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Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 12. August 2019

Proust und die Verehrung einer Märchenfigur namens Mogli

Seite 228 - 239  

Und wieder gibt es spannende Einblicke aus Prousts Leben. Einige Briefe waren durch die Dreyfusaffäre wieder sehr politisch. Aus einem anderen Brief geht die Erkrankung seiner Mutter hervor. Und erneut gab es interessante Literaturgespräche zu entnehmen, diesmal von einem Märchen, das auch uns gegenwärtig allseits bekannt ist. Spannend war, wie intensiv Proust dieses Märchen in sich eingesaugt hat.

Ich freue mich jedes Wochenende auf Marcel Proust, und ich spüre deutlich, wie sehr er von Brief zu Brief in meiner Seele wächst. 


An Adrien Proust
September 1898, Proust ist 27 Jahre alt
Trouville

Prousts Mutter ist krank, wurde in einem Pariser Krankenhaus notoperiert, aber er spricht nicht über die Art der Erkrankung, da sie als bekannt vorausgesetzt wird, denn er schreibt an seinen Vater und berichtet über die Genesung seiner Mutter. Die Mutter befindet sich nun zur Erholung in einem Kurort namens Trouville, und scheint wieder zu Kräften zu kommen. Proust befindet sich in Trouville an ihrer Seite. In diesem Brief geht es aber nicht nur um die Befindlichkeit der Mutter, sondern auch um die eines jungen Marine-Infanterist, der drei Jahre in Madagaskar zugebracht und sich dort ein tropisches Fieber eingeholt habe. Proust bezeichnet dieses Fieber als eine Art von Blutvergiftung. Das Fieber sei allerdings erst im Heimatland ausgebrochen, immer wieder in Schüben und so bittet er seinen Vater, der von Beruf Arzt ist, um ein Heilmittel oder um eine Überweisung zu einem Spezialisten.

Das fanden wir, Anne und ich, sehr rührend, wie besorgt und Anteilnehmend Proust nicht nur für seine Mutter ist, sondern auch um diesen jungen Mann, wir aber nicht wissen, in welcher Beziehung er zu diesem Menschen steht. Wir werden wohl nicht erfahren, ob der Vater hier hat Abhilfe schaffen können.

An Marie Nordlinger
Dezember 1898

Proust erhält von der Dame eine Weihnachtskarte, über die er sich sehr gefreut hatte. Wie schön er ihr diese Freude zum Ausdruck gebracht hat, liest man an folgender Textstelle:
Mademoiselle, mit Ihrer Weihnachtskarte haben Sie mir eine große Freude bereitet. Wären wir nur Vernunftwesen, würden wir an Geburtstage, Feste, Reliquien, Gräber nicht glauben. Aber da wir auch ein wenig aus Materie bestehen, glauben wir gerne, dass sie auch in der Wirklichkeit etwas darstellt, und wir wollen, dass das, was in unserem Herzen einen Platz hat, auch einen kleinen Platz außerhalb von uns einnimmt, dass es, wie unsere Seele mit unserem Körper, ein materielles Symbol hat.

Diese Sichtweise fanden Anne und ich sehr rührend, sehr weise.

Seine Ansicht zur Weihnachtsfeier hat Proust so schön ausgedrückt, dass ich Weihnachten in diesem Brief, mitten im August, regelrecht riechen konnte.
Und in dem Maße, wie Weihnachten für uns seine Wahrheit als Geburtstag einbüßt, wird es, kraft der zarten Strahlung der angehäuften Erinnerungen, zu einer immer lebendigeren Wirklichkeit, in der das Kerzenlicht, die melancholische Erwartung eines ersehnten Besuchs, der durch den Schneefall verhindert wird, der Duft der Mandarinen, der die Wärme der Zimmer durchtränkt, die Lustbarkeiten in der Kälte und am Feuer, die Gerüche von Tee und Mimosen wieder aufscheinen, überzogen vom köstlichen Honig unserer Persönlichkeit, die wir dort unwissentlich über Jahre hinweg abgelegt haben, Jahre, in denen wir sie – wie gebannt von egoistischen Zielen – nicht mehr spürten und jetzt, mit einem Mal, unser Herz schneller schlagen lässt. (235)

Ist dies nicht ein schöner Text? Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust diese Szene ähnlich in seinem Roman Jean Santeuil, eine Ausgabe von 1965, hat einfließen lassen.

Doch Anne hat angemerkt, dass Proust Madame Nordlinger intellektuell nicht ausreichend gewürdigt habe und er sie auf ihren Humor, auf ihre Art, Witze zu erzählen, reduzierte:
Ich hoffe sehr, (…) dass Sie bald nach Paris zurückkommen. Ich wäre glücklich, wieder in den Genuss ihres so köstlichen Witzes zu gelangen und in den Genuss Ihrer Anmut, die so erfrischend ist wie ein Weißdornzweig. (236)

Wer weiß, vielleicht bekommen wir noch mehr zu dieser Dame zu lesen, um uns ein umfassenderes Bild zu ihrer Charakterisierung und zu ihrem Charme zu machen.

An Robert d´Humiéres
Februar 1899

Robert d`Humiéres ist zusammen mit seinem Kollegen Louis Fabulet Übersetzer von Kiplings Dschungelbuch gewesen. Proust ist in dem Märchen ganz aufgegangen, lobt die Übersetzer.
So hat mir gestern die Revue de Paris mit dem bewundernswerten >Moglis Entführung< einen weiteren Grund gegeben, Sie zu verehren. Auch ich bin entführt worden, bin wie Mogli auf den Schultern der Affen durch den Dschungel gestürmt und habe Freundschaft mit dem Geier geschlossen.

Proust zeigt sich immer voller Dankbarkeit zu seinen Schriftstellerkollegen, wenn sie es schaffen, ihn mit ihren Werken zu verzaubern.
Wenn man sich schon größer fühlt, nachdem man so schöne Dinge gelesen hat, um wie viel mehr muss da nicht derjenige über sich hinausgewachsen sein, der sie so wunderbar übersetzt hat, der viel länger und auf viel vollkommenere Weise Kipling war als ich selbst, der ich ihn verstanden und genauso geliebt habe.

Nun spricht er direkt mit Mogli:
Und auch Sie, lieber Mogli, kleines Menschenkind, sehen in diesem Augenblick den Dschungel vor sich, auf den Sie sich, nachdem Sie Kipling so schön übersetzt haben, geistigen Besitzanspruch erworben haben. Machen Sie sich auf die Suche nach den Pfaden der Affen, den Ruinen der Hindu-Stadt, um mir von alldem erzählen zu können.
Gott weiß, wie sehr mich das interessiert.

Immer wieder erlebt man, wie Proust manche literarischen Figuren nach dem Lesen in sich ein zweites Mal aufleben lässt.

Im letzten Absatz dieses Briefes bedankt sich Proust erneut bei d´Hümières gebührend für die Übersetzung:
Ich kann Ihnen für >Moglis Entfürung< gar nicht genug danken. Mit dieser Übersetzung haben Sie mir eine der größten literarischen Freuden bereitet, die ich je empfunden habe. Ich gehe mit diesem entzückenden Poem bei allen klugen und empfindsamen Menschen hausieren, die ich kenne. Kennen Sie sich in Kiplings Leben aus?

Doch Proust stellt sich auch kritische Fragen, und konfrontiert d´Humières damit.
Wissen Sie, woher bei (Kipling) dieses so eigene Interesse für das Leben der Tiere, all diese Entführungen, diese Reise auf dem Rücken der Elephanten oder Affen oder Panthern führt? (…) Das Einzige, was mir missfällt, ist, wenn es so scheint, als wolle er allegorisch werden, zum Beispiel das Affenvolk, das nichts aufbauen kann usw. Glauben Sie, dass er da eine Allegorie schreiben wollte?

Eine Allegorie zu was? Er befürchtete, dass mit den Affen die Menschen gemeint sein könnten. Hier hätte ich Lust, nochmals Das Dschungelbuch zu lesen. Ich denke, dass ich es tun werde.

Aber ich wollte jetzt auch noch wissen, wie alt Kipling zu Prousts Zeiten war und habe festgestellt, dass der Altersunterschied nicht sehr groß gewesen ist. Rudyard Kipling ist 1865 geboren und 1936 gestorben. Er ist gerade mal sechs Jahre älter als Marcel Proust und hat aber ein deutlich längeres Leben als er gehabt, Proust, der die 50 nicht überschreiten konnte, während Kipling 71 Jahre alt wurde. Und trotzdem war er ein Genosse aus Prousts Zeiten.

Telefongespräch mit Anne
So richtig intensiv haben wir uns diesmal nicht ausgetauscht, da sehr viele Briefe Wiederholungen zu politischen Motiven enthielten. Weitere Gedanken zu Anne habe ich entsprechend im Text deutlich hervorgehoben.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 240 bis Seite 249.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 23. Juni 2019

Berufliche Neuorientierung / Selbstfindungsphase

Seite 152 – 162  

Auf den folgenden zehn Seiten strebt der junge Marcel Proust unter dem Druck seiner Eltern eine berufliche Laufbahn an. Ein Dilemma, wie man es schon von verschiedenen anderen Künstlern her kennt. Die Schriftstellerei als Existenzsicherung scheint für Prousts Vater zu ungewiss zu sein. Schreiben als Hobby neben einem anderen Beruf ist durchaus machbar. Aber Proust schreibt nicht zum reinen Vergnügen, sondern professionell. Profession bedeutet in meinen Augen, einen ganzen Arbeitstag mit dem Schreiben zu verbringen. Damit ist nicht nur das Schreiben impliziert, sondern auch die Zeit, die er auf der Suche nach seinem Stoff noch zusätzlich benötigt. Wo soll da noch Zeit sein, einem anderen Beruf nachzugehen? Ich denke dabei auch an die vielen Profimusiker, die Virtuosen unter uns, die täglich mindestens acht Stunden mit Übungen zubringen, wie ich mir von echten Profis habe sagen lassen. Ein Laie übt wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde am Tag.

Proust sucht verzweifelt nach Kompromissen, später nach einer patenten Lösung.

September 1892, 22 Jahre
Brief an Robert de Billy

Er schreibt in dem Brief an seinen Freund Robert de Billy, spricht sich in dem Brief aus, dass er in der allergrößten Verlegenheit stecken würde, da er auf den Druck seines Vaters sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden müsse. Durch Anraten seines Vaters strebt Proust eine Beamtenlaufbahn zwischen dem Rechnungshof und dem Dienst im Außenministerium in Paris an. Aber beides empfindet Proust als eine >>geisttötende Laufbahn<<. Obwohl Proust Jura studiert hat, und er sein Lizenziat im Oktober 1893 bestanden hat, drängte sein Vater auf eine zügige Berufswahl. Im Folgenden zeigt Proust dem Freund seine innere Not, für die sein Vater wenig Verständnis aufzubringen scheint. Ich zitiere folgende Textstelle, da ich so sehr mit Proust mitfühlen kann:
Ach, mein Freund, mehr denn je wäre mir Ihr Rat hier teuer, und ich leide sehr unter ihrer Abwesenheit. Möge sie doch ein schöner Brief durch das allmächtige Wunder der kommunizierenden Geister aufheben. – Genießt die höhere Verwaltungslaufbahn nicht zu wenig Ansehen? Was bleibt da noch, wo ich entschlossen bin, weder Anwalt zu werden noch Arzt, noch Priester, noch -, (154).

Ende September 1893 schreibt Proust diesbezüglich an den Vater …

… und bittet indirekt erneut darum, seine Studien in Philosophie und in der Literatur weiter fortsetzen zu dürfen, worauf der Vater sich in Schweigen hüllte. Aber Proust ist nachgiebig, zeigt sich weder motzig, noch rebellisch dem Vater gegenüber und sucht nach einer Lösung, mit der beide gut leben können.
Mon cher petit Papa,ich habe immer gehofft, deine Erlaubnis für die Fortsetzung der literarischen und philosophischen Studien zu erhalten, für die ich mich geschaffen glaube. Aber da ich sehe, dass mit jedem Jahr nichts weiter als eine immer aufs Praktische gerichtete Disziplin auf mich zukommt, will ich mich lieber gleich für eine dieser praktischen Laufbahn entscheiden, die du mir vorschlugst. Ich werde ernstlich darangehen, ganz nach Deiner Wahl, die Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst oder für die École nationale des Chartes vorzubereiten. (155)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die École national … die Schüler auf einen höheren Dienst für Bibliotheken, Archiven und Museen vorbereitet.
Was die Anwaltskanzlei angeht, so würde ich noch tausend Mal lieber bei einem Wechselmakler anfangen. Du kannst übrigens sicher sein, dass ich es dort keine drei Tage aushalten würde! Es ist nicht so, dass ich nach wie vor alles außer der Beschäftigung mit Literatur und Philosophie für verlorene Zeit hielte. Aber unter mehreren Übeln gibt es kleinere und größere. Ich habe mir, selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung, nie etwas Furchtbareres als eine Anwaltskanzlei vorstellen können. Der Botschaftsdienst, der mir jene ersparen würde, scheint mir zwar nicht meine Berufung zu sein, aber ein Ausweg. (155f)

Auf der Seite 152 schreibt Proust weiterhin an Robert de Billy. Zur Erinnerung; Proust lernte de Billy im Militärdienst kennen. Sie waren beide in Orléans stationiert. Proust verbrachte nur ein Jahr beim Militär, danach kehrte er nach Hause zurück, um zu schreiben. Dadurch, dass Proust Asthmatiker war, war es leicht, vom Militärdienst befreit zu werden.

Auf den folgenden Seiten findet Proust noch andere Autoritäten, mit denen er über seine Zukunft spricht, da er noch immer nach Auswegen sucht, auch wenn er ernsthaft bemüht ist, es seinem Vater recht zu machen.

Im November 1893 schreibt er an Charles Grandjean und bittet um seinen Rat. Das bedeutet, er ist noch immer auf der Suche, seinen Beruf zu finden, aber wie es scheint, findet er nur in den hoch geistigen Künsten seine berufliche Heimat. Würde er sich für die Beamtenlaufbahn im Rechnungshof entscheiden, so müsse er dort schätzungsweise nach zweijähriger Vorbereitungszeit eine Aufnahmeprüfung ablegen, von der Proust schon jetzt weiß, dass er die Prüfung nicht bestehen werde. Allerdings sucht Proust eine unentgeltliche Anstellung im Museum, um über Umwegen doch in der École de Chartes ein Lizenziat in Literatur ablegen zu können.
 Während dieser Zeit könnte ich, wenn ich feststelle, dass es mir dort gefällt, ganz nach Ihrem Belieben die École des Chartes, ein Lizenziat in Literatur, die École du Louvre oder ganz einfach persönliche Arbeiten vorbereiten – und zwar dergestalt, dass daraus eine Laufbahn für die Zukunft wird, und in Erwartung des noblen und diskreten Rahmens einer Existenz, die ich durch das Studium schöner Dinge zu inspirieren und zu veredeln versuchen würde. (157)

Weitere Details sind den Briefen zu entnehmen.

Mit dem richtigen Beruf versucht Proust, einen Lebenssinn zu bestimmen, ohne das Gefühl zu bekommen, in Zukunft sein Leben vertan zu haben. Doch er ist ambivalent, er weiß nicht so recht, wie er seine beruflichen Pläne umsetzen soll, solange ihm die Unterstützung seines Vaters fehlt. Weiter schreibt er um Rat bittend an Grandjean:
Aber ach, Ihr wunderbarer kritischer Geist wird auch diesen neuen Ballon zerplatzen lassen – oder sagen wir, ich freue mich darüber, denn Sie verscheuchen für mich die Trugbilder, die das Gefährlichste überhaupt sind, und ersparen mir auf diese Weise grausame Enttäuschungen. (158)

Er weiß, dass die Jugend vorbei ist und somit der Ernst des Lebens beginnt.
Da es früher oder später nicht mehr reicht, sein Leben zu erträumen, sondern man es leben muss, hätte ich große Enttäuschungen zu gewärtigen – die größte wäre die, sein Leben vertan zu haben -, wenn Ihre Erfahrung und Ihre Intuition meinem allzu phantasievollen und zu unwissenden guten Willen nicht zur Vorsicht rieten. (Ebeda)

Ich erlebe diese Briefe als einen stillen Hilferuf. Still deshalb, weil Proust diplomatisch bleibt und auch seinen Vater nicht beschimpft. Er schwankt zwischen den Erwartungen und den Forderungen seines Vaters, und zwischen seinen eigenen Plänen, die auch aus seiner Sicht tatsächlich scheitern könnten. Was ist, wenn der Vater recht hat, und alle seine beruflichen Pläne sich nicht so umsetzen lassen, wie er sich dies vorstellt?

Zum Schluss habe ich mich gefragt, weshalb Proust Jura studiert hat? Wurde er dazu gezwungen? Später geht aus den Briefen hervor, dass er weder Medizin, noch Theologie … studieren wollte, so blieb ihm wohl nur noch die Justiz. Aber eine Karriere als Anwalt lehnt Proust vehement ab.

Später bekommt er von den Agenturen mehrere Angebote gemacht, entscheidet sich aber letztendlich, auf seinem Museumsplan zu beharren. Da ich nicht alles verraten möchte, erspare ich mir weitere Details.

Damit es hier nicht nur um Prousts berufliche Pläne geht, sondern zur Abwechslung auch mal um begabte Frauen, möchte ich als letztes hierzu noch einen Beitrag leisten.

Proust befindet sich auf Reisen. Wahrscheinlich zur Erholung. Derzeit ist er mit seiner Mutter in Trouville. Trouville-sur-Mer ist ein kleines französisches Seebad mit 4642 Einwohnern. Zuvor verbrachte er drei Wochen in der Schweiz, St. Moritz, und eine Woche am Genfer See. Er hat von seinen Reiseeindrücken in der Zeitschrift Revue blanche geschrieben. Er ist wieder von einer Dame angetan, Madame Jameson, eine musische Künstlerin, eine Pianistin, zu der sich Proust hingezogen fühlt. Er schreibt seinem Freund Robert de Billy, um über die Pianistin Auskunft zu erlangen, da der Freund diese Dame kennen würde. Proust schreibt, dass er sich schon bei Madame Straus erkundigt habe, bestätigte, dass Madame Jameson … 
… >recht patent ist, die Wohnung gut aufräumt, und überall schrubbt< (was sehr geistreich ist, aber meiner Ansicht nach eher auf andere Anwendung findet als auf diejenige, dich ich für eine so große Musikerin halte< und auf eine antikünstlerische und abscheuliche Weise spielt. (153)

Madame Straus scheint wohl gar nichts von den Künsten Jameson zu halten, drückt es aber eher in versteckter Weise aus, was Proust ein wenig irritiert, weshalb er eine andere Meinung sich bei dem Freund einholen möchte. Man weiß nicht mit Bestimmtheit, wie Madame Straus auf Talente anderer Damen tickt. Vielleicht empfindet sie einfach nur Neid. Madame Jamesons Herkunft stammt nicht aus der gehobenen Gesellschaft, weshalb Proust seinen Freund hierbei um Nachsicht bittet, da sie weder Herzogin noch Prinzessin und nur Protestantin sei. Vielleicht hat Madame Straus die Pianistin auch deshalb abgewertet bzw. sie auf das Können ihrer Hausarbeit reduziert, weil sie keinem Adel angehört. Sehr geistreich scheint Madame Straus aber auch nicht zu sein. Diese wenig geistreichen Menschen treten gehäuft aber auch in der Recherche auf. Sie sind mir nicht neu.

Telefongespräch mit Anne:
Erneut haben Anne und ich unsere Leseeindrücke teilen können. Ja, Proust wird jetzt erwachsen und er spürt deutlich, dass sich seine Jugend und seine Träumereien so langsam dem Ende neigen. Trotzdem sind wir gespannt, wie es weitergehen wird, denn, dass er weiterschreiben wird, das wissen wir schon durch seine siebenbändigen Recherchen. Den letzten Band hat er kurz vor seinem Tod noch beenden können. Anne meinte, dass man neben dem Beruf sich trotzdem noch mit Büchern befassen könne, und ich war der Meinung, dass Proust sich mit Literatur als Hobby nicht begnügen wolle. Er wollte ganz frei sein für sein Schreiben, und so war er nicht bereit, dieses mit einem anderen Beruf zu teilen. Dazu habe ich oben schon einiges geschrieben. Interessant fand ich, dass Anne, die meine Buchbesprechung noch gar nicht gelesen hat, da ich noch am Werkeln bin, dieselben Gedanken und Ideen wie ich geäußert hat.

Ich weiß noch aus der Biografie, dass Proust die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat, weil er sehr krank war. Eine große Karriere, wie der Vater sie für ihn bestimmt hat, wird er dadurch nicht machen können.

Des Weiteren haben wir uns über den Briefpartner Robert de Billy ausgetauscht, da ich ihn total verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war. Aus Annes Namensliste geht hervor, dass dieser Mensch nur Prousts Briefpartner war. Mehr ist aus der Fußnote nicht hervorgegangen. Ich wurde schließlich auf einer französischsprachigen Proust – Seite fündig. Weitere Erklärung sind oben im Text hinterlegt.

Wir sind beide auf nächstes Wochenende gespannt. Wir sind neugierig, wie bzw. ob Proust aus seiner Bedrängnis herausfinden wird, ohne es sich mit dem Vater zu verscherzen. Aber Ewachsenwerden bedeutet auch, sich gegen die elterlichen Erwartungen auflehnen zu können, auch wenn hier eine finanzielle Abhägnigkeit besteht.
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Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

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