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Montag, 5. Juli 2021

Prousts Pläne mit seinem literarischen Lebenswerk

Weiter geht es dieses Wochenende von der Seite 694 bis 704.

In dieser Besprechung geht es hauptsächlich um Prousts Pläne, sein Romanwerk in Druck zu geben. Proust sucht einen Verleger, ist aber nicht sicher, wer es werden soll und ob es nicht vorteilhafter wäre, sein Buch auf eigene Kosten selbst herauszubringen. Er weist schon im Vorfeld dem Verleger Fasquelle auf Anstößigkeiten hin, noch bevor dieser selbst das Manuskript gelesen hat. Daran wird für mich deutlich, wie sehr Proust entweder mit einer Ablehnung rechnet, oder mit Abstrichen und Abstriche ist er nicht bereit, hinzunehmen.

Doch was das betrifft, ist Proust mit seinem Lebenswerk, das zukünftig mit dem siebten Band abschließen wird, noch längst nicht durch. Die morgige neue  Leserschaft weiß mittlerweile, dass sein Romanzyklus erst kurz vor seinem Tod fertig werden wird. Und bis dahin vergehen noch knapp zehn Jahre. Das bedeutet, einige Teile sind bis jetzt noch gar nicht geschrieben. Proust selbst weiß noch nichts von seinem Glück, dass er noch mehr Samen ausstreuen muss, um sein Lebenswerk zum Abschluss zu bringen.

In dem folgenden Brief geht es darum, dass Proust wohl in Eugène Fasquelle einen Verleger finden könnte, es für mich aber noch unsicher ist, wer der wirkliche Verleger letzten Endes tatsächlich sein wird. Ich bin gespannt und total neugierig darauf, wie Proust sich entscheiden wird. Ein kurzer Austausch mit seinem Freund A. Bibesco, der ihm eine gute Stütze ist.

An Antoine Bibesco
Ende Okt. 1912, hier ist Proust 41 Jahre alt

Du weißt ja, dass Calmette sich freundlicherweise verpflichten wollte, meinen Roman bei Fasquelle unterzubringen. Aber ich fürchte (obwohl ich ihn Fasquelle noch nicht gegeben habe), dass er dieses Werk in drei Bänden unter drei verschiedenen Titeln (oder in zwei Bänden unter zwei verschiedenen Titeln) und mit zeitlichem Abstand zwischen den einzelnen Bänden herausbringen will. Zum anderen scheint mir, dass die Revue Francaise einen günstigeren Boden für die Reifung, für die Verbreitung der Ideen bieten würde, die in meinem Buch enthalten sind. Kurz, ich möchte mein Buch auf meine Kosten (und nicht mehr wie bei Fasquelle auf Kosten des Verlegers) bei der Revue Francaise erscheinen lassen. Kannst Du sie darum bitten? Sie werden überzeugt sein, dass ich ihnen meinen meine Artikel schicken ließ, um das vorzubereiten. (694f)

Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass es aus diesen wenigen Bänden später sieben verschiedene Teile mit unterschiedlichen Titeln noch werden sollen. Momentan kämpft Proust noch sehr um das Formale:

Das Werk wird ungefähr 1250 reichlich gefüllte Seiten zählen (bei ungefähr ebenso viel Zeilen pro Seite wie Fasquelles Édukation sentimental). Am besten wäre, es erschiene in zwei Bänden, der eine 700, der andere 550 Seiten stark. Sonst zwei zu 600 oder 3 zu 400 Seiten. Ich könnte die ersten 600 Seiten sofort in Druck geben lassen, und während der Druck anläuft, würde ich den Rest ins Reine schreiben und zugleich die Fahnen korrigieren. Sieh bitte zu, dass die Revue francaise zusagt; ich bin sehr erpicht darauf. (696)
Im Folgenden ein Brief, der direkt an den Herausgeber Fasquelle geht. Hier gibt Proust Vorgaben, wie er sein Buch verlegt haben möchte.

An Eugène Fasquelle, Verleger der Revue Francaise,
Ende Oktober 1912

Monsieur,

Monsieur Calmette schickt mir die denkbar angenehmste Nachricht, indem er mir mitteilt, dass Sie mein Werk zur Veröffentlichung annehmen. Dass es bei Ihnen erscheinen soll, überwältigt mich dermaßen, dass ich fast Angst hatte, es sei wie alles, was man sich sehr wünscht, nicht durchführbar; erlauben Sie daher, dass ich Ihnen zuallererst meinen Dank ausspreche. 

In aller Aufrichtigkeit möchte ich Sie von vornherein darauf hinweisen, dass das betreffende Werk das ist, was man früher unschicklich nannte, noch sehr viel und unschicklicher als das, was gewöhnlich erscheint. Wenn ich Ihnen in dieser Hinsicht einige Erklärungen schulde, so deswegen, weil ich Sie mit dem Manuskript des ersten Bandes, den ich Ihnen schicke und der von wenigen Stellen abgesehen sehr keuch ist, nicht über den Rest hinwegtäuschen möchte, und ich möchte auch nicht, dass Sie nach Erscheinen des ersten Bandes die beiden letzten nicht mehr veröffentlichen wollen (oder den letzten, denn vielleicht ist der ganze zweite Teil den einem einzigen starken Band unterzubringen).

Dieser zweite Teil liegt geschrieben vor, aber da er nur in Form von Heften und nicht maschinenschriftlich existiert, schicke ich ihn Ihnen nicht vorweg, das diesem Brief beiliegende Manuskript bietet ja schon genug Stoff für einen Band. (698)

Inhaltlich äußert Proust:

Eine meiner Gestalten (sie treten im Werk auf wie im Leben, das heißt, sie werden anfangs nur flüchtig gestreift und oft erst viel später als Gegenteil dessen durchschaut, was man sich zuerst dachte) tritt im ersten Teil nur ganz am Rande als mutmaßlicher Liebhaber einer meiner Heldinnen in Erscheinung. Gegen Ende des ersten Teils (oder zu Beginn des zweiten, falls das Manuskript, das ich Ihnen schicke, die Grenzen eines Bandes leicht überschreitet) lernt er sie kennen, brüstet sich mit seiner Virilität, seiner Verachtung für die verweichlichten jungen Leute usw. Im zweiten Teil nun stellt sich derselbe, ein alter Herr aus bester Familie, als Päderast heraus; Er wird in komischer Manier gezeichnet, aber man sieht, wie er, ohne dass ein unanständiges Wort fällt, einen Concierge >herumkriegt< und einen Pianisten aushält. Ich glaube, dieser Charakter - der virile Päderast, der wütend ist auf die verweichlichten jungen Leute, die Etikettenschwindel betreiben, weil sie bloß Frauen sind, dieser >Misanthrop< aus Leiden an den Männern, ganz wie manche Männer misogyn sind, die zu sehr unter Frauen gelitten haben, dieser Charakter ist, glaube ich, etwas Neues (vor allem durch die Art, wie er dargestellt ist, die ich hier nicht ausführen kann) - und deswegen bitte ich Sie, mit niemandem darüber zu sprechen. Folgendes ist in dem zweiten Teil stark anstößig. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich es durchaus nicht darauf angelegt habe, und der Grundzug meines Werkes dürfte für die sittliche Qualität meiner Absichten bürgen. Und indem ich Sie bitte, ein Thema >vertraulich< zu behandeln, von dem niemand weiß und dass man mir ausreden könnte, wenn es >durchsickern< würde, teile ich Ihnen im Folgenden einige Einzelheiten mit, sodass Sie von vornherein alles kennen, was Sie von Ihrer wohlwollenden Entscheidung abbringen könnte. (698f)

Im Weiteren geht es um die Suche nach dem passenden Romantitel: Die verlorene Zeit, und Die wiedergefundene Zeit. Wenn man bedenkt, dass Die wiedergefundene Zeit erst im siebten Teil erscheinen wird, das heißt, er ist noch gar nicht geschrieben, möchte ich gerade nicht in Prousts Haut stecken, wie er von seinen Ideen durchflutet wird. Dadurch ist er gezwungen, seine alte Struktur immer wieder in eine neue zu werfen; neu denken, neu entwerfen, neu gestalten … Sein Lebenswerk ist längst nicht fertig auszureifen, da immerhin noch drei / vier Teile fehlen. 

Da ich glaube, dass Sie mir nicht erlauben würden, die Ziffer I über den ersten Band zu setzen, gebe ich ihm den Titel >>Die verlorene Zeit<<. Wenn ich alles Übrige im zweiten Band unterbringen kann, nenne ich ihn >>Die Wiedergefundene Zeit<<. Und über diese Bandtitel schreibe ich als Haupttitel, der in der seelischen Welt auf eine körperliche Krankheit anspielt: Arrhythmien des Herzens. Wäre wünschenswert, dass der erste Band so umfangreich wie möglich wird, sei es auch nur, um den Schluss in einem einzigen Band unterzubringen (ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist). (699f)

Ich kürze mal ab, da mir die Zitate einfach zu lang sind, möchte aber nur einen Einblick geben, in welchem Prozess Proust gerade steckt, sein Lebenswerk veröffentlichen zu lassen.

In diesem Fall bestünde die verlorene Zeit aus nur einem Band, und was nicht hineinpasst, käme in >>Die wiedergefundene Zeit<<.
Bin gespannt, wie Proust auf den vollständigen Buchtitel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kommen wird, von dem ich mich damals, als ich begonnen hatte, ihn zu lesen, magisch angezogen gefühlt habe.

Interessant finde ich einen weiteren Brief an einen Schriftstellerfreund, in dem Proust über seinen eigenen Schreibstil schreibt. Der Brief geht an Louis de Robert. Louis de Robert *1871, gest. 1937, ist einer der Ersten, der Auszüge aus Prousts Buch zu lesen bekommen hatte, um ihn zu beraten. Doch auch die Weisheiten, die in diesem Brief stecken, Anekdoten aus seinem Roman, möchte ich gerne auch herausschreiben. 

An Louis de Robert
28. Okt. 1912

Ich bin sehr gerührt von ihrer so netten und raschen, das heißt doppelt netten Antwort, wie es in einem Sprichwort heißt >Qui cito dat, bis dat<. (Übers. >>Wer rasch gibt, gibt doppelt<<, s. Fußnote, S. 704) Erlauben Sie mir bitte, ihnen zunächst zu den Freuden und Tagen (ich weiß, man müsste sagen: zu Freuden und Tage, aber sparen wir uns diese Allerweltseleganz) etwas zu sagen, was Sie mir hoffentlich glauben, obwohl es unglaubwürdig erscheinen könnte, würde ein anderer es jemals anderem mitteilen. Als Sie mir letztes Jahr geschrieben haben, fiel mir ein, dass ich Sie ihnen hatte schenken wollen und es nie getan habe, weil ich es zu gut machen wollte: Ich hatte Madame Lemaire bitten wollen, für Sie ein Blümchen auf die 1. Seite zu malen. Und dann konnte ich nie aufstehen, zu ihr gehen (...). kurz, es kam einfach nicht dazu, und ich schicke Ihnen das Buch gleichzeitig mit diesem Brief, denn wenn ich netter sein wollte und es Ihnen immer noch nicht schickte, würde ich Gefahr laufen, überhaupt nicht nett zu wirken. In meinem Buch kommt ein kleiner Junge vor, der einem Bekannten gegenüber sehr viel zum Ausdruck bringen möchte, und als er ihm begegnet, findet er, ein Gruß könne all das bei weitem nicht ausdrücken, und er grüßt ihn nicht. Der andere vermerkt das natürlich übel. Ich will das so nicht machen wie der kleine Junge und schicke Ihnen die >>Freuden und Tage<<. (...) was den Artikel in der Renaissance Latin angeht, so wurde er zur Einleitung einer Übersetzung von Sésame et Lys umgearbeitet. Aber wenn Sie meine Sätze verschachtelt finden, was werden Sie dann erst zu diesem nicht enden wollenden sagen (...). (701f)

Ich finde diesen Brief wunderschön. Ich lese ihn immer wieder, und nicht nur diesen Ausschnitt. Doch was die Verschachtelung jener Sätze betrifft, wie Proust es selbst empfindet, ich erinnere mich, die haben mich in seinem Roman nicht gestört, vielleicht, weil ich selbst verschachtelt schreibe. Aber seine Sätze, die keinen Punkt haben finden können, haben mich genervt. Sehr häufig verlief ein Satz tatsächlich weit über eine Buchseite hinaus. Monströse Sätze, die mich daran hinderten, mir die vielen proustischen Gedanken darin zu behalten. Das habe ich wegen dieser Wiederholungen als eine Odyssee in dieser Sprachlandschaft empfunden. Immerzu die Frage, wie komme ich hier aus diesem Satzdschungel wieder heraus? Ich hatte mir dann selber fiktive Punkte gesetzt, damit die Themen in diesem Satz bei mir im Kopf und in der Seele endlich landen konnten. Sonst wären sie in einer geistigen Fata Morgana versandet und das wollte ich tunlichst verhindern. 

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass sie mir anbieten, mit Fasquelle zu sprechen. Ich weiß sehr wohl, wenn er es tut, da nicht meinetwegen, sondern um Calmette einen Gefallen zu tun; aber trotzdem möchte ich, dass er vorher ein wenig Bescheid weiß, wer ich bin (in literarischer Hinsicht); und ich weiß, welches Gewicht ein wohlwollendes Wort aus ihrem Mund hätte. Die werden mir damit einen wahren Dienst erweisen. Und wenn Sie den Eindruck haben, dass Fasquelle mich lieber nicht verlegen würde, sagen Sie es mir. (701ff)

In dem Brief drückst Proust auch die Sorge aus, nicht mehr genug Zeit zu haben, seinen Roman zum Abschluss zu bringen. Er ist einfach sehr krank und er spürt deutlich seine Zeitnot. Siehe dazu dortigen Brief.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 704 bis 714.

Samstag, 26. Juni 2021

Marcel Proust und der Brief an den Hund Zadig

Bildquelle: Pixabay
Es geht in die nächste Proust–Runde und setze die Briefe 
aus BD 1 weiter fort. Es gibt nach einer größeren Pause eine kleine Veränderung. Da Anne seit Herbst 2020 aus unserem Leseprojekt ausgestiegen ist und die Namensliste der Briefpartner dadurch nicht mehr fortgeführt wird, das war ihr Part, werde ich ab jetzt unter jedem Namen, den ich hier erwähne, die Personenbezeichnung in Klammern dazu setzen. Alles andere bleibt vom Schreibstil her bestehen wie gehabt.

Auf den folgenden Seiten nimmt man als Leser*in an dem langen Prozedere teil, wie Proust sein großes Werk seiner Recherche fertigmacht und sie auf den Weg zu einer Veröffentlichung bringt. Viele Gedanken über die Titelsuche, über die Struktur, über die Findung eines passenden Verlages … Doch nicht nur dies. In Prousts Briefen menschelt es wieder ordentlich, was ich wunderschön finde. Diese Briefe zaubern mir beim Lesen immerzu ein Lächeln auf die Lippen.

Neben den Briefen zu seinen Buchplänen bringe ich zudem ein Zitat zu dem Theatrophon und zu dem Hund seines Freundes Reynaldo Hahn namens Zadig mit ein.

Seite 658 bis 674

Die Veröffentlichung der Recherche ist ein enormer Prozess, sodass ich sicher mehrere Besprechungen darüber schreiben werde.

Proust ist noch unschlüssig, ob er sein Werk durch einen Verlag herausbringen möchte oder sich lieber als Selbstverleger dranmachen soll. Von Verlagsseiten scheinen ihm die Bedingungen zu hoch zu sein, möchte sich ihnen nicht beugen ... Sein Werk sei zu gesellschaftskritisch, für die damalige Zeit sogar zu anstößig, vor allem was die sexuelle Orientierung, die Homosexualität betrifft, denn Proust ist ein absoluter Tabubrecher … Er möchte keine Kompromisse eingehen.

Interessant finde ich, wie seine Recherche in einem kleinen Heftchen Carnet skizziert wird und sie darin wächst und wächst, sodass daraus mehrbändige Cahiers werden, bis sie irgendwann als ganze Buchbände vor ihm liegen. 

An Georges de Lauris, (ein Brieffreund)
März 1912

Ich bin sehr in Verlegenheit, mich im Hinblick auf dieses Buch zu entscheiden. Soll es ein Band von 800 - 900 Seiten werden? Ein Werk in zwei Bänden von je 400 Seiten? Zwei Werke von je 400 Seiten mit jeweils einem anderen Titel, unter einem gemeinsamen Obertitel? Das gefällt mir zwar weniger, ist aber den Verlegern angenehmer. Nur, soll man dann zwischen dem Erscheinen der zwei Bände eine Pause einlegen? Das läuft dem Geist des Buchs sehr zuwider. Und um eine augenfällige Einteilung zu finden, müsste man im ersten Band (wenn sie unterschiedliche Titel haben) den 1., 2., 3 und 5., Teil veröffentlichen, sodass der 4. erst im 2. Band erschiene, wobei man darauf aufmerksam machen müsste, dass er vor den letzten des ersten Bands gehört (dies, weil nach dem 5. eine Pause eintritt, aber wenn es die 5 Teile im ersten Band gäbe, hätte er 700 Seiten und der zweite nicht mehr als 200.) Aber ist das möglich? (Wenn es ein Werk in zwei unter demselben Titel gleichzeitig erscheinenden Bänden wäre, würde das gar nichts ausmachen, denn dann wäre keine Einteilung nötig, ich würde die Gesamtzahl der Seiten durch 2 dividieren und die eine Hälfte in einen Band, die andere Hälfte in den anderen stecken - übertrieben gesagt, aber letztlich in der Art.) (669)

In diesem Brief befindet sich Proust in einer großen Entscheidungsfrage, sein opulentes Romanwerk in Druck zu geben. Er erkennt selbst, dass sein Buch in einem einzigen Band definitiv zu lang ist.

 

Er bittet seinen Freund indirekt um Rat. Weitere interessante Details hierzu sind dem Brief zu entnehmen.

 

Proust sucht einen Verleger:

Träume ich oder hatten Sie mir einmal gesagt, dass Rene Blum vorübergehend bei Fayard oder ich weiß nicht wem gewesen war? Vielleicht ist er in diesen Fragen bewandert genug und könnte mich aufklären. Calmette dürfte das Buch aus übertriebener Liebenswürdigkeit Fasquelle bringen (was nicht mein Traum ist). Aber vorher will ich genau wissen, was ich verlangen darf, damit der Verleger sich nicht nur um das kümmert, was ihm am angenehmsten ist. (Ebd.)

Proust kränkelt wieder, kann nicht ausgehen, kein Theater besuchen, und nutzt zu Hause sein Thetrophon und genießt eine Oper von Debussy Pelléas et Mélisande. Folgende Textstelle hat mich tief berührt, die ich unbedingt festhalten möchte. Der Brief geht an …

… Antoine Bibesco (Diplomat)
Ende März 1911, hier ist Proust 39 Jahre alt

Ich bin äußerst erschöpft, weil ich unglücklicherweise am Theatrophon von Pelléas gehört und mich darin verliebt habe. Jeden Abend, an dem das aufgeführt wird, stürze ich mich auf dieses Gerät, so krank ich auch sein mag, und an den Tagen, an denen es nicht aufgeführt wird, übernehme ich Periers Rolle (Tenorsänger an der Pariser Oper, Anm. M. P.) und singe es mir vor und schlafe keinen Augenblick mehr. Danke nochmals für Deinen Besuch neulich, der mich so glücklich gemacht hat. Ich kann nicht mehr arbeiten! (658)

Diese Szene stelle ich mir bildhaft und auch lustig vor. Proust ist so was von lebendig, alle Sinne schwingen mit ihm mit, keine unterdrückt er. Das finde ich an ihm so wunderbar. Er ist ganz Mensch. Viele Intellektuelle könnten sich von ihm eine Scheibe davon abschneiden; sie denken, das wahre Leben spiele sich nur im Kopf ab und merken nicht, wie einseitig ihre Lebensweise doch ist, wenn sie den ganzen Tag Hochtrabendes von sich geben und der ganzen Welt ihr Wissen zur Schau stellen müssen. Hierfür liebe ich Marcel, der mir sein intellektuelles Leben in ganzheitlicher Form vorlebt. Seit ich seine Briefe lese, zieht es mich nicht mehr in diese einseitigen intellektuelle Kreisen hin ... Proust wirkt überhaupt nicht so blasiert wie der fiktive Marcel, den ich innerlich lesend häufig in seiner Arroganz abgestoßen hatte.

An Zadig (Reynaldos Hahn Hund, ein Langhaardackel; Reynaldo ist Prousts Liebhaber)
Okt. / Nov. 1911

Mon chér Zadig
Ich mag dich sehr, weil Du aus dem gleichen Grund wie ich viel Kummer und Liebe hast; und Du hättest auf der ganzen Welt nichts Besseres finden können. Aber ich bin nicht eifersüchtig, dass er mehr mit Dir zusammen ist, weil das gerecht ist und Du unglücklicher bist und mehr liebst. Ich will Dir sagen, woher ich das weiß, mein nettes Hundchen. Als ich klein war und Kummer hatte, weil ich von Mama weggehen oder verreisen oder ins Bett gehen sollte, oder weil ich ein Mädchen gern hatte, war ich unglücklicher als heute, einmal, weil ich wie Du nicht frei war, wie ich es heute bin, meinen Kummer irgend woanders loszuwerden, und also mit ihm eingeschlossen war, aber auch, weil ich in meinem Kopf angebunden war, keinen Gedanken hatte, keine Erinnerung an Gelesenes, kein Vorhaben, das mir Zuflucht geboten hätte. Und so bist du, Zadig, Du hast nie gelesen und Du hast nie Gedanken. Und Du musst hundeelend sein, wenn du traurig bist. (660)

Rührend dieser Brief … Doch stark anthropomorphistisch; nein, lieber Marcel, Tiere können unsere für Menschen gemachte Welt tatsächlich nicht lesen, so wie die Menschen die tierische Lebenswelt aber auch nicht lesen und nicht denken können ...

Weiter geht es am übernächsten Wochenende von der Seite 694 bis 704.

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Man kann nur über das gut schreiben,

was man liebt.

(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

 

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

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Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Dein Schmerz, Mein Schmerz
Mein Schmerz, Dein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

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Gehörte Bücher 2021: 13

Ich höre gerade: Sten Nadolny / Weitlings Sommerfrische
Aljoscha Long u. a. / Mit dem Herzen siehst du mehr
Hugh Lofting: Doktor Dolittle
Geo Podgast Staffel 2 / 26 Folgen zu Wissenschaft und Technik

Sonntag, 11. Oktober 2020

Proust und die Frage, wer sich hinter dem Rezensenten Louis Chevreuse verbirgt?

Auf den folgenden Seiten bekommt der Pariser Roman immer mehr Kontur. 

Foto: Journalist und Schriftsteller Robert Dreyfus, 1873 - 1939
sucht Anregungen oder Tipps bei seinem Freund Georg de Lauris bezogen auf die Figuren der Guermantes. Ach, wie vertraut mir doch dieser Name Guermantes nur ist. Aber 
die Antwort bleibt aus und Proust bohrt nach. (631)

Auf der Seite 648 gibt Proust seinem Freund Georges de Lauris am Ende seines Briefes bekannt, dass sein Roman kurz vor dem Abschluss stehen würde. Ui, denke ich mir, niemals kann die Recherche schon beendet sein. Ich bin so gespannt, wie sich dieser Prozess, von dem Proust selbst noch nichts ahnt, sich entwickeln wird. 

Leben Sie wohl, lieber Georg, ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, gibt noch vieles andere, was ich nicht mehr tue,  und zwar schon lange nicht mehr. Trotzdem, mit ein wenig Schwung wäre mein Buch in zwei Monaten fertig, aber werde ich diese zwei Monate je haben. (Februar 1911)

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Recherche sein Lebenswerk war. Kurz vor seinem Tod hatte er sie beendet. Hier ist er erst Ende 30 und gestorben ist er mit 51 Jahren.

Doch es gab einen Brief, der mich positiv schmunzeln ließ, als einer seiner besten Freunde unter einem Pseudonym einen lobenswerten Artikel zu Prousts Übersetzung über die Bible d`Amiens geschrieben hatte. Es ist charmant zu lesen, wie verblüfft Proust war, als sich herausstellte, wer sich hinter diesen Decknamen verbarg. 

An Robert Dreyfus
8. Oktober 1910, Proust ist hier 39 Jahre alt

Ich hätte ja nichts dagegen, wenn Du mich weiterhin für scharfsinnig hieltest, aber ich muss doch der Wahrheit die Ehre geben: Nicht eine Sekunde lang habe ich vermutet, dass Du Chevreuse bist, und habe völlig naiv an Dich geschrieben, ohne zu ahnen, dass ich an Chevreuse schreibe. Besonders töricht war es, dass ich mir zwar dachte, es könne ein Pseudonym sein, dass hinter diesem Pseudonym Bonnard, Beaunier (...) stecken könnten (ein sehr elastisches Pseudonym) und dass jedes Mal, wenn man sich irrt, mir nicht einmal die bloße Möglichkeit, dass Du es sein könntest, in den Sinn kam. Es ist mir im Traum nicht eingefallen! Vielleicht weil ich, da Du schon als D. sehr nett zu mir gewesen bist, gedacht habe, damit wäre es genug für das ganze Leben und Du würdest nie wieder auf die Idee kommen, meinen Namen zu erwähnen. (...) Was Du gesagt hast, ist überaus nett, aber vor allem ist es überaus nett, dass gerade Du es gesagt hast. Gewiss, es ist schmeichelhaft, unbekannte Freunde zu haben. (...) Und dieser Chevreuse, der an der Bible d`Amiens Gefallen fand - ich habe Dich zwar gefragt, ob das nicht das Pseudonym von jemanden sei, den ich kenne, aber im Grunde habe ich doch gehofft, dass es jemand ist, den ich nicht kenne, jemand ungeheuer Talentiertes, der die Bible d`Amiens so sehr mochte, dass er es unbedingt mitteilen musste. Aber eigentlich bin ich doch nicht enttäuscht, dass dieser sympathische Chevreuse mit jemandem verschmolzen ist, dessen Beifall nur ein Beweis seiner Freundschaft ist. Ich habe dem Unbekannten nicht nachgeweint, ich habe mich lebhaft gefreut, dass es der Freund war. So preise ich Dich, liebe Dreifaltigkeit, in drei Personen, ich bin D. und Chevreuse äußerst dankbar, aber Robert Dreyfus ist mir von den dreien der Liebste. (636f) 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust am 6. oder 7. Oktober in einem Brief seinen Freund Robert Dreyfus um Auskunft bat, wer die Person Louis Chevreuse denn sei?

Prost fragten in einen Brief an Dreyfus, den Dreyfus gerade beantwortet hatte: > Wer ist ein gewisser Monsieur Louis Chevreuse, der mich kürzlich ( ...) auf sehr liebenswürdige Weise zitiert hat, in einem äußerst interessanten Artikel über die Kathedrale von Straßburg. Ist es ein Pseudonym, ist es jemand, den ich kenne? < (638)

In den weiteren Briefen ging es wieder recht geistreich zu. Proust hat ein Theatrophon abonniert, das er allerdings wegen der schlechten Hörqualität wenig nutzen würde. Von zu Hause aus konnte er Opern und Theaterstücke verfolgen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Mit dem Theatrophon wird nochmals deutlich, wie krank er ist, und immer wieder liest man in seinen Briefen, dass er wochenlang oder gar monatelang das Haus nicht verlassen hat.

Aber bei den Opern Wagner, die ich fast auswendig kenne, machen mir die Unzulänglichkeiten der Akustik nicht viel aus. (648)

Erstaunlich, dass er Wagners Opern zum großen Teil auswendig kennt. Er tauscht sich mit seinem Musikerfreund Reynaldo Hahn im März 1911 über verschiedene Opernstücke aus. Ich wusste nicht, dass Goethes Werther auch zu einer Oper komponiert wurde.

Und man liest viel Schmeichelhaftes. Reynaldo Hahn würde mehr Tiefgang haben als der große Wagner. Das war sicher wieder so eine Schleimerei von Proust.

Aber Proust kann auch sehr empathisch sein. Sein Freund Reynaldo Hahn hat am 09.11.1910 seinen Bruder Henri im Alter von 54 Jahren verloren, der in seiner Wohnung verstarb. Der ganze Brief an seinen Freund ist wundervoll geschrieben, ich aber nur die letzten Zeilen zitieren möchte.

Wenn ich etwas für Dich tun kann, sag es mir. Selbstlosigkeit ist ein Ablenkungsmittel für ohnmächtige Zuneigung. Was das Unglück selbst angeht, so kannst Du Dir all die Fragen denken, die ich mir stelle. Aber da ich sie nur Dir stellen will und in diesem Augenblick um nichts auf der Welt will, dass Du mir antwortest, begnüge ich mich damit, in Gedanken Deine Hand in der meinen zu halten und (nicht nur in Gedanken) mit Dir zu weinen. Dein tief trauriger Marcel Proust (642)

Puh, Proust ist nie um Worte verlegen. Er findet selbst in solchen schwierigen Momenten eines Menschen den richtigen Ausdruck, wo manch andere lieber schweigen würden.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 653 – 663.

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Proust Zitate

Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht.
(Marcel Proust zitiert 
Jean de La Bruyère)