Montag, 30. Dezember 2013

Pascal Mercier / Nachtzug nach Lissabon (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich denke, ich werde Pascal Mercier auf meine Favoritenliste setzen, er entpuppt sich immer mehr zu meinen LieblingsautorInnen. Mann kann ja mehrere Lieblinge haben. Ich finde seinen Schreibstil wiederholt einfach nur gut. Tiefgründig, fantasievoll, und poetisch.
Vieles brachte mich zum Nachdenken, werde aber nicht alles hier einbringen, lasse aber bestimmte Blättchen auf den Buchseiten liegen, und immer wenn ich wieder in eine bestimmte Lebenssituation gerate, lese ich in diesem Buch nach, indem ich die betereffende Seite aufschlage…

In dem Buch findet man viele philosophische, aber auch psychologische Gedanken vor. Eines möchte ich nur bemängeln, was mir aber schon im letzten Buch von ihm aufgefallen ist. Pascal Mercier verfügt über mehrere Fremdsprachen. Wenn diese in seinen Werken zur Geltung kommen, muss man damit rechnen, dass diese Textstellen nicht übersetzt werden. Ich hatte mit dem Französischen keine Probleme, dafür aber mit dem Portugiesischen. Der Autor setzt voraus, dass seine LeserInnen auch über Kenntnisse jener Fremdsprache verfügen. Französische Textstellen werden gar nicht übersetzt, lateinische, griechische oder portugiesische dagegen nur ab und an. Dies bemängele ich…

Und nun zum Inhalt:

Zur Erinnerung hier noch einmal der Klappentext:
Mitten im Unterricht verlässt ein Lehrer seine Schule und macht sich auf den Weg nach Lissabon, um den Spuren eines geheimnisvollen Autors zu folgen. Immer tiefer zieht es ihn in dessen Aufzeichnungen und Reflexionen, immer mehr Menschen lernt er kennen, die von diesem Mann, den ein dunkles Geheimnis umgibt, zutiefst beeindruckt waren. Eine wundervolle Reise – die vergeblich sein muss und deren Bedrohungen der Reisende nicht gewachsen ist. Endlich kann er wieder fühlen, endlich hat er von seinem Leben zwischen Büchern aufgeblickt – aber was er sieht, könnte ihn das Leben kosten 
Ich finde es sehr originell, dass ein Gymnasiallehrer einfach seine Stunde verlässt, mit der Absicht, nach Lissabon zu verreisen. Den Impuls dazu erhielt Raimund Gregorius von einer portugiesischen Frau, mit der er köperlich zusammengestoßen ist, und sie ihm eine portugiesische Telefonnummer auf seine Stirn schrieb.

Aber die Frau verschwindet wieder aus seinem Leben… Aber Gregorius fühlt sich zu Portugal so hingezogen, dass es ihn in ein Antiquariat hinzieht. Der Antiquar drückt ihm ein altes Buch in die Hand, ein Buch eines portugiesischen Autors, der aber nicht mehr am Leben ist. Gregorius begibt sich auf Spurensuche, da er von der Intelligenz und der Weisheit des Autors so angetan ist, dass er davon nicht mehr loslassen konnte. Gregorius ist Altphilologe, der einst als Student die alten Sprachen in Lissabon studiert hatte.

In dem Buch gibt es zwei Protagonisten. Neben dem Altphilologen dreht sich viel um den Autor des Buches. Manchmal habe ich die beiden verwechselt und denke, dass beide eine große intellektuelle und eine persönliche Ähnlichkeit besitzen. Der Autor des Buches ist ehemaliger Arzt von Beruf gewesen, der nicht mehr lebt. Eine hochbegabte Persönlichkeit, die schon als Schüler alles Wissen in sich hatte, was andere erst noch erlernen mussten. Dieser Schüler war Amedeu de Prado und stammt aus einer Adelsfamilie:

Als Amadeu ein Junge war, und das Gymnasium zum ersten Mal besuchte, kam er von der Uhrzeit her nicht nur zu spät zum Unterricht, sondern auch noch einen Tag zu spät. Amadeu fiel in seiner neuen Klasse sofort auf, da er als einziger in der Klasse mit einem Gehrock gekleidet war und ohne Schultasche erschien. Als wollte er sagen, er trüge sein ganzes Wissen mit sich in seinem Kopf. Amadeu ist ein hochbegabter junger Mensch, dem sogar sein eigener Vater, Jurist von Beruf, nichts hätte vormachen können. Mit vier Jahren konnte er schon lesen, und im Alter von sechs Jahren waren ihm Kinderbücher schon zu langweilig und so begann er, Bücher für Erwachsene zu lesen. Amadeu war kein gewöhnliches Kind.

Selbst Amadeus Lehrer zeigten sich über seine hohe Bildung in dem Alter recht erstaunt:
"Wenn Amadeu ein Buch liest", sagte ein anderer Lehrer, "dann hat es nachher keine Buchstaben mehr. Er verschlingt nicht nur den Sinn, sondern auch die Druckerschwärze." Und so war es auch: Die Texte schienen ganz und gar in ihm zu verschwinden, und was nachher im Regal stand, waren nur noch leere Hülsen. Die Landschaft seines Geistes in der unverschämt hohen Stirn weitete sich mit atemberaubendem Tempo, von Woche zu Woche bildeten sich darin neue Formationen heraus, überraschende Formationen aus Ideen, Assoziationen und fantastischen sprachlichen Einfällen, die uns stets von Neuem in Erstaunen versetzen. Es kam vor, dass er sich in der Bibliothek versteckte und die ganze Nacht über mit einer Taschenlampe weiterlas. Beim ersten Mal geriet seine Mutter in helle Panik, als er nicht nach Hause kam. Doch mehr und mehr gewöhnte sie sich mit einem gewissen Stolz daran, dass der Junge dazu neigte, alle Regeln außer Kraft zu setzen. (247)
Der erwachsene Amadeu hatte zum Schriftstellern eigentlich nur wenig Zeit. Tagsüber praktizierte er bis spät in den Abend hinein. Er litt unter massiven Schlafstörungen, sodass er die schlaflosen Nächte nutzte zum Nachdenken und zum Schreiben. Schon als Kind wandte er Methoden an, alle seine Gedanken jeweils auf kleine Zettelchen zu schreiben. Gregorius findet in dem Buch diese vielen Gedanken, die auch ihn beschäftigen…

Oft wird die Frage gestellt, was für ein Wesen Mensch er sei? Wer bin ich? Darf ich so sein, wie ich bin? Wie viele Anteile von mir dürfen gelebt und entfaltet werden?
Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist - was geschieht mit dem Rest? (36)
Der Rest wird wohl in uns selbst verkümmern, im Inneren brachliegen, lautet meine Antwort darauf, und wartet darauf, bis diese unerwünschten Anteile gelebt werden dürfen. Doch warum nicht gleich? Verpassen wir nicht diese Gelegenheiten und leben an uns vorbei? Dies sind Gedanken, die sich auch der Lehrer Gregorius gestellt hatte, weshalb er den Sprung waghalsig wagte, ohne Rücksicht auf den Beruf und dessen KollegInnen. Familie hatte er ja keine, war geschieden. Es gab auch keine Kinder, auf die er hätte Rücksicht nehmen müssen.
Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Deshalb ist, wer die Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen. P. M. zitert (Fernando Pessoa)
Auf Seite 313 ist zu entnehmen, dass die Wahrheit über sich selbst zu erfahren, zumutbar für den Menschen sei.

Dies fand ich auch ein schönes Zitat, nur stellt sich mir die Frage, was die Wahrheit selbst ist, und wie man zu ihr gelangt?
Auf den folgenden Seiten wird recht deutlich, dass sie in das Hineinhorchen in sich selbst erfahrbar gemacht werden könne, doch für viele Menschen diese Stille nicht aushaltbar sei und sie permanent damit beschäftigt seien, sich nach außen hin abzulenken. Viele hätten Probleme, mit sich in Berührung zu kommen.

Amadeu war eine Persönlichkeit, die nie viel gesprochen hat. Selbst sein Vater, der Jurist ist, sprach nicht viel. Über Gefühle schon mal gar nicht. Und gerade dies wird ihnen beiden in der Beziehung zwischen Vater und Sohn zum Verhängnis…
Amedeu hat die Sprache verachtet, die ihm so abgenutzt und abgedroschen erschien:
Wenn ich Zeitung lese, Radio höre oder im Café darauf achte, was die Leute sagen, empfinde ich immer öfter Überdruss, ja Ekel ob der immer gleichen Worte, die geschrieben oder gesprochen werden - ob der immer gleichen Wendungen, Floskeln und Metaphern. Und am schlimmsten ist es, wenn ich mir selbst zuhöre und feststellen muss, dass auch ich die ewig gleichen Dinge sage.  (…) Oft redeten die Menschen nur, um zu reden. (…) Sie beim Wort nehmen zu wollen - das sei etwas, was nur einem Philologen einfallen könne, namentlich einem Altphilologen, der den ganzen Tag mit unverrückbaren Worten zu tun habe, mit Texten eben, und noch dazu mit solchen, zu denen es Tausende von Kommentaren gebe. (49ff)
Amedeu ist ein sehr belesener Mensch, und ich glaube, dass viel belesene Menschen auch sehr einsame Menschen sind, und dadurch nicht viel reden.

Nun komme ich noch einmal auf die Vater – Sohn – Beziehung zu sprechen: Amadeus Vater spürte den Druck seines Sohnes. Amadeus verachtete seinen Vater als Richter, da er eine Autorität sei, die über andere Menschen urteilt, sie bestraft und sie ins Gefängnis schickt. Der Vater war dem Sohn kein Vorbild, Amedeu wünschte sich, der Vater wäre besser Verteidiger geworden, statt Richter und so gewinnt Amedeu aus Trotz Sympathien zu Dieben. Was beide voneinander nicht wussten, ist, dass jeder für sich dem anderen Briefe geschrieben und ihre Anklagen mit Worten laut werden ließen. Eine Aussprache, aber niemand hatte den Mut, die Briefe auch zu überreichen, aus Angst vor zu viel Emotionalität. Amedeu litt sehr stark unter der emotionsarmen Beziehung seines Vaters. Gefühle durften nicht sein, und dementsprechend konnte auch Amadeu sich nicht wirklich öffnen. Beide hatten Probleme in der Balance zwischen Nähe und Distanz, auch im Umgang mit Freunden. Ein kleiner Auszug aus dem Brief des Vaters:
Mein geschätzter, mein lieber Sohn, ich habe über die Jahre so viele Briefe an dich angefangen und weggeworfen, dass ich nicht weiß, der wie vielte dieser ist. Warum ist es so schwer?Kannst du dir vorstellen, wie es ist, einen Sohn zu haben, der mit soviel Wachheit und so vielen Begabungen gesegnet ist? Einem wortgewaltigen Sohn, der dem Vater das Gefühl gibt, dass ihm nur die Stummheit bleibt, um nicht wie ein Stümper zu klingen? (…) Wie schwer ist es für einen Vater, vor seinen Kindern zu bestehen! Und wie schwer ist der Gedanke zu ertragen, dass man sich mit all seinen Schwächen, seiner Blindheit, seinen Irrtümern und seiner Feigheit in ihre Seelen einschreibt! (…) Ich sah zu, wie du groß wurdest, ich bestaunte den Sprühregen deines Geistes, ich hörte deine Flüche über Gott. (…) Neidisch war ich auch wegen deines Schultextes, wegen der Selbstständigkeit des Denkens und wegen des aufrechten Gangs, die aus jeder Zeile sprachen. Sie waren wie ein leuchtender Horizont, den ich auch gerne erreicht hätte, den ich aber nie würde erreichen können, dazu war die bleierne Schwerkraft meiner Erziehung zu groß. Wie hätte ich dir meinen stolzen Neid erklären können? Ohne mich klein zu machen, kleiner noch und gedrückter, als ich ohnehin schon war? Manchmal schien es, als gehörten die Bücher zu dir wie die Hände, die sie hielten. (…) Ich habe dich als Lesenden geliebt, ich habe dich sehr geliebt. (470 f)
Amadeu überrascht den Vater, als er im Gerichtssaal sitzt, und seinen Vater bei der Urteilsverkündung beobachtet:
Ich spürte die Angst, als ich dich im Gericht sah. Ich musste die Diebin verurteilen und ins Gefängnis schicken, das Gesetz verlangt es so. Warum hast du mich bei Tisch angesehen wie einen Folterknecht? Dein Blick klemmte mich, ich konnte nicht darüber sprechen. Hast du etwa eine bessere Idee, was wir mit Dieben machen sollen? (472f)
Im späteren Brief fragte ihn der Vater, ob ihm sein Tod reichen würde? Was damit gemeint ist, lest einfach selbst. Zumindest löste der Vater im Sohn damit Schuldgefühle aus… Der Vater litt unter schweren körperlichen Schmerzen, die unheilbar waren.

Ich beende nun somit meine Buchbesprechung. Worüber ich hier geschrieben habe, sind nur kleine Ausschnitte und empfehle, sich den Inhalt des Buches selbst anzueignen. Es wird nie langweilig. Auf jeder Seite befinden sich wunderbare und tiefgründige Gedanken und für jedem sind gewisse Themen, die so zahlreich sind, unterschiedlich bedeutsam…

Was mit dem Altphilologen nun letztendlich wurde, was er aus dem Buch von Amadeu de Prado nun gemacht hat, nachdem er Kontakte mit all den Menschen geknüpft hatte, die eng in Beziehung zu dem Autor standen, möchte ich nicht verraten. Ist Gregorius wieder zurück in seine Heimatstadt Genf gefahren? Welche Erkenntnisse erschlossen sich ihm persönlich?

Lest selbst. Wie schon gesagt, da mir die Zitate dieses Buches so wichtig sind, habe ich meine Klebezettel zwischen den Seiten haften lassen, damit ich sie zu jeder Zeit nachschlagen kann. Und das werde ich tun, da auch mein Leben oft mit einigen Ausschnitten und Lebensthemen des Buches geprägt ist und ich mich zu der Denkweise des Amadeu de Prados hingezogen fühle.

Kann man Bücher lieben? Ja, man kann. Ich liebe dieses Buch, als hätte ich einen Menschen vor mir. Auch wenn ich meine Bücher nicht literaturwissenschaftlich bespreche, ich bin keine Philologin, diese Aufgabe überlasse ich gerne den Literaturexperten, die dafür auch bezahlt werden, liebe ich das Buch auf meine Weise... .

Das Buch erhält von mir 9,5 von zehn Punkten.
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Ich habe ein Jahr gebraucht, um herauszufinden, wie lang ein Monat ist. 
(Pascal Mercier)

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