klappen, um Ihnen zu beweisen, dass Sie Unrecht damit haben, mich für faul oder gesellschaftssüchtig zu halten. Ich bin sehr fleißig. Ich weiß sehr wohl, dass es mir wirklich nicht zusteht, mich bei Ihnen zu rechtfertigen. (129)

Proust hat alle seine Prüfungen mit Bravour bestanden. Straus´ Prognosen haben sich nicht erfüllt. Dass Proust zudem noch gesellschaftssüchtig sein soll, sehe ich auch, aber Proust muss, aus meiner Sicht, in die Gesellschaft, um über sie schreiben zu können. Er benötigt das Leben im Außen, weil er dort seinen Stoff für seine spätere Recherche im Inneren finden wird.

Juli 1892, Brief an Robert Dreyfus
Proust moniert, dass der Freund sich in einem Artikel über sie beide lustig gemacht zu haben schien. Nun möchte Proust Unstimmigkeiten in Briefform klären. Er redet über den Schriftsteller Èmile Zola, der politisch an der Macht zu sein scheint und er es auch bleiben würde, da es keine besseren Vertreter geben würde, da die anderen literarischen Parteien über zu wenig Zusammenhalt verfügen. In diesem Brief geht es politisch zu. Aus der Fußnote geht zudem noch hervor, dass Dreyfus einen Artikel im Feuilleton Le Banquet geschrieben haben soll, in dem er sich über die Redakteure, zu denen auch Proust zählt, lustig gemacht habe, denn sie stellten darin Werke ausländischer Autoren vor, von denen Dreyfus nicht viel zu halten schien. Daraufhin erwidert Dreyfus:
Wenn die Zeiten sich wieder aufhellen, werden wir sehen, wer die Weisen sind. (…)Schluss mit Tolstoi, Schluss mit Shakespeare, Schluss mit Maeterlinck. Lasst uns, verdammt nochmal, nach Frankreich zurückkehren!

Proust bezeichnet Dreyfus` Haltung als zu materialistisch. Erst wusste ich nicht, was er mit materialistisch ausdrücken wollte, aber jetzt kommt es mir in den Sinn. Dreyfus scheint in dieser Situation aus Prousts Sicht wenig geistreich zu sein, vor allem auch, dass er namhafte ausländische Autoren ablehnt, ohne sich womöglich mit diesen befasst zu haben.

Telefongespräch mit Anne, Sonntag, 02.06.2019
Viel Neues an gemeinsamen Eindrücken ist nicht erfolgt, außer, dass uns dieselben Textstellen ins Auge geschossen sind. Was ich oben zu Daniel geschrieben habe, war auch Annes Eindruck. Nach wie vor sind die Briefe schwer zu verstehen, solange uns die Antwortbriefe nicht vorliegen. Aber es macht uns immer noch Spaß, und das ist das Wichtigste. Ich denke, man wird mit jedem Brief ein wenig schlauer, und später, nach den Briefen, setzen wir das Lesen mit einer weiteren Biografie fort, sodass sich bis dahin sicher noch manche Lücken wie Puzzleteile schließen lassen.

Meine persönliche Meinung
Ich konnte mich ein wenig in Marcel Proust wiederfinden, da es auch bei mir eine Zeit gab, in der ich mehr geschrieben als gesprochen habe. Neben den vielen Tagebüchern habe ich jede Menge Kurzgeschichten geschrieben, die ich einmal der Stadt Darmstadt eingereicht hatte, da sie für eine Schreibwerkstatt Nachwuchsautor*innen gesucht haben. 12 junge Menschen wurden von über 600 Bewerber*innen ausgewählt, eine davon war ich. Ich befand mich auch lange Jahre in einer Selbstfindungsphase, und ähnlich wie Proust habe ich meine Mitmenschen im Stillen beobachtet und mir viele Gedanken dazu gemacht, obwohl er sich stärker unter die Menschen gemischt hat, als ich es tat. Diese Menschen verarbeitete ich in Kurzgeschichten, surreale und reale Textformen. Ich bin heute noch so, ich achte sehr genau, wie Menschen denken, was sie beschäftigt und was es mit mir selber macht. Man kann sich die Hörner an der Gedankenlosigkeit vieler Menschen abstoßen, aber man entwickelt sich im Gegensatz zu ihnen weiter. Wie Hesse schon sagt, wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nah dran, sich selbst zu finden. Während die meisten anderen in einem gesellschaftlichen System gefangen sind, so habe ich mich innerlich größtenteils davon befreit.

Leider habe ich die Schreibwerkstatt später wieder verlassen, weil ich diese Zeit zum Schreiben nicht mehr hatte. Entweder man ist Schriftstellerin oder man ist es nicht. Man kann das Schreiben nicht mit einem anderen Beruf teilen. Ich habe mich für den anderen Beruf entschieden, weil ich mich verglichen mit Proust nicht für ausreichend begabt hielt, um Schriftstellerin zu werden. Aber das Nachdenken über sich, über Mitmenschen, und vieles andere mehr, hat deswegen nicht aufgehört. Auch ich sauge ähnlich wie Proust Menschen wie ein Schwamm auf. Auch ich habe früher, und tue es heute manchmal noch immer, feingeistig, intellektuelle Menschen idealisiert, weil ich mich zu ihnen hingezogen gefühlt habe.
Und ich benötige viel Zeit, gewisse und unliebsame Erfahrungen mit anderen Menschen im Stillen zu verarbeiten, weil ich in dieser Hinsicht nicht wie Proust bin, allen mein Innenleben zu offenbaren.

Ich freue mich nun auf die nächsten zehn Seiten, und ich bin so neugierig, was Proust noch so manches in mir spiegeln wird.


Sonntag, 26. Mai 2019

Konfliktklärung mit Briefpartnern / Idealisierung

Seite 112 - 122             

September 1888 bis Okt. 1888 (17 Jahre alt)

Der junge Marcel Proust, ein leidenschaftlicher Briefeschreiber, verpasst keine Gelegenheit, sich Briefpartner zu suchen, um sich über sein reges Innenleben mitzuteilen. Er macht sich viele Gedanken über seine Mitmenschen, zieht dabei Literaturfiguren mit ein, dieses Mal aus Le Misanthrope von Molière. Hieraus Alceste, ein Idealist und Menschenfeind, der ohne Heuchelei den Menschen die Wahrheit ins Gesicht sagt. Diese Haltung würde aus einer lächerlichen und schlechten Gemütsverfassung entspringen … Proust schreibt auch immer wieder über die Konflikte, die er mit bestimmten Menschen hat und erschafft sich ein Gedankenkonstrukt, das er in zwei Variablen, x- und y, einteilt. Er schreibt von der Gesamtheit von Freundschaftsphänomenen x und von der Antipathie y.
Und so hat das Zerwürfnis nur die Bedeutung einer Laune, einer Prüfung oder einer Verstimmung, und alles kommt darauf an, sich wieder zu versöhnen. Ist es y, Antipathie, so bedeutet die Versöhnung nichts, und alles ist Zerwürfnis. (113)

Jede Menge Charakteranalyen entstehen dadurch. Er entschuldigt sich bei seinem Freund Robert Dreiyfus, dass er einen ganzen Brief gebraucht habe, um ihm darin seine Theorie darzulegen. Neben seinen tiefen Gedanken zeigt sich Marcel aber auch als ein Plauderer, der gerne über Freunde und aber auch über sich selbst ablästert, allerdings nicht als der Marcel Proust, sondern in dem Mantel einer (literarischen) Figur. Proust bittet Dreyfus, diesen Brief Daniel Halévys zu zeigen, s. u. . Obwohl er von Daniel nicht den Respekt erwiesen bekommt, den er verdient hätte? Angeblich soll ihn Daniel für mall und meschugge halten.

Proust nimmt Reitstunden, und überträgt Begriffe davon in seinen Jargon und erweitert dadurch gekonnt seinen Wortschatz:
Ich erlaube Dir, mein lieber Freund, diesen Brief D. H. zu zeigen, auch wenn er im allerschnellsten Galopp geschrieben ist, denn ich bin die ganze Zeit über von der Uhr vorangepeitscht worden, da ich noch zum Reitplatz muss. (117)

Interessant fand ich Prousts Brief an den neuen Philosophielehrer Alphonse Darlu, der mir ein wenig peinlich gewesen wäre. Gerade mal zwei Tage in der Klasse, wendet sich Marcel per Brief an ihn, da Darlu keine so erfreuliche Ansprache zu den jungen Menschen überbracht hatte. Marcel dagegen fühlt sich zu Darlu hingezogen, bewundert seinen philosophischen Geist und bittet ihn in seinem Brief um eine moralische Konsultation.
Ich habe in den letzten beiden Tagen eine so große Bewunderung für Sie empfunden, dass ich das unwiderliche Bedürfnis empfinde, Sie um einen großen Rat zu bitten, bevor ich das Studium der Philosophie aufnehme. (120)

Proust kehrt in diesem Brief dem Lehrer sein Innerstes heraus. Im Unterricht muss Darlu über eine Erkrankung gesprochen haben, von der nichts ahnend Proust betroffen ist. Dadurch teilt Proust ihm mit, dass er selbst an dieser Krankheit leidet und bittet um ein Gegenmittel. Des Weiteren lässt er den Lehrer wissen, dass er durch seine schwächliche Gesundheit unter einer Bewusstseinsspaltung leiden würde.
Aber mein Leiden ist, auch wenn es einen fast gänzlich anderen Charakter angenommen hat, nicht weniger lebhaft. Es hat sich intellektualisiert. Ich empfinde kein vollständiges Vergnügen mehr an dem, was mir früher ein Genuss war, an literarischen Werken. (120)

Weiter geht es in der Beschreibung seines anderen Ichs, Details sind dem Werk zu entnehmen, 120/121. Das Ende des Briefes fand ich dermaßen persönlich, das würde ich niemals einem Lehrer schreiben, auch wenn ich ihn mögen würde.
Sie werden, wie ich hoffe, Monsieur, meiner außerordentlichen Bewunderung und meiner unendlichen Begier, zu wissen, was Sie davon halten, die Absonderlichkeit und vielleicht auch die Indiskretion verzeihen, die darin besteht, einem Unbekannten derart intime Gedanken anzuvertrauen. (121)

Durch dieses stark Persönliche wirkt der Brief auf mich unheimlich. Weiter geht es im Text:
Aber ich glaube, Sie nach dem wenigen, was ich von Ihnen gehört habe, schon zu kennen. Ich flehe Sie an, in der Klasse nicht die leiseste Anspielung auf diesen Brief zu machen, der für mich so eine Art von Beichte ist. Ihr Schüler und aufrichtiger Bewunderer. (121)

Was ist das für ein Geschleime? Da kringeln sich mir sämtliche Fußnägel hoch. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
… (>>der bewundernswerteste Lehrer, den ich je gehabt habe, der Mann, der den größten Einfluss auf mein Denken ausgeübt hat (…)<<, doch notiert er einige Jahre später (…) >>Niemand außer Darlu hat Einfluss auf mich ausgeübt, und dieser Einfluss war schlecht.<<(122)

Wie in seiner Recherche kommt er mir auch hier sehr verschwatzt vor. Ein intellektuelles Lästermaul, das sich seelisch vor vielen Menschen nackt macht und sich dann aber wundert, wenn hintenrum über ihn geredet wird.

Telefongespräch mit Anne, Sonntag, 26.05.2019
Auch Anne war der Meinung, dass Proust gerne schwatzt. Sie war eigentlich die erste von uns beiden, die darauf aufmerksam gemacht hat. Ich selbst konnte diese Eindrücke in seinen Briefen erst nicht festmachen, obwohl ich sie gelesen habe, es ist aber so schwer, das Gelesene zu verinnerlichen, wenn einem so gar nicht die Antwortbriefe vorliegen. Nun aber, im zweiten Durchlauf, konnte dieser Charakterzug auch für mich an verschiedenen Textstellen deutlich gemacht werden. Proust kränkt in seiner Ausdrucksweise so manchen Kameraden, davon bleibt auch sein Freund Robert Dreyfus nicht verschont. Proust muss ihn so beleidigt haben, dass auch Robert ihn für recht blasiert hielt, sodass Proust sich genötigt sah, sich mit Schmeichelei und Lobeshymnen bei dem Freund zu entschuldigen. Er verfällt von einem Extrem ins andere. 

In den Briefen bittet er seine Gesprächspartner immer wieder darum, seine Depesche anderen Personen nicht weiterzureichen, sodass wir, Anne und ich, den Eindruck bekommen haben, dass er tief in seiner Seele sich nichts anderes wünscht, als dass sie weitergereicht werden.

Proust weiß, dass er ein fulminanter Schreiber ist und kokettiert mit sich selbst. Er scheint es zu genießen, sich selbst in Szene zu setzen. Ich glaube, er hat es ganz gerne, wenn andere über ihn reden, wenn seine Briefe hochgelobt werden.

Meine persönliche Meinung
Mir kommt Prousts Seele ein wenig hurenhaft vor. Jedem sein Innerstes preiszugeben, finde ich sehr peinlich. Und trotzdem verstehe ich ihn aber auch. Proust, der Vieldenker, er braucht ein Gegenüber, um sich literarisch und geistig entfalten zu können. Er saugt die Menschen auf wie ein Schwamm und macht daraus fiktionale Geschichten. Und das führt zu einem überaus regen Innenleben, dass es schwermacht, sich selbst zu ertragen. Nur die Art und Weise, wie er es tut, wirkt zudem noch sehr impulsiv und versnobt. Ich selbst habe auch in diesen jungen Jahren viel geschrieben. Ich habe über 25 Tagebücher verfasst, wovon ich die Hälfte vernichtet habe. Die andere Hälfte werde ich mit der Zeit noch entsorgen. Auch ich hatte in der Schule die eine oder den anderen Lehrer*in, für die ich geschwärmt habe, die ich ähnlich wie Proust innerlich idealisiert habe aber niemals würde ich meiner Lehrer*in eine Bewunderung dieser Art aussprechen, weil es seelisch gesehen mir viel zu peinlich wäre.

Aber ich hätte Lust, Molières Theaterstück Proust zuliebe ;-) ein zweites Mal zu lesen. Auch ich habe das Stück gelesen, weil ich mich in den Anfängen meiner 20er Lebensjahre mit dem Buchtitel identifizieren konnte. Auch ich hatte mich viele meiner jungen Jahre in der Literatur gesucht. Ich erinnere mich, dass ich mich allerdings am Ende des Stückes doch nicht mit dem Misanthropen habe identifizieren können. Aber die Details weiß ich nicht mehr, weshalb ich das Stück gerne noch einmal lesen würde.

Mein Fazit aus diesen zehn Seiten


Proust probiert sich aus. Literarisch, schauspielerisch (Theater) und sexuell.