Sonntag, 10. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (5)

Fünfte Buchbesprechung zur o. g. Lektüre



ISBN-10: 3596512255

In den folgenden Kapiteln passiert recht viel, und wo sich sämtliche Romanfiguren vermischen, trifft sich alles gleichzeitig auf einer Bühne.

Der Autor geht auf sehr viele Themen ein, die ich des Umfanges wegen nicht alle aufgreifen kann, auch ist mir vieles recht rätselhaft noch geblieben. Ich habe etwas recherchiert zu seiner Biografie und konnte herausfinden, dass der Autor recht viele Studien über das Massenvolk betrieben hat, und über deren Verhalten. Die Masse als Institution, wie z.B. Kirche, Politik, Schulen... , und die Massen als Volk. Seinen Studienergebnissen zufolge ist wahrscheinlich dieses und andere seiner Bücher zu verdanken. Die Studienergebnissen waren wohl Anlass dazu, sich der Gesellschaft gegenüber abfällig und verachtend zu äußern, und den Protagonisten in eine gewisse Flucht von der Gesellschaft in sich selbst und in den Theorien trieb. 

Des weiteren konnte ich herausfinden, dass er seinen Vater recht früh verlor, im Alter von etwa acht Jahren, und der Vaterverlust dazu führte, dass er zu seiner Mutter eine recht enge und eifersüchtige Beziehung aufbaute. Die Mutter war sehr stark dem Theater und der Literatur zugewandt und galt aber als recht eitel und arrogant. Doch auch dies, so finde ich, drückt sich in seinem Werk aus... . Die Mutter als die erste Frau in seinem Leben prägt wohl alle weiteren Beziehungen zu Frauen. Das Frauenbild in dem Buch ist recht verachtend und niederschmetternd. Des Weiteren setzte er sich auch mit der Arbeiterklasse auseinander, was sich hier ebenso deutlich widerspiegelt.

Folgende Themen werden in dem Buch behandelt:

  1. Gesellschaftliches Verhalten / Massenverhalten / Volksverdummung, angelehnt an psychologischen Studien
  2. Abwertendes Frauenbild, (Eitelkeit, Naivität, Einfachheit, Abhängigkeit, Eifersucht, Stolz, geltungsbedürftig, Hurerei, Dummheit, Analphabetismus symbolisch, Intrigantin, Selbstsucht…) 
  3. Klassische Männerprobleme aus der Sicht des Autors (Männer, die sich ausschließlich mit der Wissenschaft beschäftigen, Sinologie, Schach, Distanz, Diplomatie.)
  4. Christentum und Judentum, Antisemitismus
  5. Götter aus der griechischen Mythologie
  6. Themen aus der Psychiatrie ( Wahn, Halluzinationen, Selbstsucht, Nähe- Distanzproblematik, Autoaggressionen - (der Prof. ritzt sich in einer Szene selbst)... .

Weiter geht's mit der Buchbesprechung, angelehnt an verschiedenen Stationen in dem Buch. Über die unterschiedlichen Figuren habe ich mir gestern Abend noch einmal Gedanken gemacht und ich glaube, dass diese nichts anderes als innere Stimmen sind, die der Autor personifiziert wiedergibt. Diese inneren  Stimmen, so empfinde ich das, rühren aus dem Bereich des Gewissens. Für mich tritt hier das Gewissen als eine innere, höhere Instanz auf, in dem alle Gedanken, Widersprüche, Widrigkeiten, Nöte, u.v.m. sich in verschiedenen Gesichtern und Fassaden zeigen. Die höhere Instanz stellt  für mich auch das innere Gericht dar, in dem alles Gute und alles Schlechte gegeneinander aufgewogen wird.

Fischerle, der Zwerg, ist eine Figur, wenn man sie mit dem Professor vergleicht, recht lebenserfahren, was bei dem Professor völlig zu kurz gekommen ist. Und dadurch, dass der Zwerg eine kleine Figur ist, und ein Abbild des Professors, soll verdeutlichen, dass er im praktischen Leben eher mickrig  und ein kleiner Zwerg geblieben ist, ein Kobold, eine Witzfigur.. . 
Kien sah ein, dass Fischerle just das besaß, was ihm fehlte, Kenntnis des praktischen Lebens bis in seine letzten Verzweigungen.
Die Bekanntschaft mit diesem Zwerg ist notwendig, damit sich der Professor mit ihm  widerspiegeln kann, um dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die wiederum bewirken sollen, sein Leben in diesem Bereich zu verändern. Der Zwerg ist letztendlich nichts anderes als ein Teil in ihm, das klein und bucklig geblieben ist, weil dieser Teil nicht ausgelebt wurde.
Der Buckel steht für die Last unbewältigter Probleme, die der Zwerg als letzte Konsequenz auf seinem Rücken tragen muss, und ihn beutelt.
Dadurch gilt der Zwerg als ein Krüppel. Er  sehnt sich danach, den Buckel wieder loszuwerden, und erfährt dabei, dass Kiens Bruder als ein hoch angesehener Psychiater in Paris praktiziert, doch Kien nimmt ihm die Hoffnung, und weist ihn noch einmal darauf hin, dass sein Bruder kein Chirurg sei, der ihm den Buckel wegschneiden könnte. Der Zwerg möchte trotzdem zu seinem Bruder in die Behandlung. Bleibt spannend, welche Heilung der Zwerg erfahren wird.

Weiter geht's mit dem Professor, der plötzlich erfahren hat, dass seine Frau Therese  verstorben sei. Ein merkwürdiger Tod, ein merkwürdiges Hinraffen:
Jeden Tod zog er einem unwürdigen Leben vor. Sie, von ihrer Gier nach einem Testament in den Wahnsinn getrieben, fraß sich selbst Stück für Stück auf. Bis zu ihrem letzten Augenblick sah sie das Testament vor sich. In Fetzen riss sie das Fleisch von ihrem Leib herunter, diese Hyäne, sie lebte von ihrem Leib in den Mund, sie aß das blutige Fleisch, bevor es gar war, wie hätte sie es zubereiten  sollen, dann starb sie als Skelett, der Rock lag steif  auf die leeren Knochen, er sah aus, als hätte ihn ein Sturm gebläht.
Therese zeigte Ähnlichkeit im Verhalten mit der Frau des Fischerles. So gierig wie sie nach dem Testament war, so gierig war Fischerles Frau nach einem Buch. Ich komme später noch einmal darauf zu sprechen. Es gibt es ja auch einen Staat, der Theresianum genannt wird. Auch kein Zufall, so denke ich, mir aber noch zu früh erscheint, über diesen Staat zu sprechen.

Fischerle zeigt sich noch immer recht wohlwollend und besorgt um Kiens Bücher. Gerade jetzt, wo seine Frau Therese gestorben ist, könne man unmöglich seine Bibliothek in seiner Wohnung sich selbst überlassen:
Kien selbst fühlt sich auch nicht mehr so glücklich, seit seine Frau gestorben ist, obwohl er nun das bekommen hat, was er schon immer wollte, Therese ist für alle Zeiten aus seinem Leben verschwunden. Das glaubt man erst, aber so wirklich ist das noch nicht, symbolisch gedacht und komme zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal darauf zu sprechen.
Fischerles Worte mahnten ihn an die Gefahr, in der seine Bibliothek schwebte. Alles zog ihn dorthin zurück, ihre Not, seine Pflicht, seine Arbeit. (…) Doch zu Hause stand ihm die sichere Verhaftung bevor. Es galt den Tatsachen klar ins Gesicht zu sehen. Er war an  Thereses Tod mitschuldig. Sie trug die Hauptschuld, aber er hatte sie eingesperrt. Gesetzlich war er verpflichtet, sie in eine Irrenanstalt zu geben. Er dankte Gott, dass er den Gesetzen nicht gefolgt war. In einer Irrenanstalt wäre sie heute noch am Leben. Er hatte sie zum Tod verurteilt, der Hunger und die Gier hatten dieses Urteil an ihr vollstreckt.
An dieser Stelle taucht nun das Gericht auf, von dem ich oben berichtet habe. Erst fühlt er sich schuldig, dass er sie in den Tod getrieben hat, aber ist das so? Und andererseits ist er wiederum froh, dass er den Gesetzen nicht gefolgt ist, denn sonst wäre sie ja noch am Leben. Diese innere Zerrissenheit und Widersprüche, mit denen sich nicht nur Kien zu plagen hat, sondern gar zu jeder Mensch, kommen auch in den späteren Kapiteln immer wieder deutlicher herüber.

Ich kürze nun etwas ab: Es kommt tatsächlich zu einem Gerichtsprozess und der Prozessgegenstand jener ist, ob der Professor Schuld an Thereses Tod hat. Als Zeugen treten alle Romanfiguren auf, ebenso seine verstorbene Frau. Es stellte sich heraus, dass die Frau einsam und verlassen war, und es die Einsamkeit war, die sie in die Gier trieb, in den Wahn, und von ihr letztendlich aufgefressen und getötet wurde. Doch wer war schuld an dieser Einsamkeit? Es werden noch mehrere Fragen gestellt, es gibt (noch) keine eindeutige Antwort von seiten der Richter.
Doch Kien fühlt sich von seiner Frau verfolgt, fängt an zu halluzinieren, glaubt nicht mehr, dass sie tot ist, sucht Hilfe, die beweisen soll, dass Therese tatsächlich tot ist. Vor Gericht äußerte er sich folgendermaßen:
Das offene Fleisch, wie sie es in Fetzen vom Körper riss, stank bis zum Himmel. Die Verwesung begann bei lebendigem Leibe. Das geschah in meiner Bibliothek, in Gegenwart von Büchern. Ich werde die Wohnung reinigen lassen. Sie kürzte diesen Prozess durch keinen Selbstmord ab. Nichts Heiliges war an ihr, sie war sehr grausam. Für Bücher heuchelte sie Liebe, solange sie ein Testament von mir erwartete. Tag und Nacht sprach sie von einem Testament. Sie pflegte mich krank und ließ mich nur am Leben, weil sie des Testaments noch nicht sicher war.
Ich möchte nun keine Partei mehr ergreifen für oder gegen Kien, denn ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass auch Therese, seine Frau, ein Teil von ihm ist, und dass alle diese Teile, diese vielen inneren Ichs wieder zusammengeführt werden müssten, und der Protagonist wieder eins mit sich selbst wird.

So, ich mache jetzt hier erst mal Schluss. Ich habe noch einhundertfünfzig Seiten vor mir.
Aber es werden sicher noch ein oder zwei Buchbesprechungen bis zum Ende folgen.
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"Die rechte Vernunft liegt im Herzen" (Theodor Fontane)

SuB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger
: Kaiserhofstr. 12
Thackeray
: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

 

Gelesene Bücher 2012: 40