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Sonntag, 20. November 2016

Marcel Proust / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1)

BD 5 Die Gefangene


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Bevor ich mit meiner eigentlichen Buchbesprechung beginne, hier erstmal ein paar Leseeindrücke:
Ich freue mich sehr darüber, dass ich es nun tatsächlich geschafft habe, den fünften Band nach dem zweiten Anlauf zu Ende zu lesen. Diesmal war ich ziemlich diszipliniert, habe mir jeden Abend nach Dienstschluss meine geplanten fünfzig Seiten vorgenommen und am Wochenende etwas mehr. Dies erfüllt mich schon etwas mit Stolz, dass ich nun alle sechs Bände durchhabe. Ich habe für den vorliegenden Band eine ganze Woche benötigt.

Zur Erinnerung: Beim ersten Mal, das liegt schon etwas länger zurück, musste ich diesen Band abbrechen. Dann habe ich vor lauter Enttäuschung im sechsten Band rumgeblättert, und der sechste Band schien mich mehr anzusprechen. Und bevor ich den Bezug zu Proust verlieren würde, dachte ich damals, zog ich den sechsten Band vor. Darüber habe ich viel geschrieben, sodass ich schnell wieder in die Thematik reinkommen werde, bevor ich letztendlich mir noch den letzten Band vornehme. Doch damit lasse ich mir noch etwas Zeit.

Dieses Buch auszulesen, gestaltete sich für mich schon als ein riesen Prozess. Am Freitagabend stand ich kurz vor dem erneuten Abbruch. Für ein paar Sekunden hatte ich das Buch schon zugeklappt und habe dabei eine gewisse Freiheit verspürt und mir ausgemalt, was ich nun alles mit dieser wiedergewonnenen Freiheit anfangen würde. Das meiste hatte ich schon hinter mir, die letzten 150 Seiten von satten 650 Seiten waren für mich nochmals eine große Herausforderung. Aber dann hat mich ziemlich rasch die Lust wieder gepackt, Proust weiterzulesen; sehr ambivalent mein Verhalten diesem Autor gegenüber. Er überträgt ungewollt etwas von sich auf mich. Einerseits verachte ich ihn, andererseits verspüre ich auch eine gewisse Liebe zu ihm. Da ich mit Proust noch einiges vorhabe, musste ich einfach durchhalten. Mein Leseprojekt ist selbst nach diesen sieben Bänden noch lange nicht fertig.

Ich muss schon sagen, das Durchhalten hat sich gelohnt, habe viele interessante Themen mitverfolgen können. Den fünften Band habe ich als den schwersten von allen sechs Bänden, aber auch als den interessantesten, erlebt.

Und das Schöne? Ich bin jetzt endlich mit Proust ausgesöhnt. So viel Weisheit, wie ich hier habe finden können, haben meine Sympathiepunkte in die Höhe schnellen lassen. Ich fühle mich ja schon zu ihm hingezogen. Wie hätte ich denn sonst diese sechs Bände aushalten können? Ja, man wird für die aufgebrachte Geduld und für die Ausdauer richtig entschädigt.

Was sich für mich als recht schwierig gestaltet hat, waren die vielen Themen, die Proust hier eingebracht hat, und ich mich ein wenig überfordert fühle, alle diese Themen in meine Buchbesprechung zu verfrachten, bis schließlich meine innere Stimme sagte, lies weiter, das wird sich schon geben. Und so war es auch, nun weiß ich, worin ich meinen Fokus setzen werde. Und zwar in die Beziehung zwischen Marcel und seiner Geliebten Albertine. Die Beziehung ist dermaßen facettenreich, dass ich echt Lust habe, darüber zu schreiben ...

Trotzdem möchte ich die anderen Themen nicht unbenannt belassen, sodass andere LeserInnen vorbereitet sind, was Proust hier so alles recht exzessiv beschäftigt hat:
Literatur
Musik
Architektur
Kunst
Die literarischen Gespräche zwischen Marcel und Albertine fand ich äußerst interessant, als es um Dostojewski ging, der in seinen Romanen oftmals kriminalistische Themen behandelt, und Albertine Marcel die naive Frage stellt, ob Dostojewski selber auch kriminell sei?, denn sonst hätte er nicht darüber schreiben können.

Im Weiteren schreibe ich die Leseeindrücke hier auf für alle ProustanfängerInnen. Ich möchte Mut machen … Ich bin allerdings keine Literaturwissenschaftlerin, deshalb kann ich keine Buchbesprechung in dieser Form verfassen und rate literaturwissenschaftlich interessierte LeserInnen auf entsprechende fachgerechtere Seiten, die es sicher zahlreich im Netz zu finden gibt.

Aber ich möchte auch sagen, habt Mut für eigene Interpretationen. Habt Mut für eigene Ideen, für eigene Beobachtungen, denn auch dies ist eine hohe, geistige Leistung, die viele unterschätzen. 


Es gibt viele Methoden, ein Buch anzupacken. Mich interessiert die menschliche Psyche. Ich lese gerne psychoanalytisch. Proust lädt außerdem regelrecht dazu ein. Außerdem ist die Psychoanalyse auch eine Fachrichtung. Sigmund Freud,*1856, gest. 1939, hätte hier seine Freude gehabt, wenn er Proust gelesen hätte.

Ich selbst habe mir im Netz auch Sekundärliteratur bestellt, so viele gibt es leider nicht, auf die ich allerdings noch warte. Aber im Anhang gibt es zahlreiche Hinweise. Wobei ich aber noch anmerken möchte, dass ich viel Wert darauf lege, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Als begleitende Lektüre gebrauchte ich ein Proust-Lexikon. Aber es gibt noch eine Proust-Enzyklopädie, beides im Suhrkamp - Verlag erschienen.

Proust hat mich arg an Hans Fallada erinnert. Fallada hat über das Leben der kleinen Leute geschrieben, während Proust über die Angehörigen der Bourgeoisie geschrieben hat. Beide aus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, wobei Proust, *1871, gest. 1922, etwas älter als Fallada ist, *1893, gest. 1947. Zufall, dass gerade für beide Autoren mein Interesse gilt. Ich habe auf meinem Blog von beiden Autoren Leseprojekte laufen.

Im Folgenden geht es zu meiner Buchbesprechung.

Da das Buch mit „Die Gefangene“ betitelt ist, wird für die LeserInnen recht schnell klar, dass damit Marcels Geliebte Albertine  gemeint ist. Auch lässt sich dies aus den vorangegangen Bänden schon ableiten. Marcel ist der Icherzähler, der alle seine Themen recht subjektiv behandelt. Warum es so schwer ist, dem Erzähler zu folgen, liegt eben daran, dass Marcel so ziemlich alles vermischt.  Innere Erfahrungen sind weit größer als Erfahrungen, die sich auf Tatsachen berufen. Im Umgang mit Albertine wird das sehr deutlich, aber auch in der Beurteilung von zwei Musikern wie Morel und Vinteuil. Aber dies geht auch aus den vorherigen Bänden hervor. Manche mentale Szenen habe ich sogar als recht wahnhaft erlebt. Marcel bezeichnet sich hin und wieder selbst  als wahnhaft. Er steigert sich oft in seine Wahnvorstellungen rein, die Albertine gegenüber so ziemlich negativ besetzt sind. Er lässt sie beschatten, und wirft ihr Homosexualität vor:
Ich hatte Albertine von ihren Komplizinnen trennen und dadurch meine Halluzinationen bannen können; (2004, 25).
 Albertine und Marcel leben in Balbec zusammen, wobei Albertine zu Marcel gezogen ist.

Sein großes Drama ist die Eifersucht. Er kritisiert zwar recht häufig Morels, der Geiger, cholerisches Verhalten, Marcel selbst ist allerdings auch nicht von Wutanfällen frei. Aber er hinterfragt sich manchmal auch selbst, personifiziert allerdings gewisse negative Eigenschaften:
Die Eifersucht ist auch ein Dämon, der nicht beschworen werden kann; immer wieder erscheint er uns in einer neuen Gestalt. Würde es uns gelingen, sie alle auszurotten und die Geliebte ewig für uns zu behalten, so würde der böse Geist eine andere Form annehmen, die noch weit tragischer wäre, die Gestalt der Verzweiflung nämlich, Treue nur mit Gewalt errungen zu haben, Verzweiflung darob, nicht geliebt zu werden. (143)
Häufig stellte ich mir die Frage, ob man Marcel als beziehungstauglich bezeichnen kann. Schon aus den letzten Bänden geht diese Frage hervor, und ich mich immer freue, wenn ich im Text eine hinweisende Antwort finde, indem er sich selbst diese Frage stellt,
(…) ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müsste, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, dass sie mich zwänge, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer anderen Person abwesend von mir selbst zu leben, und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte. (33)
Immer wieder gehe ich in meinen Buchbesprechungen auf die Beziehungsproblematik ein, die aus Marcels Kindheit herrührt. Gewisse mütterliche Zärtlichkeiten, Liebkosungen, an denen Marcel bis ins erwachsene Alter hängengeblieben ist. Dazu  folgendes Zitat:
Wie früher in Combray, wenn meine Mutter mich verlassen hatte, ohne mich durch ihren Kuss beruhigt zu haben, wollte ich Albertine nacheilen, ich spürte, dass es keinen Frieden für mich gab, bevor ich sie wiedergesehen hatte, dass dieses Wiedersehen etwas Ungeheures sein würde, was es bislang noch nie gewesen war, und dass, wenn es mir nicht gelänge, mich allein von dieser Traurigkeit zu befreien, ich vielleicht die schmachvolle Gewohnheit annehmen würde, mich bettelnd bei Albertine einzufinden. (156)
Dieses Bettelnde findet man im ersten Band wieder, als Marcel noch ein kleiner Junge war, und er ohne den Gutenachtkuss seiner Mutter nicht einschlafen konnte. Der Vater, der nur ganz selten in den Büchern auftaucht, bezeichnet hierzu Marcels Verhalten als übertrieben verwöhnt.
An solchen Abenden empfand ich bei Albertine nicht mehr jene Befriedigung wie durch den Kuss meiner Mutter in Combray, sondern die Angst jener anderen, an denen mir Mama kaum gute Nacht gesagt hatte oder sogar nicht einmal in mein Schlafzimmer gekommen war, weil sie mir entweder zürnte oder durch Gäste abgehalten wurde. Diese Angst - nicht mehr ihre abgewandelte Form innerhalb der Liebe -, nein, diese Angst selbst, die sich eine Zeitlang auf die Liebe spezialisiert hatte, als sich die Teilung, die Aufteilung der Leidenschaften vollzog und sie nur noch der Liebe zugeordnet war, schien jetzt wieder, von neuem unteilbar geworden, auch über alle anderen gebreitet, als ob alle meine Gefühle , die davor zitterten, Albertine nicht an meinem Bett festhalten zu können – als eine Geliebte, als eine Schwester, als eine Tochter, als eine Mutter auch, nach deren täglichem Gutenachtkuss ich wieder ein kindliches Verlangen zu verspüren anfing-, (154f)
Wie ich mit Hilfe dieses Zitat belegen kann, dass Marcels kindliche Erfahrung, das Versagen mütterlicher Liebkosungen, sich wie ein seelisches Trauma anfühlt, und das sich in der Beziehung mit Albertine fortsetzt.

Und so bestätigt es meinen Eindruck, dass Marcel die notwendige Reife fehlt, sich auf Dauer auf einen anderen Menschen einzulassen. Diese Ambivalenz spiegelt sich im ganzen Roman wieder.

Er stellt Albertine oft zur Rede, ob sie mit bestimmten Frauen wie Andrée verkehre? Er bezeichnet sie als Lügnerin, als sie seine Frage negierte.
Ihre Lügen, ihre Geständnisse beließen mir die Aufgabe, die Wahrheit aufzuhellen: ihre Lügen, die so zahlreich waren, weil sie sich nicht damit begnügte, zu lügen wie jedes Wesen, das sich geliebt glaubt, sondern weil sie, abgesehen davon, eine Lügnerin von Natur war (und so sprunghaft im übrigen, dass sie, selbst wenn sie mir jedes Mal die Wahrheit über das gesagt hätte, was sie zum Beispiel von den Leuten dachte, jedes mal etwas anderes geäußert haben würde); (134f) 
Woher bezieht Marcel seine Theorie zu Albertine, die er oftmals verallgemeinernd auf andere Frauen überträgt? Ganz banal; er achtet auf die Mimik, auf die Wortwahl … Manchmal errötet Albertine auf Marcels peinliche Fragen und das Erröten interpretiert Marcel als ein Zeichen, dass Albertine lügt.

Hier seine Lügentheorien, die er auch auf andere Frauen überträgt:
Ist es überhaupt nötig, dass man eine Tatsache weiß? Kennt man nicht von vornherein schon auf eine ganz allgemeine Art die Lügen und die Verschwiegenheit der Frauen, die etwas zu verbergen haben? Kann ein Irrtum noch möglich sein? Sie machen aus ihrer Diskretion eine Tugend, wo man sie doch so gern zum Sprechen bringen würde. Wir spüren, dass sie  ihrem Komplizen gesagt haben: Ich bin verschwiegen. Von mir wird man nichts erfahren. Ich bin verschwiegen. (133)
Genau diese Szene bezeichne ich als eine Halluzination. Er malt sich etwas aus, das er als Wahrheit bezeichnet. Es bestehen keine handfesten Beweise, dass seine Geliebte sich mehr zu Frauen hingezogen fühlt. Weil sie ihm dieses Geständnis nicht abringen kann, bezeichnet er sie als >>die arme Gefangene, die Frauen liebt<<, dabei ist es Marcel selbst, der der Gefangene ist, und sich in seinem Gedankenkonstrukt immer weiter verstrickt, und Probleme hat, emotional da wieder herauszukommen. Marcel projiziert auf Albertine seine innere Beziehungsproblematik, seine für mich innere Unausgeglichenheit, die ich schon arg als symptomatisch bezeichne.

Eine weitere Lügentheorie, die sich auf Frauen bezieht:

Was ist schon die Lüge: Wir leben mitten in ihr und lächeln nur darüber, wir bedienen uns ihrer und glauben, niemandem weh zu tun, doch die Eifersucht leidet unter ihr und sieht mehr, als sie verbirgt, (oft weigert sich unsere Freundin, den Abend mit uns zu verbringen, und geht ins Theater, nur damit wir nicht sehen, dass sie schlecht aussieht), genauso wie sie oft blind ist, was die Wahrheit verbirgt. Doch sie kann nichts erreichen, denn die Frauen, die schwören, nicht zu lügen, würden sich auch unter dem Messer weigern, ihre Natur einzugestehen. (137f)
Immer wieder kommen ihm Verlustängste auf, Albertine könne ihn wegen einer  Frau verlassen, oder auch, weil ihr die Beziehung mit Marcel zu langweilig sei. Doch auch hier projiziert er seine Ängste auf Albertine, wie sich später herausstellte. Es war seine Angst, die Beziehung könnte ihn langweilen. Tief in seinem Inneren wünschte er sich einen Beziehungsbruch.
Die Anwesenheit Albertine bedrückte mich, ich schaute sie an, wie ergeben und verdrossen sie war, und empfand es als Unglück, dass es zwischen uns nicht zum Bruch gekommen war. (579)
Ich möchte ja nicht allzu viel verraten, aber eine wichtige Szene möchte ich unbedingt noch festhalten.

Proust hält diese vielen „Lügen“ nicht aus. Er will sich von Albertine trennen. Beide befinden sich gerade in Marcels Zimmer, als er Albertine die Trennung ausspricht, allerdings erst zum morgigen Tag. So eine Trennung, die schizoide Formen annimmt, habe ich auch noch nicht erlebt. Albertine wundert sich:
>>Wieso morgen? Ist das wirklich Ihr Wille?<< Trotz des Kummers, den ich empfand, wenn ich von unserer Trennung sprach, als sei sie bereits vollzogen – vielleicht zum Teil auch wegen dieses Kummers-, begann ich, Albertine ganz präzise Ratschläge wegen gewisser Dinge zu erteilen, die sie nach ihrem Fortgang aus dem Haus tun sollte. (489) 
Ich habe mich gefragt, wie so eine innere Zerrissenheit, diese innere Spaltung auszuhalten ist.
>>Wir sind glücklich gewesen, und jetzt fühlen wir, dass wir unglücklich werden würden.<<
>>Sagen Sie nicht, wir fühlen, dass wir unglücklich werden<<,  fiel mir Albertine ins Wort,  >>sagen Sie nicht >wir<, denn nur Sie allein finden das.<< (ebd)
Langsam wirft Albertine Marcel böse Verleumdungen vor, wo sie sonst recht geduldig mit Marcels Vorwürfen umgegangen ist.
>>Darf man vielleicht wissen, wer Ihnen solche schönen Dinge erzählt? Könnte ich vielleicht einmal selbst mit diesen Leuten reden? Und vielleicht auch erfahren, worauf sie sich stützen bei ihren Verleumdungen<< –
Daraufhin Marcels Reaktion: 
>>Meine liebe Albertine, ich weiß es nicht, es handelt sich um anonyme Briefe, aber von Leuten, die Sie vielleicht ziemlich leicht auffinden würden (…), denn offenbar kennen sie Sie gut. Der letzte, muss ich gestehen, (ich zitiere gerade ihn, weil es sich da nur um eine Kleinigkeit handelt und weiter nichts  Arges darinsteht) hat mir gleichwohl den Rest gegeben. Es hieß dort, Sie hätten damals, als wir Balbec verließen, zuerst bleiben und hinterher doch abreisen wollen, weil sie inzwischen einen Brief von Andrée bekommen hätten des Inhalts, sie komme nicht.<< (569)
Es zeigt sich, dass  Marcel derjenige ist, der lügt. Dies wird ihm selbst auch mal bewusst,
>>indem ich log, verlieh ich meinen Worten vielleicht mehr Wahrheit, als ich dachte<<. (508)
Wobei Marcel seine Lügen eher philosophisch aufwertet.

Ich mache nun hier Schluss, da man ja nicht allzu viel verraten darf. Aber im Buch gibt es noch jede Menge interessante Textstellen zu finden. So viele Zettelchen kleben mir noch zwischen den Seiten, die ich leider nicht alle bearbeiten kann.

Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, denn hier erhält Marcel von Albertine genau das, was er eigentlich verdient hat. Aber auch, was er sich insgeheim erhofft hat.


Mein Fazit?

Dieser frauenverachtende und besitzergreifende Umgang  hat mich angewidert, der sich in allen Bänden wie ein roter Faden durch die Seiten zieht. Doch mittlerweile sehe ich es etwas gelassener, ebenso  Marcels Überheblichkeit betrachte ich zusammen als nichts Anderes mehr als menschliche Schwächen, von denen wir alle nicht frei sind.

Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, wie eine um Emanzipation bemühte Frau wie Virginia Woolf Proust so sehr lieben konnte? Diese Frauen- und Beziehungsproblematik sind keine Nebensächlichkeiten. Sie ziehen sich durch das ganze Buch hindurch. Man kann sogar sagen, dass der fünfte Band ein reiner Liebesroman gehobener Art ist, da die Liebesthematik hier den meisten Raum einnimmt, weshalb ich unbedingt darüberschreiben wollte.
Man gibt sein Vermögen, sein Leben für ein Wesen hin, und dennoch weiß man genau, dass man zehn Jahre früher oder später ihm dieses Vermögen verweigern und sein Leben lieber für sich behalten würde. Dann nämlich wäre das Wesen von uns gelöst, allein, das heißt gegenstandslos. (133)
Vielleicht hat Virginia Woolf ähnlich gedacht, auch ein Marcel Proust ist nur ein Mensch, der jede Menge Ideen und gute Gedanken hat. Manchmal leider zu wenig selbstkritisch, vielleicht war er dafür noch zu jung. Das wird sich im siebten Band hoffentlich zeigen. Und hoffentlich hat er seinen inneren Frieden noch finden können. Sein Ausgang, die innere Zerrissenheit, nicht nur den Frauen und allen Homosexuellen gegenüber, auch sich selbst gegenüber, erhoffe ich im siebten und letzten Band mit allen seinen Themen eine Befriedung. 

Wobei sich heute noch viele Menschen schwertun, Menschen, die anders geartet sind, zu akzeptieren und zu tolerieren. Und dies nicht nur auf sexueller Ebene.


2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Neun von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Taschenbuch: 695 Seiten, 18,00 €
Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 1 (29. November 2004)
ISBN-10: 3518456458
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Man träume den Traum des Lebens immer noch am besten in einer Bibliothek.
 (Marcel Proust)


Gelesene Bücher 2016: 63
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86





Donnerstag, 26. Mai 2016

Patrick Modiano und Jean-Jacques Sempé

Catherine, die kleine Tänzerin

Klappentext 
Catherine, die kleine Tänzerin ist die Geschichte eines kleinen Mädchens und ihres Papas, die in Paris leben, während die Mama, eine Primaballerina, weit weg ist. Das Leben in Paris ist nicht immer leicht: Catherine muss sich den harten Regeln der Schule und der Ballettlehrerin beugen und ihr Vater den rauhen Gesetzen der Geschäftswelt. Darum tauschen beide öfter ihre Brillen aus und entdecken die Welt ganz neu ...
Die kleine Catherine lebt mit ihrem Papa in Paris. Dieser handelt mit geheimnisvollen Paketen nachts in einer großen Lagerhalle, unter den missbilligenden Blicken seines Compagnons Casterade. Catherine spürt, dass es besser ist, Papa keine Fragen über seinen Beruf zu stellen. Beide verbindet die Sehnsucht nach Mama, die als Tänzerin in Amerika arbeitet. Catherine trägt wie ihr Papa eine Brille, was vieles kompliziert, nur nicht im Ballettunterricht, wo sie sie abnimmt und tanzt wie im Traum ...

Autorenporträt

Patrick Modiano
Autor
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt und, 2012, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Am 9. Oktober 2014 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.

Jean-Jacques Sempé
Illustrator
Jean-Jacques Sempé, geboren 1932 in Bordeaux, lebt in Paris. Die Karikaturen in ›Paris Match‹, ›Punch‹, ›Marie-Claire‹ und in ›L'Express‹ waren nur erste Schritte zum Höhepunkt beim ›New Yorker‹, für den er ab 1978 arbeitete. Unumgänglich ist es, zusammen mit Sempé Namen wie René Goscinny, Modiano und Patrick Süskind zu erwähnen. Ohne sie wären Figuren wie ›Der kleine Nick‹, ›Catherine, die kleine Tänzerin‹ und ›Herr Sommer‹ undenkbar.

Ein Buch nicht nur für Erwachsene, nein, auch für Schulkinder. 

Die Geschichte wird aus der Sicht der kleinen Catherine erzählt. Die Mutter, Amerikanerin, die in Paris Heimweh bekommt, zieht wieder zurück nach Amerika, stellt dort die ersten Weichen, damit Vater und Tochter nachziehen können. Der Famliennachzug zieht sich allerdings noch arg in die Länge. In der Zwischenzeit passiert noch Manches in Paris zwischen Catherines und der Welt ihres Vaters ... 

Eine kurze Geschichte, zu der ich mich auch kurz halte, da der Klappentext schon recht ausführlich ist. 

Schön war nicht nur die Geschichte, nein auch die Beteiligung des Künstlers Sempé, der die Szenen mit seinen wunderschönen Illustrationen untermauert hat. 

Seit zehn Jahren leite ich eine Literaturgruppe mit psychisch kranken Menschen, in der ich drei Bücher vorstelle, probelese und meine TeilnehmerInnen wählen aus. Ich lese vor und moderiere die Gruppe. 

Einstimmig vergab die Gruppe dem Buch zehn von zehn Punkten. 


Weitere Informationen zu dem Buch:


  • Gebundene Ausgabe: 74 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 2., New edition (23. April 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257011628
  • ISBN-13: 978-3257011623
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: 8 - 12 Jahre
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Gelesene Bücher 2016: 30
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86





Montag, 29. April 2013

Erwin Strittmatter / Der Laden I (2)

Zweite von zwei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

In dem Buch sprechen die Figuren hauptsächlich den ortsüblichen Dialekt und gebe ihn als solchen in den Zitaten wieder.
In Bossdon, fragt man nicht, wenn man etwas nicht verstanden hat: Wie bitte? Sondern: Was hoaste gesoagt? Oder einfach: Wa? Einmal, als ich schon einige gelesene Bücher hinter mir hatte, fragte ich, als ich etwas nicht verstand, versuchsweise: Wie? Da lachten sie mich aus und bewarfen mich mit Rossäpfeln. Ich hatte gegen den örtlichen Sprachkodex verstoßen. Im Bossdom gab’s kein Mich und kein Dich, es gab in allen Fällen nur Mir und Dir. Noch heute soage ich in meinem Heimatdorf, wenn ich dort einkehre, nicht das leiseste Mich zu verwenden, weil ich nicht will, dass man sich wegdreht und sagt: Der macht sich vielleicht stolz! Mit dem kannste nicht mehr reden! 102 f
Auf den Spruch, der macht sich vielleicht stolz, musste ich so lachen und Esau Matt seine Kindheit über so bemüht damit war, sich nicht stolz zu machen. 

Am 15. Juni 1919 zieht die Familie Matt von einem Niederlausitzer Heidedorf nach Bossdom und eröffnen dort einen Laden. Heinrich Matt wird Bäcker, Lene Matt verkauft. Allerdings nicht nur Backwaren, der Laden ist mehr eine Art Gemischtwarenladen  Eigentlich ist Heinrich ein Multitalent, ist nebenbei, obwohl es hart ist, noch landwirtschaftlich tätig. 

Wie in der letzten Buchbesprechung schon gesagt wurde, ist es Esau, der als kleiner Schuljunge versucht, sich in die Welt der Erwachsenen einzudenken und gibt diese Welt in der Ich-Perspektive wieder.  
Unsere Familie schlägt Wurzeln und wächst langsam in Bossdom ein. Auf den Herbst zu  gibts keinen Winkel im Anwesen, in dem ich nicht hockte, aus dem ich mich nicht hinaus oder zu mir hin träumte.Auf dem Mehlboden umwallen mich die Düfte vom Roggenmehl, Kleie und Leinschrot. Sie nehmen mich mit sich und entdecken mir: was heute Korn ist, ist morgen Mehl, und das Mehl wird Brot, und das Brot wird Kot :), und schließlich wird, was ehemals Korn war, wieder in trocken Halmen sein. Und das häufig, indem ich auf dem Futterboden sitze, das gestern Gras hieß, wird morgen in der Raufe Futter und übermorgen Roßapfel heißen. Wo ich auch hinschaue: Kreislauf und Kreislauf (...).68f
Esau ist schon ein schlaues, kleines Kerlchen, die Art, wie er die Welt aufnimmt, erfordert eine hohe Sensibilität und Beobachtungsgabe. 

Eine Welt kleiner Leute, mit ihrer eigenen Logik, was deren Lebensphilosophie betrifft. Sprichwörter, die Esau allzu genau nimmt und sie nicht so versteht, wie es die Erwachsenen tun. Er hakt oft nach, bekommt aber meist keine zufriedenstellende Antwort. Jede Menge Beispiele sind dazu dem Buch zu entnehmen. 

Gedanken macht sich Esau auch über Geister, Dämonen, über Indianer und schwarze Menschen. Die Drohungen seiner Mutter, es kämen Teufel, um ihn abzuholen, wenn er nicht artig sei, faszinierte Esau. Er probierte aus, lebte untadelig, wartete auf den Teufel, weil er schon immer mal einen echten Teufel oder Engel sehen wollte, aber sie bleiben aus, was Esau enttäuschte.

Schwarze Menschen wurden in der Familie nicht als Menschen bezeichnet. Auch wenn es zu dieser Zeit kaum Schwarze im Dorf zu sehen gab, war Bossdom doch eine Ausnahme, als der Großvater Esau von einem Neger spricht, der wie ein richtiger Mensch Klarinette spielt. 307

Begriffsdefinition. Im Dorf werden drei Männer wegen Vergewaltigung dreier junger Mädchen angeklagt und sich dies überall im Dorf herum spricht  Selbst die Kinder bekommen das Getratsche mit und machen sich über den Begriff Vergewaltigung Gedanken, und nicht so recht wissen, was damit gemeint ist. Ein Junge probiert den Begriff zu definieren, nachdem Eseau den ihn mit einem anderen Begriff vergleicht:
Vergewaltigen? Ich kenne gewaltigen Hunger und gewaltigen Durst. Wenn ich nicht wichtig esse und richtig trinke, vergewaltige ich dann den Hunger und den Durst? Franze Buderitsch, die zuständige Instanz für meine sexuelle Aufklärung, weiß es auch nicht genau: Ich gloobe, es ist etwas mit Mädels hinschmeißen, sagte er. 356
Die Matts sind richtige Geschäftsleute und um jeden Kunden bemüht. Die Kinder Matts, die eine gewisse Vorbild- und Vorzeigefunktion in der Gesellschaft inne hatten, mussten immer adrett auftreten, um den Ruf des Ladens nicht zu beeinträchtigen oder gar zu schädigen. Oftmals auch über eine künstliche und gezwungene Art, wie z.B. vor den Erwachsenen einen Knicks zu machen, auch die Jungen  dazu angehalten. Wenn es Ehekrach oder sonst einen Familienzwist auch mit den Großeltern gab, so war es für Mutter Lene wichtig, dass die Kinder die Familienprobleme nicht hinaustrugen. Eseau hielt sich nicht immer dran, da er unter der vergifteten Familienathmosphäre oft litt, als er einmal bei einem Elternstreit den Tisch umgeschmissen hatte und schreiend hinauslief. Die Reaktion der Mutter:
Ich berichte, was ich den Frauen draußen sagte. Meine Mutter tadelt mich: Hättste nich uffn Hoaf renn könn? Die Leite sin bloß neigierig, warum bei uns der Tisch umgefallen is; sie frein sich über jeden Schoaden, bloß weil wir den Loaden hoaben.der Laden, der Laden! Er will nun auch bestimmen, wohin ich in meinem Kummer zu rennen habe, und er hätte vielleicht gar gern gesehen, wenn ich gelogen hätte. Ich verstehe die Welt der Eltern nicht. 409
Das waren ein paar wenige Beispiele, die ich gerne festhalten wollte.

Mein Fazit zu dem Buch: Es ist sehr authentisch geschrieben. Die Literaturfiguren treten recht differenziert auf, es menschelt so sehr im ganzen Buch. Die Menschen darin schienen mir so nacket :-).

Die Probleme der damaligen Zeit, wie z.B. die Kaiserzeit, abgelöst von dem ersten gewählten Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Weltwirtschaftskrise, Inflation, später die Folgen der Weimacher Republik bekam man gut zu spüren. Viele Leute waren bemüht, ihrem Kaiser treu zu bleiben und fühlten sich zwischen Kaiser und Ebert ein wenig gespalten. Allerdings sind diese politischen Hintergrundinformationen eher angedeutet wiedergegeben. Dennoch konnte man gut folgen, was das Verständnis des politischen Lebens jener Leute betrifft, deren Alltagsleben davon ergriffen war. 

Ich gebe dem Buch zehn von zehn Punkten. Gerne werde ich auch BD II lesen. Allerdings ist Esau Matt kein kleiner Schuljunge mehr. Wie aus dem Klappentext zu entnehmen ist, hat auch der Autor, ähnlich wie sein Vater, mehrere handwerkliche Berufe ergriffen, trotz höherer Schule. Meine Neugier, wie das Leben Esau Matts in den anderen beiden Bänden sich fortsetzen wird, ist erhalten geblieben.

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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)

Gelesene Bücher 2013: 29
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86







Erwin Strittmatter / Der Laden I (1)

Eine von zwei
Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre


Ich habe das Buch beendet, BD I, und ich kannte den Autor bislang gar nicht. Und siehe da, nun habe ich, ohne es zu wissen, gleich mit einer Autobiographie begonnen und lerne den Autor über die Literaturfigur Esau Matt kennen. Es warten im Regal noch die Bände II und III. Erwin Strittmatter kann schreiben, ohne Frage. Eine sehr sensible Persönlichkeit, die schon in jungen Jahren das Leben der Erwachsenen stark unter Beobachtung stellte.
Das Buch ist so schön geschrieben, aus der Perspektive eines kleinen Schuljungen... . Humor, schwarzer Humor, kindlicher Humor. Alles vertreten. Ich liebe es.

In dem Buch gibt es einfach viele Lacher, auf die ich in der zweiten Buchbesprechung über Zitate konkret eingehen werde. Hier möchte ich einfach meine Eindrücke festhalten, die unabhängig von Textquellen geschrieben sind. Szenen, die mir besonders wichtig sind.

In dem Buch bin ich auch auf Sodom und Gomorrha gestoßen, und erfahre dadurch, dass die Geschichte aus der Bibel entnommen wurde. Ich verband bis dato ausschließlich damit Marcel Proust, der dem Titel Sodom und Gomorrha einen ganzen Band gewidmet hat und es darin hauptsächlich um Homosexualität geht, für die Proust Abschaum empfunden hatte. Habe selbst mal die Bibel gelesen, kann mich aber partout nicht an den oben besagten Titel erinnern. Der kleine Esau Matt hat diese Bibelstelle in der Schule gelesen und liest sie wieder zu Hause bei einer besonderen unangenehmen sündigen Angelegenheit, ohne aber konkret auf den Inhalt einzugehen.

Esau sitzt in der Kirche und lauscht den Worten des Pfarrers und denkt über das Ehebrechen und das Verbrechen nach und stellt fest: 
Man wird schneller zum Ehebrecher als zum Verbrecher, (...) denn wenn man das Eheweib eines anderen ansieht, ihrer zu begehren, auch wenn man als Verheirateter ein junges Mädchen ansieht, das noch keinen Schapprich hat, ist man schon Ehebrecher. Während man Einbrecher wird, wenn man ein Türschloss aufbricht (...).
Von wegen, alles einfache Leute und keine hohe Lebensphilosophie. Das habe ich allerdings nicht abwertend gemeint. Komme ja selbst auch aus einem Dorf.
Esau Matt wird für die höhere Schule vorgeschlagen und er bekommt von seinem Lehrer Goethe herangetragen, das Buch: "Wahrheit und Dichtung". Die Fragestellung: Wie Goethe Wahrheit und Dichtung definiere? Der junge Grundschüler Esau kam mit dem Buch nicht zurecht und gab zur Antwort: Die ganze Wahrheit Goethes sei erdichtet :).

Erwin Strittmatter selbst muss sich später auch als ein erwachsener Autor die Frage gefallen lassen, was an dem Buch Wahrheit, Dichtung, oder gar Lüge sei? Dabei fällt mir wieder Siegfried Lenz ein, s. Signatur. Für mich gibt es auch eine unbewusste Wahrheit, die sich hinter einer Symbolsprache in Dichtung und Malerei... verbirgt. Und so verstehe ich auch S. Lenz´ Spruch.

Tief berührt hat mich auch in diesem Buch das Thema zu den Schlachttieren. Überall auf der Welt werden Tiere geschlachtet und meist ohne Narkose. Sie werden beim lebendigen Leibe getötet, einfach das Messer an die Kehle gesetzt... Die Schweine schreien schon vor ihrer Exekution wie am Spieß. Sie wissen sehr wohl, was ihnen geschieht. Es gibt viele Dorfkinder, die beim Schlachten zugesehen haben, aber aus ihnen wurden alles keine Vegetarier. Schreckt also nicht jeden ab, mich hat es abgeschreckt, als auch ich im sehr jungen Kindesalter Zeuge verschiedener Tiertötungen wurde. Als Esau das Schweineschlachten beobachtet, wird ihm speiübel und empfindet Mitgefühl für die Tiere und fühlt sich für das Schlachten sogar mitschuldig. Er rennt zu seiner Tante und erkundigt sich, wie sie mit dem Schweineschlachten selbst fertig wird. Dabei erfährt er, dass sie gar kein Fleisch isst, da es ja Quark und Leinöl zu genüge gibt. Ihre Meinung: "Wer sich über die Grausamkeit des Schweinschlachtens ereifert aber Wurst isst, der heuchelt", 467.
Esaus Vorbilder findet er zudem auch noch in der Literatur, in Tolstoi und Rilke, beide waren strenge Vegetarier. Doch als der zweite Weltkrieg ausbrach, Esau war mittlerweile erwachsen, und es nicht mehr genug Nahrungsmitteln gab, fing er wieder an, Fleisch zu konsumieren, um selbst zu überleben. Als der Krieg vorbei war, richtete Esau sein Leben wieder als Vegetarier ein.

Das sind so für mich die wichtigsten Szenen gewesen, die mir sehr angetan waren. Zu dem Titel “
Der Laden werde ich in der zweiten Buchbesprechung mich ein wenig auslassen.

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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)


Gelesene Bücher 2013: 29
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Montag, 22. April 2013

Erwin Strittmatter / Der Laden I



Klappentext
Ein folgenschwerer Tag ist jener 15. Juni 1919 für Esau Matt: Die Familie zieht um, von einem Niederlausitzer Heidedorf in ein anderes, nach Bossdom. "Brod-, Weissbäckerei, auch Colonialwarenhandlung" steht über dem Laden, den die Eltern mit nichts als Geborgtem erworben haben. Von nun an wird Esau Bäckersch Esau sein und bleiben, und der Laden wird tyrannisch in den Familienfrieden eingreifen. 
"Seit mein Buch Der Laden erschien, wird in meiner Heimat nachgeforscht: Wer ist wer? Und man kommt dabei zu falschen Schlüssen und behauptet, ich hätte diesem und jenem und solchen etwas angedichtet, was sie nicht getan haben. Und sie bestehen darauf, daß sie die im Roman vorkommenden Leute erkennen, vor allem sich selber. Und es kommen Leserbriefe, in denen angefragt wird, wieviel Prozent von dem, was ich aufschrieb, auf Wahrheit beruht, und wieviel Prozent erdichtet, um nicht zu sagen erlogen, sind. Ich antworte diesen Lesern hiermit: Wahrlich, ich sage euch, dieses Buch da und dieses Buch hier enthalten neunzig Prozent Wahrheit und zehn Prozent Erlogenes. Ich sage absichtlich Erlogenes, weil jene Leser den Unterschied zwischen Dichtung und Lüge nicht anerkennen." Erwin Strittmatter

Autorenportrait
Erwin Strittmatter wurde 1912 als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern in Spremberg geboren. Er beendete das Realgymnasium mit 17 Jahren, arbeitete als Bäckergeselle, Kellner, Chauffeur, Tierwärter und Hilfsarbeiter. 1941 wurde er zum Polizei-Reserve-Bataillon 325 einberufen, das später zum Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18 umgebildet und 1943 in SS-Polizei-Gebirgsjäger-Regiment 18 umbenannt wurde, ohne Teil der SS zu sein. Bis Sommer 1944 war er Bataillons-Schreiber, danach wurde er zur Film- und Bildstelle der Ordnungspolizei nach Berlin-Spandau versetzt. Bei Verlegung der Dienststelle setzte er sich mit gefälschten Papieren nach Böhmen ab. Ab 1945 arbeitete er erneute als Bäcker, war daneben Volkskorrespondent einer Zeitung und seit 1947 Amtsvorsteher in sieben Gemeinden, später Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1954 lebte er als freier Schriftsteller in Schulzenhof bei Gransee. Er starb am 31. Januar 1994.
Ich beginne heute mit der Trilogie Der Laden. Lese die Bände aber nicht hintereinander, weil ich immer mal wieder Abstand von einem Band zum nächsten benötige.

Erwin Strittmatter als Autor war mir bisweilen kein Begriff. Entdeckt habe ich ihn bei Jokers.  Ein paar Seiten habe ich schon gelesen und es gefällt mir ganz gut. Es hat ziemlich viel Humor.

Da spricht ein Betrunkener zum Vollmond, dass dieser nur alle vier Wochen voll sei, während er, der Trinker, jeden Abend :). .

Das Buch ist so schön geschrieben, aus der Perspektive eines kleinen Schuljungen erzählt... . Humor. Schwarzer Humor. Kindlicher Humor. Alles vertreten. Ich liebe es.









David Guterson / Ed King (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Das Buch, das ich soeben beendet habe, hat mir recht gut gefallen. Während der ersten hundert bis huntertfünfzig Seiten bin ich ziemlich oft überrascht worden. Meine Vermutungen, wie das Buch weiter sich entwickeln wird, habe ich nicht bestätigt bekommen. Später, als mir die ganzen Abläufe bekannt und vertraut wurden, ist es mir gelungen, die weiteren Verläufe vorauszusehen… .

Solche Bücher liebe ich, wenn sie mich ein wenig in die Irre führen und für reichlich Überraschung sorgen.

Aus meiner Sicht gibt es mehrere Protagonisten, nicht nur Ed King, das Findelkind, sondern auch seine jugendliche Mutter namens Diane im Alter von fünfzehn Jahren, die von der Persönlichkeit her mir ebenso bedeutsam erschien ist, wenn auch mir ihre Charakterzüge nicht wirklich sympathisch waren. Sie ist zwar ein Kind einer Prostituierten und lässt manches Unliebsame Verhalten für ihren Auftritt dadurch erklären, dennoch nicht wirklich dauerhaft entschuldigen. Diane kommt aus England, emigriert nach Amerika und bewirbt sich als Au Pair Mädchen bei der Familie Walter Cousins. Eigentlich flieht Diane vor dem Mutterhaus, die in der Wohnung Kunden hielt. Ihre Pläne waren geprägt davon, in Amerika zu schnellem Geld und zu einem guten Leben zu kommen. Auf keinen Fall das Leben ihrer Mutter fortsetzen.

Walter Cousins, Versicherungsagent von Beruf, scheint seinen Verstand in seinen Geschlechtsorganen verlagert zu haben. Seine Gedanken kreisen stets um Sexfantasien. Er lässt sich von der minderjährigen Diane, die einen Plan ausheckt, verführen und schwängert sie. Walter Cousins steht unter Druck, wird von Diane erpresst… Er zahlt sechszehn lange Jahre für das Kind, das Diane ohne seines Wissens ausgesetzt hat. Sie macht ihm weiß, das Kind doch nicht zur Adoption freigegeben zu haben. Diane war nicht die einzige Frau, mit der Walter ein Verhältnis hatte…, aber, weil er erpressbar war, und aus seiner Situation lernte, suchte er sich verheiratete Frauen aus, und setzte so seine Seitensprünge weiter fort, anstatt sich zu fragen, was das ist, das ihn zu anderen Frauen treibt... .

Diane setzte ihren Sohn nach der Geburt aus und so wurde das Kind über Umwege von einer Familie adoptiert. Walter Cousins wird von Diane so ziemlich hinters Licht geführt. Zwar ist sie minderjährig, aber sie weiß zu gut, was sie tut. Ihren Platz in der Welt Amerikas erbeutete sie sich mit unechten Geschäften und Intrigen… .

Der Säugling, geboren im April 1963, wird von der jüdischen Familie King adoptiert, da ihr Kinderwunsch zu der Zeit versagt geblieben war. Das Kind wurde auf den Namen Eddy King getauft. Später erhielt der Junge einen kleinen Bruder namens Simon King.

Die Adoption bleibt geheim. Ed King entwickelte sich zu einem ganz normalen Jungen mit Pubertätproblemen, aus denen er rauswächst, wenn auch auf eine ganz besondere Art, weil die Situation eine ganz besondere ist. Ed King ist begabt , studiert Mathematik und wird erfolgreich in der Computerbranche. Er entwickelt sich zu einem der reichsten Menschen Amerikas. Dadurch, dass er vermögend ist, glaubt er, sich die Welt erkaufen zu können… . Ed King erfährt durch Zufall über seinen Roboter, der über eine enorme künstliche Intelligenz verfügt, dass er adoptiert worden ist. Seine Großeltern und Adoptiveltern waren schon verstorben. Nun beginnt im Alter von 55 Jahren die Suche nach seiner wirklichen Identität.Das Buch schreibt das Jahr 2018.

Auch er stellt sich die Schuldfrage, wie ich sie mir anfangs schon gestellt hatte und so stellt Ed ein paar Hypothesen auf und zieht einige Überlegungen in Betracht:
War Abtreibung 1963 überhaupt erlaubt?Ein ziemlicher Schlamassel schwanger zu werden und nicht weiterzuwissen. Aber fallen Babys einfach so vom Himmel?Sie entstehen doch durch die Dummheit und Geilheit der Leute. Wie so viele andere Probleme auch. Ist also der Sex schuld? Oder die betreffende Person? Wann kann man sagen, dass jemand für etwas die Schuld trägt? Wer auch immer mich verstoßen hat, war nicht bloß ein Opfer der Umstände und zumindest mitverantwortlich für seine Tat, und deshalb habe ich das Recht, wütend auf ihn zu sein. Das Problem mit der Wut ist nur, dass die andere Seite damit zwei Mal gewinnt, , einmal, weil sie mich ausgesetzt hat, und ein zweites Mal, weil ich nichts anderes machen kann, als wütend zu sein. (…) Ich habe das Gefühl, das ist alles nur ein Traum. Aber es ist wahr, ich bin ein Findelkind. 357
Tja, bei Walter Cousins war wohl der Sex und seine Geilheit schuld. Bei Diane ihre Herkunftsprobleme... . Diane, die durch den Beruf ihrer Mutter die Männerwelt recht schnell zu durchschauen gelernt hat und Techniken erlernt hat, gewisse Männer zu verführen... . . 


Es gibt Bücher, damit meine ich nicht die Fantasie Bücher, sondern ganz normale Bücher, die sich mit der Gegenwart befassen, und trotzdem gibt es viele wichtige Szenen, die für mich nicht realitätsecht sind, aber wenn das Buch gut geschrieben ist, dann kann es passieren, dass es mir trotzdem gefällt und ich nicht enttäuscht bin. Zu diesen Büchern gehört auch Ed King.

Als ich das Buch beendet habe, trauerte ich um Ed King, obwohl mir, um es allgemein auszudrücken, die vielen Zufälle, die zu gewissen Ereignissen, und diese zu wichtigen Personen führten,  zu sehr konstruiert erschienen sind. Viel zu viele unnatürliche Zufälle und Begebenheiten... . 

Das Buch zeigt auch den Spiegel zur amerikanischen Gesellschaft, was Wertvorstellungen, Lebensweisen und Ansichten betreffen.

Das Buch erhält von mir dennoch zehn von zehn Punkten, weil es gut, kreativ und was die Figuren betreffen charakterreich geschrieben ist. Um nicht zu viel vorwegzunehmen, habe ich meine Beschreibungen, Szenen zu dem Buch hauptsächlich allgemein gehalten. Das Buch hat den Anspruch, von Anfang an gelesen zu werden und nicht ausschnittsweise.
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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)

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Donnerstag, 18. April 2013

David Guterson / Ed King



Klappentext
Walter, der als Versicherungsmathematiker davon lebt, Risiken zu berechnen, geht das größte Risiko seines Lebens ein, als er sich von Diane, dem minderjährigen Au-pair der Familie, verführen lässt. Schwanger geworden, erpresst sie Walter und setzt das Baby aus, bevor sie ihr Glück als Escort in Portland versucht. Ihr Baby wird von einem kinderlosen wohlhabenden Ehepaar adoptiert und Edward King genannt, er ist hochbegabt und wird Internet-Tycoon, der "King of Search" - der sein schnelles Erfolgsleben auf ein Schicksal zulebt, das außerhalb seiner Macht steht. In seinem neuen großen Roman erzählt der Autor von "Schnee, der auf Zedern fällt", wie drei Menschen im Kampf um ihren amerikanischen Traum an der zerstörerischen Kraft der Leidenschaft scheitern. 

Autorenportrait
David Guterson, *1956, lebt mit seiner Frau und  seinen Kindern auf Bainbridge Island im Puget Sound westlich von Seattle. Sein erster Roman Schnee, der auf Zedern fällt, für den er den Pen/Faulkner-Award erhielt, machte ihn weltberühmt. Zuletzt erschien von ihm Ed King (2012).

Das Buch wurde durch meine Kollegin Martina an mich herangertragen, die davon sehr begeistert war.
Habe ein paar Seiten schon gelesen, kann mir aber dazu noch keine Meinung bilden.

Das Buch gibt es auch im Taschenbuchformat... .

Ferdinand von Schirach / Verbrechen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe nicht alle kriminologische Erzählungen geschafft, da sie recht heftig sind, aber psychologisch gut getroffen und schnell auf den Punkt gebracht.

Schriach kann schreiben, ohne Zweifel. Sein Schreibstil gefällt mir recht gut.

Lediglich die Verbrechen sind insgesamt recht grausam und von Menschen getätigt, die eigentlich nicht zu den klassischen Verbrechern zählen, sondern nur Einmaltäter, die aus Liebe zu einem liebenden Menschen eine Verzweiflungstat verüben.

Ich denke, dass der Autor damit deutlich machen möchte, dass wir Menschen alle solche Anteile zu Verbrechen in uns haben, ob wir es wahr haben wollen oder nicht.

Nur damit ihr eine Vorstellung bekommt, was ich unter hart und grausam verstehe:
Eine Leiche liegt in der Badewanne. Niemand hat die Person getötet, während eines Sexakts bei einer Prostituierten bekam der Kunde einen Schlaganfall und stirbt. Das Mädchen Irina, 19 Jahre alt, die illegal sich in Deutschland aufhält, hat Angst, als Mörderin entlarvt  zu werden, so rennt sie aus der Einzimmer-Wohnung raus, in der sie zusammen mit ihrem Freund Kalle lebt. Als Kalle nach Hause kommt, sieht er die Leiche, und geht von der Annahme aus, dass Irina von dem Kunden schlecht behandelt wurde. Also krempelt er die Ärmel hoch, und  legt die Leiche in die Badewanne. Nun ist er es, der sich um die Leiche kümmert, aus Angst, dass seine Freundin des Mordes angeklagt wird.
Er hatte dem Mann eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt, er wollte ihn dabei nicht ansehen. Zuerst hatte er es falsch gemacht und versucht, den Knochen zu durchtrennen. Dann fiel ihm ein, wie man ein Hühnchen zerteilt, und er drehte dem dicken Mann den Arm aus der Schulter. Es ging nun besser, nur die Muskeln und Fasern musste er zerschneiden. Irgendwann lag der Arm auf dem gelben Fussbodenkacheln, die Uhr war noch am Handgelenk. (...) Später kniete er auf dem Boden und nahm die Säge. Drei Stunden später hat er die Gliedmaßen abgetrennt. (Aus der Erzählung "Glück").

Kalle legt die Leichenteile in einen Sack und fährt damit in einen Park, um die Leichenteile dort zu begraben.

Ich möchte jetzt nicht das Ende vorwegnehmen, doch auch hier wird eine Handlung, die normalerweise sofort der Polizei zu melden ist, aus Liebe vertuscht, indem versucht wird, den Tod des Kunden zu vertilgen, damit die Freundin nicht wegen Totschlags ins Gefängnis kommt. Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass eigentlich kein Mord vollzogen wurde, die Figuren sich aber verdächtig verhalten… .

Wem solche gruseligen Handlungen nichts ausmachen und Krimis liebt, dem kann ich dieses Buch wärmstes empfehlen. Wie gesagt, die Erzählungen sind dennoch mit viel psychologischer Tiefe geschrieben. Gefallen haben mir die Erzählungen, weil sie zudem so ganz untypisch kriminalistisch aufgezeichnet sind.

Ich gebe dem Buch zehn von zehn Punkten. 

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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)

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Montag, 15. April 2013

Ferdinand von Schirach / Verbrechen


 

Klappentext
Ein freundlicher älterer Doktor erschlägt nach vierzig Jahren Ehe seine Frau mit einer Axt, ein führender Industrieller wird des Mordes an einer Prostituierten verdächtigt, eine Frau tötet ihren Bruder … Elf Geschichten über die Abgründe der menschlichen Natur, erzählt von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach, basierend auf Fällen, die er in seiner Kanzlei erlebt hat.


Autorenportrait im Klappentext

 Ferdinand von Schirach, geboren 1964, arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin. Seine Erzählungsbände »Verbrechen« und »Schuld« wurden, genau wie sein erster Roman »Der Fall Collini«, zu internationalen Bestsellern. In mehr als dreißig Ländern erschienen Übersetzungen. Schirach wurde mit dem Kleist-Preis und anderen - auch internationalen - Literaturpreisen ausgezeichnet. »Verbrechen« wird als Serie im ZDF gezeigt, »Schuld« wird demnächst verfilmt. Weitere Kinofilme sind angekündigt.
Klingt stark nach Krimi, aber diesmal hat mich der Klappentext angesprochen. Naja, so ganz ohne Krimi kommt doch kein lesender Mensch aus. Auch an mir als Nichtkrimileserin gehen manche nicht einfach so an mir vorbei.

Desweiteren benötige ich jetzt ein wenig leichtere Kost, nach Ursula Krechels Buch Landgericht.


Es scheinen mehrere Erzählungen zu sein, mal schauen, wie viele ich schaffen werde.






Ursula Krechel / Landgericht (2)

Zweite von zwei Buchbesprechungen zur . g. Lektüre

1948 kam Richard Kornitzer aus dem Exil, von Kuba nach Deutschland, zurück zu seiner Frau Claire. Beide Eheleute mussten sich wieder aneinander gewöhnen und sich neu lieben lernen. Zehn Jahre war eine lange Zeit, die beide verändert hat.
Das Herkommen war verschüttet, eine Zukunft unwägbar, und gerade diese Unbesiegbarkeit hatte er gewählt. Er hatte seit zehn Jahren nichts mehr erwählt, er war eingeordnet, aufgelistet worden, dabei hatte er Glück gehabt, ein ganz ungeheuerliches Glück und nur ganz im Inneren hatte er gewichtet, gerichtet, gezählt, wo er stünde, wo er stehen geblieben wäre, hätte man ihn nicht hinausgeschmissen aus seinem Land, hätte man ihn nicht gezwungen, gezwungen freiwillig zu gehen, seine Frau hoffte er nachkommen lassen zu können. Abgezockt-aus dem Land gejagt-erniedrigt-aus der Staatsbürgerschaft entlassen. 38, 115..
R. K. bezeichnete sich als Juden nur auf dem Papier. Er nahm nicht an den jüdischen Zeremonien teil, besuchte keine Moschee. Demnach bezeichnete er sich nicht einmal als ein richtige Jude. „Er war Jude von Hitlers Gnaden gewesen", 44. Selbst ein Konvertieren in eine andere Konfession ließ Hitler nicht gelten. Einmal Jude, immer Jude.

Kornitzer war geschockt, seine Heimat unter Trümmern aufzufinden. Nun wurde er von Berlin nach Mainz versetzt, um dort seinen Beruf als Richter wieder neu aufzunehmen. Er wäre lieber in Berlin geblieben, in Berlin allerdings wurde er als Richter für Zivilrecht nicht gebraucht. In Mainz herrschte Wohnungsnot. Auch hier zu viele verschüttete Häuser, so dass er seine Ansprüche auf eine richtige Wohnung herunterschrauben musste:
Dass Häuser aus so vielen einzelnen Steinen bestanden, dass so viele Steine, mit denen einmal ein Haus errichtet worden war, einen gewaltigen Berg ergaben, in dessen Ritzen sich Staub ansammelte, Erde, in der sich Samenkörner festsetzten und trieben, erstaunte ihn. Auch der Geruch der Stadt war ihm fremd, branddick und feucht zugleich, es war ein Geruch, wie er ihn noch nie gerochen hatte. 64.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich ein Zimmer zu mieten, Platz für seine Frau war nicht vorhanden, so dass sie sich Zeit ließ, nachzureißen. 

Die Tochter Selma war vier Jahre alt, als sie Deutschland verließ, Georg(e) war sieben. Nach dem Krieg nahmen die Eltern mit Hilfe der Familienzusammenführung erneut Kontakt zu den Kindern auf und die Mutter fand heraus, dass Selma in ihrer Fantasie die Mutter für tot erklärte, denn wäre sie nicht tot, dann würde sie sich bei ihren Kindern melden und sie wieder zurückholen. Selma entwickelte über all die Jahre Fantasien á la Ödipus und stellte sich vor, wie ihr Vater ihr Lebensretter wurde. Da war kein Platz mehr für die Mutter. 
Wie er mit einem weißen Schiff nach Kuba gefahren sei, komme er eines Tages zurück und hole sie ab, tröstete sich das Mädchen. Und Selma spann diese Vorstellung weiter, malte sie aus zu einem vollkommenen Tagtraum. Es war eine umgewidmete Fantasie vom weißen Ritter oder vom Prinzen, der sie heimholt oder entführte, das war gleichgültig. Wo er war, würde ihr Heim sein, er würde ihr ein Heim, ihrem unsicheren Leben einen Halt und  einen Sinn geben. Verständlich war auch, dass in dieser heftigen Hoffnung auf die Rückkehr des Vaters die Mutter unbewusst geopfert werden musste, damit sie, Selma, an die Stelle der Geliebten treten konnte. Und es gab auch noch eine andere Befriedigung in der Fantasie vom Vater, der mit einem weißen Schiff käme: er käme gewiss zu IHR. Es gab keine Konkurrentin, nirgendwo, er suchte sie, Selma, und keine andere, die Mutter war tot, sie, die Verlorene, die in zu Suffolk abgestellte Selma, war das Ziel seiner Wünsche. 149f
Diese Textstelle hat mich nochmals besonders berührt, besonders betroffen gestimmt.

Eine andere Szene fand ich interessant. Die  Familienzusammenführung scheiterte, aber nicht in Folge des Gesetztes. George war schon zu groß, um ihn wieder aus seiner vertrauten Gegend rauszureißen. Er wollte in England bleiben und dort mit 18 Jahren englischer Staatsbürger werden. Selma, 14jährig, befand sich unfreiwillig wieder in Deutschland bei den Eltern. Sie war recht unglücklich, versuchte aber ihr Bestes. Beide Kinder waren bei einer liebevollen Pflegefamilie untergebracht, Bauern, die ihnen beibrachte, mit Tier und der Natur umzugehen. Sie lernte dort auch Pilze sammeln, die guten von den schlechten Pilzen zu unterscheiden. Also begab sie sich auch in Deutschland auf Pilzsuche, und kam mit essbaren Pilzen wieder zurück, und briet sie in der Pfanne. Die Mutter war verärgert, nahm die Pfanne wieder vom Herd und entsorgte alle Pilze in den Müll.
Einmal möchte Selma auch nett sein, ihrer Mutter etwas Liebes tun(…). Von ihren Streunereien durch die Wiesen und Wälder bringt sie Pilze mit, sie kennt sich aus, sie hat mit den großen Mädchen in England Pilze gesammelt. Sie putzt sie und schmurgelt sie in der Pfanne, als Claire aus der Molkerei kommt. Und sie hatte auch die deutschen Wörter gelernt. Maronenröhrling, Wiesenchampignons. Aber Claire freute sich nicht, sie sah in die Pfanne, sah die strahlende Selma, und auf einmal geriet sie in Panik. Sie, die Berlinerin, verstand nichts von Pilzen, und sie nahm auch an, dass Selma nichts von Pilzen verstand. Und wenn sie etwas verstand, hatte sie einen teuflischen Plan: Sie wollte ihre Mutter vergiften. Dann wäre sie frei. Claire nahm die Pfanne und schüttete sie in den Abfall. 164
Das Misstrauen, das sich hauptsächlich zwischen Mutter und Tochter entwickelte, war auch damit zu erklären, dass sie sich fremd gegenüber waren, die Politik hatte die Familienmitglieder zu Fremden gemacht. Selma zeigte sich der Mutter gegenüber distanziert und ablehnend und erwies sich als schwer erziehbar. Selma, die wieder zurück nach England zu ihrem Bruder und den Pflegeeltern wollte.

Die Reaktion ihrer Eltern fand ich gelungen, gehe aber nicht näher darauf ein und verweise auf das Buch.

Da ja das Buch den Titel Landgericht trägt, so wird es Zeit, ein paar Textpassagen dazu einzubringen.
Richard Kornitzer machte sich über seinen Berufsstand und über die Haltung dieser Gedanken, und findet dazu einen Text eines Staatsrechtslehrer. Was macht einen guten Richter aus?
Welche Eigenschaften, welche Haltung muss der Richter haben, wenn er den ethischen Anforderungen seines Berufsstandes entsprechen will? Der Richter muss in erster Linie Mensch sein, er muss als solcher Verständnis, Güte und Humor auch für menschliche Schwächen zeigen. (…) Deshalb unterliegt der politische Irrtum niemals der richterlichen Beurteilung. Wer sich politisch geirrt und damit sein Volk geschädigt hat, kann und muss unter Umständen aus dem politischen Leben ausgeschaltet und damit politisch unschädlich gemacht werden, aber irgendwelcher strafrechtlichen Beurteilung unterliegt er nicht. Der echte Richter wird deshalb eine Verurteilung wegen politischen Irrtums immer ablehnen, wenn nicht in seinem Gefolge strafrechtliche Tatbestände zur Beurteilung stehen.19
Kornitzer trat als Richter im Zivilrecht selbst zur Anklage in eigener Sache, da sein Antrag auf Wiedergutmachung bei der Wiedergutmachungsbehörde nicht durchging, so setzte er sich einem langen Kampf aus von mehreren Jahren, ihn dieser Kampf aber gleichzeitig gesundheitlich schwächte, sowohl körperlicher als auch psychischer Art. Ich weiß nicht, ob ich mir diesen Stress angetan hätte. Ich glaube, ich wäre dankbar, dass ich nicht zu den sechs Millionen jüdischen Menschen gehören würde, die alles verloren hatten.
Neue Krankheitsbilder, die keinem gängigen Schema zuzuordnen waren, mussten diagnostiziert und den Ämtern vermittelt werden: Entschädigungsneurosen, Entwurzelungsdepression, erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel. (…) Die Bearbeitung der Anträge Erfolge im Schneckentempo. Bei den Behörden sei die Meinung verbreitet, etwa ein Drittel der Antragsteller seien Betrüger. 386f
In Kornitzers Seele entwickelte sich immer mehr eine recht starke Neurose. Er erkrankte so schwer, dass seine Frau als die Bevollmächtigte für ihn die Widersprüche und den Schriftverkehr weiterhin tätigte. Kornitzer hörte nicht auf für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Auch zitierte er aus dem Grundgesetz:
Art. drei, Abs. III. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.Art. 97,Abs. I. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. 434
Seine Schadensersatzansprüche sowohl für sich als auch für seine Frau wurden nur im geringen Maße erstattet. Und das erst nach vielen, vielen Jahren.

Der Buchtitel zeigt mir inhaltlich, dass das Landgericht in Deutschland auch nach dem Nationalsozialismus weiterhin in Frage gestellt werden musste. Die von den Nazis geschädigten jüdischen Menschen wurden auch nach dem Krieg oftmals diskriminiert und bekamen ihre Rechtsansprüche auf Wiedergutmachung entweder nicht in vollem Maße zu- oder ganz abgesprochen.

Weitere interessante Szenen sind dem Buch zu entnehmen. Berührt hat mich z. B. noch Richard Kornitzers Leben in Kuba und verweise auch hier auf das Buch.

Ich beende hiermit meine Buchbesprechung. Ich weiß, dass dieses Buch noch lange in mir arbeiten wird. Aber ich möchte nicht zu den Menschen gehören, die aufgehört haben, über den Nationalsozialismus und den Faschismus nachzudenken, mit der Begründung, dass mittlerweile viele Jahrzehnte seit dem vergangen seien und man nun schließlich einen Schlussstrich ziehen müsse. 
Ich hoffe, dass ich niemals solche Gedanken in mir entwickeln werde... . 

Anm. d. Autorin: Die in fettdruckten Textstellen eines Zitates sind durch mich hervorgehoben
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Manchmal muss die Wahrheit erfunden werden
(Siegfried Lenz)
       
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