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Donnerstag, 25. Juli 2019

Gary Shteyngart / WIllkommen in Lake Success (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Fünf Wochen habe ich für dieses Buch benötigt, da ich derzeit meinen Kopf nicht freibekomme, da so viel anderes ansteht. Das ist das erste Mal, wofür ich für ein Buch so lange gebraucht habe.

Warum schreibe ich das? Hauptsächlich für mich, wenn ich diese Buchbesprechung nach einer gewissen Zeit wieder nachlesen möchte, und ich mich nicht wundern muss, weshalb mich das Buch so viel Zeit beansprucht hat.

Aber hat es wirklich nur an mir gelegen? Nein, nicht nur an mir, es hat auch etwas an dem Buch gelegen. Es war sehr zäh, hat sich gezogen, sodass die Handlung für mich nach etwa zweihundert Seiten die Glaubwürdigkeit verloren hat. Deshalb werde ich mich in dieser Besprechung kurzhalten.

Außerdem wurden viele Themen angerissen, die nicht zu Ende gedacht wurden.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung beschreibt das Leben einer Kleinfamilie namens Cohen. Barry Cohen ist etliche Jahre älter als seine Frau Seema. Seemas Eltern sind Einwanderer und kamen ursprünglich aus Indien, während sie selbst in den Staaten geboren ist und dadurch die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hat. Barry, Ende dreißig, ist Jude und seit über zwanzig Jahren in der Finanzbranche tätig. Er verwaltet Wertpapiere bis zu 2,4 Milliarden Dollar.

Seema ist Juristin und 29 Jahre alt.
Sie haben einen gemeinsamen Sohn namens Shiva. Ein langersehntes Kind, da es mit dem Kinderkriegen zuvor nicht wirklich klappen wollte, bis Seema einer künstlichen Befruchtung zugestimmt hat. 

Der kleine Shiva ist aber kein normales Kind. Es ist autistisch. Die Eltern müssen lernen, mit der Besonderheit ihres Kindes umzugehen. Aber der Autismus fordert die Eltern heraus. Eigentlich passt er nicht in das Lebensbild des Vaters, denn Barry kommt aus einer perfekten Welt, in der Schwächen nicht geduldet werden. Das Kind spürt die mangelnde Zuneigung seines Vaters und lehnt ihn vehement ab. Die Ehe der Eltern wird auf die Probe gestellt.

Seit Seema die Diagnose ihres Sohnes erfahren hatte, verbringt die junge Mutter jede freie Minute, für das Kind da zu sein. Sie nimmt alle Stränge in die Hand, organisiert eine Tagesmutter und medizinische Hilfe, in der das Kind gefördert werden kann, während Barry gar nicht wahrhaben will, dass sein Sohn autistisch ist. Dadurch, dass Seema jede freie Minute für ihr Kind investiert, so ist es Barry, der glaubt, zu kurz zu kommen.

Seema wirft ihm bedingt durch seinen Beruf Empathie- und Fantasielosigkeit vor.

Barry besitzt viele teure und anspruchsvolle Uhren.
Die Uhr schmiegt sich um sein Handgelenk wie ein Artefakt aus einem goldenen, technisch ausgereiftem Universum, und sie tat kund, was für ein Mann Barry eigentlich war. (2018, 28)
Die Probleme zu Hause hält Barry nicht aus und macht sich auf, mit einem Bus nach Richmond zu reisen, um seine alte Jugendfreundin zu finden. Doch eigentlich ist er auf der Flucht. Auf der Flucht vor seinem Sohn, vor seiner Frau, nicht zuletzt auch vor sich selbst.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Mich hat genervt, dass der Autor ein großes Geheimnis um den Autismus gemacht hat. Er hat die Erkrankung viele Seiten über umschrieben, um wahrscheinlich die Thematik spannender aufzuziehen. Aber ich glaube, dass jeder anspruchsvolle Leser*in weiß, was Autismus ist. Ich bin sehr schnell hinter seine Umschreibung gekommen.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Politisch: Die kritische Sichtweise zu Donald Trump.
Barry ist ein Trump – Gegner.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Keine

Welche Figur war mir antipathisch?
Barry aber auch seine Frau. Eigentlich fand ich alle Figuren unsympathisch, vor allem die, die in einer starken materiellen Welt gefangen sind und wenige innere Werte besitzen.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel  
Beides sehr ansprechend.

Zum Schreibkonzept
Auf den 430 Seiten ist das Buch in 13 Kapiteln gegliedert. Es gibt keinen Prolog aber einen Epilog.

Meine Meinung
Eigentlich hatte mich das Buch anfangs fasziniert. Den Klappentext fand ich ansprechend, aber die ganze Thematik hat mich irgendwann angefangen zu langweilen. Dann war mir das Bild  zwischen den Amerikaner*innen und den Migrant*innen zu einseitig und zu dick aufgetragen. Und überhaupt viel zu viele Gedanken über die Hautfarbe. Warum müssen Menschen so viel über die Hautfarbe schreiben? Es gibt dunkle Menschen. Es gibt helle Menschen. Es gibt braune Menschen … Wo ist das Problem, wenn die Menschenwelt von Natur aus bunt ist? 

Mein Fazit
Ich freue mich, dass ich nun mit dem Buch durch bin, und dass ich durchgehalten habe, ohne es vorzeitig abzubrechen.

Da dieses Buch auf Whatchareadin gelesen wurde, verlinke ich meine Besprechung mit der Leserunde.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Hat mir die Geschichte an sich gut gefallen?
Trotz guter Bewertung meinerseits, nein.
Neun von zwölf Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch:

Hier geht es zu Whatchareadins Leserunde. 

Ein herzliches Dankeschön an den Penguin Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 
________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2019: 22
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Sonntag, 28. April 2019

Lukas Hartmann / Der Sänger (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine gelungene aber eine sehr traurige Biografie zu dem 38-jährigen jüdischen Tenorsänger Joseph Schmidt, der als deutscher Caruso gefeiert wird, hat uns der Autor Lukas Hartmann hinterlegt. Bis zum Schluss hat mich die Thematik gepackt. Sehr gut geschrieben. Diese Lektüre sollte den Buchpreis bekommen.

Es ist eine so ernste Thematik, die gegenwärtig in unsere politische Zeit passt, dass ich das Bedürfnis verspüre, meine Buchbesprechung ein wenig zu intensivieren. So viele wichtige Zitate möchte ich gerne hier reinstellen, damit ich sie immer wieder nachlesen kann, wenn mich das Thema immer wieder neu beschäftigen wird. Wer die Absicht hat, das Buch selbst zu lesen, sollte meine Buchbesprechung vorher lieber überspringen und sich auf die Buchvorstellung, siehe Link unten, beschränken.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Hauptfigur dieser Geschichte ist Joseph Schmidt, der gerademal 1,54 Meter groß ist. Obwohl Schmidt nur auf dem Papier Jude ist, wird er 1942 trotzdem von den Nazis verfolgt. Einmal Jude immer Jude, das behaupten selbst die gläubigen Juden unter sich. Auch Künstler*innen sind vor den Nazis nicht geschützt.

Schmidt begibt sich auf die Flucht in die Schweiz. Er hatte sich schon in Frankreich in der Villa Phoebus für mehrere Wochen versteckt. Doch auch dort ist Schmidt nicht mehr sicher und flüchtet mit seiner Begleiterin Selma Wolkenheim in die Schweiz, da die Schweiz im Zweiten Weltkrieg politisch neutral war.

Schmidt war ein gefeierter Sänger, überall beliebt, auch bei Frauen, aber eine feste Bindung war er nicht in der Lage zu schließen, obwohl er mit einer Frau einen siebenjährigen Sohn besitzt und er selbst sich nur als den Erzeuger betrachtet aber nicht als Vater des Kindes. Sein Herz gehörte allein der Musik und er war nicht bereit, es mit jemand anderem zu teilen. Aber ob dies der alleinige Grund ist? Schmidt hatte einen autoritären Vater namens Wolf Schmidt, der streng seine religiösen Praktiken nachging, an die sich die Kinder anzupassen hatten. Wolf prügelte auch auf die Kinder ein, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten …
Die Wünsche dieses Manns, der wollte, dass Joseph fehlerlos den Talmud zitierte, konnte er nicht erfüllen. Nein, (den) Vater, der die ganze Familie in autoritärem Bann hielt, hatte (Joseph) nicht geliebt, sich vergeblich nach Zuwendung, nach Lob gesehnt. (2019, 36) 

Die Schweiz ist dicht, die Grenzen werden geschlossen, da sie mit der Masse an Flüchtlingen nicht fertig wird und so gerät dieses Land in eine schwere Prüfung der Mitmenschlichkeit.
Dabei bemühen wir uns intensiv, das Wohl der Einzelnen, zunächst der Einheimischen, der hier Aufgewachsenen, im Auge zu behalten, und ebenso das Gesamtwohl des Vaterlandes. Und dennoch dürfen wir gegenüber dem wachsenden Flüchtlingselend, das uns aus den Akten entgegenschreit, nicht unempfindlich werden. Je mehr bei uns (…) über die Greueltaten (sic) in Konzentrationslagern bekannt wird, zu desto harscheren Reaktionen führen unsere Rückweisungen in einem Teil der Bevölkerung, zu immer deutlicheren Protesten in der linken Presse und bei den jüdischen Organisationen, während die andere Seite unsere Entscheidungen, die an die Gesetze und an die Beschlüsse des Bundesrats gebunden sind, durchaus billigt. (…) Gegenwärtig halten sich mindestens neuntausend Flüchtlinge in der Schweiz auf, und eine Weiterreise des europäischen Kontinents   (…) ist angesichts der Kriegslage und der fortdauernden Dominanz, nicht mehr möglich. Sie werden bei uns bleiben und die Bundeskasse mit Millionenkosten belasten, so lange, bis der Krieg irgendwann zu Ende ist. (64)

Schmidt wurde mithilfe eines Schleppers über die Schweizer Grenzen geschleust und wurde in Girenbad in ein Internierungslager zugewiesen und begegnet hier jede Menge Schicksalsgenossen. Hier sind die Flüchtlinge einem repressiven Machtapparat ausgesetzt. Dadurch werden die Menschen hier wie Sträflinge behandelt. Liegen gab es hier im Lager nicht, die Flüchtlinge wurden auf Stroh gebettet. Zu essen gab es nur Brühe und altes Brot. Schmidt erkrankt an einer schweren Infektion im Rachen und im Kehlkopfbereich und wurde erst nach langem Hin- und Her ins Kantonsspital gefahren. Auch in dem Hospital wird er mit den billigsten Mitteln behandelt, obwohl seine Erkrankung mittlerweile auch auf sein Herz überschlägt. Schmidt wird von dem Chefarzt der Klinik schlecht behandelt, der ihm vorwirft, sich seine Beschwerden am Herzen einzubilden, auch, um nicht zurück ins Lager zu müssen. Er stellt dem Kranken viele kritische Fragen, nimmt seine Beschwerden nicht ernst ...
Schmidt schaute den Professor bestürzt an. >>Sie glauben mir nicht? Sie meinen, dass ich Schmerzen erfinde?<<
>> Simulanten gibt es viele. Aber ich sage nichts dergleichen. Es ist einfach meine Pflicht, solche unangenehmen Fragen zu stellen. Das sollten Sie, als vernünftiger Mann, bei der großen Zahl von Internierten in unserem Land, verstehen. Es gibt ja auch sehr viele Ihres Glaubens darunter, die in Anspruch nehmen, verfolgt zu werden, und annehmen, deshalb ein Recht auf Asyl zu haben. << (202)

Es waren viele herzensgute Schweizer zugange, aber viele waren, vor allem Autoritäten, sehr rassistisch eingestellt.
Dabei geht es uns abzuwägen zwischen den Erfordernissen des Landesschutzes und der Humanität; wir können und dürfen die schweizerische Bevölkerung (…) einer zunehmenden Überfremdung durch Heerscharen hauptsächlich jüdischer Flüchtlinge nur mit gebührender Vorsicht aussetzen. (64f)

In Anbetracht unserer eigenen politischen Lage, dass sich die europäischen Länder so schwertun, Flüchtlinge in ihr Land aufzunehmen, möchte ich zum Abschluss ein letztes Zitat einbringen.
Die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen letzten Ort des Rechts und des Erbarmens zu sehen … Wir sehen an den Flüchtlingen, was uns bis jetzt wie durch ein Wunder erspart geblieben ist. (194)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Die Szene im Krankenhaus. Der Professor hat Schmidt nicht gut behandelt, und man hätte ihn bei anderen Umständen wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen können.
Die Szenen im Internierungslager fand ich grausam, dass ich mit dem Lesen für eine Weile aussetzen musste.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass es auch gute Menschen gab, die sich für Schmidt eingesetzt haben, vor allem die Wirtin eines Gasthauses.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Die Wirtin und das Pflegepersonal des Hospitals. Auch Selma Wolkenheim war mir sympathisch.

Welche Figur war mir antipathisch?
Professor Brunner, Chefarzt der Klinik.

Meine Identifikationsfigur
Keine.
 
Cover und Buchtitel
Joseph Schmidt sieht hier zu ausgelassen aus, zu freundlich, obwohl er Angst hatte, im Zug von der Gestapo aufgegriffen zu werden. Deshalb meine Frage; darf Traurigkeit auf einem Titelblatt nicht sein? Muss sie retuschiert werden?

Zum Schreibkonzept
In dem Buch gibt es mehrere Perspektiven, die sich über das Schicksal des Künstlers und über das Verhalten der Schweizer auslassen. Es gibt einen objektiven Erzähler, und im Wechsel wird die Perspektive verschiedener anderer Figuren in Kursivschrift dargestellt, die sich zum Sachverhalt beziehen, was ich spannend fand. Der Schreibstil ist flüssig und sehr gut verständlich. Auf den letzten Seiten gibt es einen Hinweis und eine Danksagung.

Meine Meinung
Vielerorts unter der Leserschaft liest man, dass der Sänger Joseph Schmidt kein Sympathieträger sei, da er Frauen benutzt und sein Kind im Stich gelassen hätte. Ich sehe es ein wenig anders, da viele Künstler*innen Probleme haben, sich eine beständige partnerschaftliche Beziehung aufzubauen. Andere dagegen, die in einer Beziehung lebten, ließen sich von ihr wieder lösen, weil sie darin ihren Lebenssinn nicht fanden. Man hat schon viel gelesen über Künstler*innen, die, weil sie mit dem Leben nicht klarkamen, sich das Leben genommen haben, andere waren dem Alkoholkonsum ausgesetzt, um ihre Probleme zu betäuben, etc. Viele Künstler*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind einem permanenten seelischen Druck ausgesetzt, da ihr Auftritt mehr als gut sein musste. Außerdem haben viele gar keine Zeit, sich dem viel zu trivialen Alltag hinzugeben. Viel zu hoch sind deren Lebensideale. Sogar viele Schriftsteller*innen haben es schwer und denke dabei auch an Hermann Hesse, der Probleme mit Frauen hatte und war dadurch mehrfach verheiratet und mehrfach geschieden …

Eine persönliche Erfahrung, die ich mit dem Künstler teilen kann
Meine Heimat ist die Musik. Hier spricht mir Joseph Schmidt aus der Seele. Auch für mich ist die Musik Heimat. Sowohl wenn ich selbst musiziere, als auch wenn ich Musik nur höre. Für mich ist die Musik so wichtig wie Lesen, so wichtig wie Essen und Trinken. Musik versetzt mich in andere Welten, in andere Spähren, die man kaum in Worten fassen kann. Außerdem löst Musik in mir Spannung auf. Wenn ich mit anderen Menschen verstimmt bin, dann befreit mich die Musik und so löse ich mich von dem inneren Konflikt, bin nicht mehr nachtragend und kann vergeben, wenn ich Unrecht erfahren habe, oder wenn ich Unrecht tue, vergebe ich mir selber ... Musik löst in mir ein Gefühl des Weltfriedens aus. Ich sehe mich mit allen Menschen der Welt verbunden und nicht nur mit Menschen meiner Heimatländer. Sie löst meine nationale, deutsche Identität auf, und weitet meine Identität, löst sämtliche Grenzen auf, sehe mich als einen Menschen dieser Erde, und begreife, dass wir alle in einem Boot sitzen. Ich bin dankbar, dass mir Joseph Schmidt zu diesem Bewusstsein verholfen hat, wo ich doch noch vor Tagen mit zwei Freundinnen über die nationale Identität mich ausgetauscht habe, und ich mich hinterher gefragt habe, ob ich mich von ihnen überhaupt verstanden gefühlt habe??? Mit dieser Einsicht fühle ich mich in der Identität eines Weltmenschen mehr als bereichert und verzichte gerne auf die nationale Identität, die, wie wir auch hier gesehen haben, ausgrenzend sein kann. 

Mein Fazit
Insgesamt eine sehr nachdenklich stimmende, eine sehr differenzierte und authentisch geschriebene Biografie, deren Thematik, wie ich oben schon geschrieben habe, politisch in unsere Zeit passt. Auch hier hört man in der Bevölkerung immer wieder, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufnehmen würde. Viele darunter wählen dadurch sogar die AfD. Mir stellt sich die Frage, ob der Mensch nicht fähig ist, aus der Geschichte zu lernen? Ich finde keine Antwort darauf ... Ich selbst kannte Joseph Schmidt nicht, auch nicht seine Arie Ein Lied geht um die Welt. Hier ein Filmausschnitt auf YouTube zu Joseph Schmidts Leben und zu seinem Lied. Er hat tatsächlich die Stimme eines Enrico Caruso.

Das Lied kann man in diesem Video hier besser verstehen. Ich kenne es doch. Wie schön. Es ist wirklich wunderschön. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftlich gut recherchiert
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde auf Whatchareadin. Ich werde mich morgen Abend bestmöglich daran beteiligen. Mir fehlt es an Zeit, neben dem zu lesenden Buch, und neben meiner eigenen Rezension auch noch die vielen Posts in der Leserunde zu lesen, noch dazu eigene Texte verfassen. Ich habe häufig die Ruhe dafür nicht, werde mich deshalb in der zweiten Jahreshälfte stark zurücknehmen. Habe meine eigenen Leseprojekte jetzt auch noch stark vernachlässigt. Irgendwie die goldene Mitte finden, das müsste ich besser hinbekommen.

Hier geht es zur Rezension von Anne Strandborg.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 

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Meine Heimat ist die Musik
(Joseph Schmidt)

Gelesene Bücher 2019: 17
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 14. April 2019

Charles Lewinsky / Der Stotterer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre    

Obwohl ich aus Mangel an Lesezeit relativ lange für dieses Buch benötigt habe, hat es mir trotzdem gefallen, wobei es im letzten Drittel ein wenig langatmig wurde. Zum Ende hin wurde es aber wieder spannend.

Ich werde mich kurzhalten müssen, da dieses Buch, das sich in der JVA abspielt, wenig Handlung bietet. Das Buch ist sehr monologisch aufgebaut, dadurch, dass der Protagonist aufgrund seiner Sprachstörung, die sich klonisches Stottern nennt, Dialoge mit anderen Menschen weitestgehend meidet.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autor*inporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Der Held dieser Geschichte ist Johannes Hosea Stärkle. Dadurch, dass Stärkle aus einer strenggläubigen katholischen Familie kommt, scheint es mir, als haben ihm die Eltern biblische Namen erteilt. Bin dem aber nicht weiter nachgegangen … Stärkle ist in Bachofens Gemeinde großgeworden. Bachofen ist der Kirchenchef, er leitet die Gemeinde, und der immer zu glauben meint, wie Störungen bei Menschen auszutreiben sind …

Stärkle leidet seit seiner Jugend an einer Sprachstörung, die er nicht in den Griff bekommt. Sowohl sein Vater als auch Bachofen möchten ihm diese Störung über körperliche Züchtigungen aus dem Leib prügeln … (S.14) Welche Rolle spielte dabei die Mutter? Sie verhielt sich passiv, hielt sich raus, wenn der Knabe mit einem Bambusstock, mit einem Gürtel, oder mit einem Tennisschläger verprügelt wurde. Frauen durften Männern hier auch nicht widersprechen. Stärkles ältere Schwester Elisabeth, auch ein biblischer Name, musste später dieselbe unterwürfige Rolle als Hausfrau und Mutter spielen, wie sie diese von ihrer eigenen Mutter vorgelebt bekommen hat ... 

Später geht hervor, wie es dazu kam, dass Stärkle plötzlich nicht mehr fließend sprechen konnte. Stress durch mehrere Schulkameraden, die ihn zum Opfer machten …

Im Laufe des Lebens entwickelte sich Stärkle zu einem Hochstapler, weshalb er im Knast sitzt. Hier lernt er den katholischen Gefängnispfarrer namens Arthur Waldemeier kennen. Die Gefängnisinsassen nennen ihn alle Padre und dieser Padre sieht in Stärkle großes geistiges Potenzial und gibt ihm den Rat, alle seine Gedanken schriftlich niederzuschreiben. Und somit schreibt Stärkle regelmäßig Briefe an den Padre, meist reflektierende Gedanken über sein bisheriges Leben und bestückt diese reichlich mit Bibelzitaten.
Stärkle ist bibelfest, kennt sämtliche Bibelzitate, über die er sarkastische Äußerungen laut werden lässt, die einen an den Rand des Zynismus treiben. Auch den Padre nimmt er mithilfe der Bibelzitate häufig auf die Schippe.

Stärkles Schreibtalent weitet sich immer mehr aus, sodass in ihm der Wunsch keimt, Schriftsteller zu werden.

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Das Verhalten seiner Eltern und das des Bachofens. Bachofen entpuppte sich auch zu einem Scharlatan, der von sich überzeugt war, das sogenannte Sündige im Menschen methotisch mit Exorzismus austreiben zu können und es zu müssen.
Auch hier rächt sich Stärkle später gemeinsam mit einem Bekannten aus der Jugendzeit.

Eine weitere Szene fand ich grausam. Der Suizid von seiner Schwester Elisabeth ...

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Stärkle rächt sich an seinen Mitschüler Nils, der ihn gemobbt hat. Er musste viele Prügeleien einstecken. Die Art, wie er sich gerächt hat, fand ich sehr originell. Er schrieb an Nils mehrere anonyme Liebesbriefe und köderte ihn damit. 
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Und natürlich: Gemeinheit um Gemeinheit. Nils hatte mich zum Stotterer gemacht, zum Watschemann, zur Witzfigur, hatte mich zum Opfer degradiert, lang bevor >>Opfer<< unter seinesgleichen ein gängiges Schimpfwort wurde. (2019, 52)

Ich halte nicht viel von Rache aber hier scheint ja eine andere Bewältigungstaktik unter Jungen nicht geholfen zu haben.
Stärkles Schreibtalent kam schon in seiner Schulzeit zum Einsatz, ohne dass ihm das wirklich bewusst war, denn diese erfundenen Liebesbriefe wirkten sehr authentisch. Auch später noch erfindet Stärkle Geschichten, mit deren Hilfe er sich bei verschiedenen unliebsamen Mitmenschen rächt, weshalb er sich und alle Schriftsteller als Lügner begreift. 

Interessant finde ich auch den Fragebogen, den Stärkle über sich selbst entwickelt hat. Er bezeichnet diesen Fragebogen als Der Marcel Proust Fragebogen.

Eine Frage davon lautet: Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Die der anderen. Weil man gut von ihnen leben kann.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Der Padre, der Stärkle gefördert hat, der es geschafft hat, sein Potenzial ans Licht zu rücken. Auch setzte er beim Gefängnisdirektor durch, Stärkle, der auch Bücher liebt, als Bibliothekar für die Gefängnisbibliothek zu beauftragen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Ganz viele.

Meine Identifikationsfigur
Keine

Cover und Buchtitel            
Beides fand ich passend. Betrachtet sich Stärkle im Spiegel? Hier finde ich die Perspektive interessant. 

Zum Schreibkonzept
Man erfährt erst sehr viel später, was die Gründe sind, weshalb Stärkle im Knast sitzt. Am Anfang ist im Buch eine Widmung an Thomas abgedruckt, der sich ein anderes Buch gewünscht hätte. Auf der nächsten Seite befinden sich zwei Zitate; ein Zitat aus dem Johannesevangelium und eins von Arthur Schopenhauer. Das ganze weitere Buch ist mit Bibelzitaten und mit Zitaten von Schopenhauer verziert. Anschließend beginnt das Buch auf Seite 9, indem Stärkle an den Padre schreibt. Es gibt keine Dialoge. Alles, was man über andere Menschen erfährt, erfährt man immer über die Briefe an den Padre oder über Tagebucheintragungen. Eine Chronologie gibt es nicht. Die Struktur scheint zufällig gewählt zu sein.

Da Stärkle sich als fabulierfreudig erweist, lernt man über die Briefe, die an den Padre gerichtet sind, viele Geschichten kennen ... Dieses Buch, das arm an Dialogen ist, lebt von den Geschichten, die Stärkle schriftlich erzählt. Besonders gehaltvoll finde ich die Geschichten Der Enkeltrick; Mutter Speckmann, denke in diesem Zusammenhang an die gutgemeinte aktive Sterbehilfe. Die Geschichte mit Nils fand ich sehr spannend. Auch die Geschichte mit Bachofen und dessen Pädophilie, ein Mix zwischen Realität und Fiktion … Ich möchte nicht zu viel verraten …

Meine Meinung
Mich hat die Intellektualität des Protagonisten fasziniert, wie er versucht, auf schriftlichem Weg sein verkorkstes Leben und das seiner Mitmenschen in der Ichperspektive zu verarbeiten. Schriftlich, um nicht mit seiner Stimme reden zu müssen.
Ich liebe Worte. Ich liebe es zu lesen, und ich liebe es zu schreiben. Beim Schreiben stottere ich nicht. Win-Win. (10)

Dadurch fand ich den gesamten Schreibstil interessant. Ohne ihn hätte ich das monotone Monologisieren nicht bis zum Schluss durchstehen können. Am Ende erwartet den Leser*innen eine schöne Überraschung.

Mein Fazit
Das Durchhalten hat sich gelohnt, das Buch konnte mich in seiner Sprache und vom Inhalt her gut packen. Man hätte den Stoff allerdings ein wenig straffen können.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.


Weitere Information zu dem Buch

Vielen herzlichen Dank an den Verlag von Diogenes für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Vielen Dank auch an das Team von Whatchareadin für diesen tollen Buchvorschlag.

Leider konnte ich aus Zeitgründen nicht an der Leserunde teilnehmen, so wie ich es mir gewünscht hätte. Hier geht es zum regen Buchaustausch.

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Gelesene Bücher 2019: 15
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86