Dienstag, 30. Juni 2015

Carlo Collodi / Pinocchio

Klappentext

Wer kennt ihn nicht, den kleinen hölzernen Taugenichts mit dem großen Herzen am rechten Fleck, der sich in den Kopf gesetzt hat, ein richtiger Junge zu werden! Als der italienische Schriftsteller Carlo Collodi seinen Pinocchio 1881 durch Meister Geppetto zum Leben erwecken ließ, konnte er kaum ahnen, wie groß und anhaltend der Erfolg seiner vor Witz und Einfallsreichtum sprühenden Geschichten sein würde. Diese ungekürzte Ausgabe präsentiert die hinreißenden Abenteuer von Pinocchio, der Fee mit den blauen Haaren und dem Gaunerduo Kater und Fuchs gemeinsam mit den wunderbaren Illustrationen von Carlo Chiostri. 


Autorenporträt

Carlo Collodi, eigentlich Carlo Lorenzini war ein italienischer Schriftsteller und Journalist. Er ist der Autor des weltberühmten Romans Die Abenteuer des Pinocchio. Sein Nachnamens-Pseudonym leitet sich vom Dorf Collodi ab. Geboren: 24. November 1826, Florenz, Italien, Gestorben:26. Oktober 1890, Florenz, Italien 

Quelle: Wikipedia

Ich habe die Buchverfilmung gesehen, es gibt einige, allerdings zähle ich die Zeichentrickfilme nicht dazu.

Der Film hat mir relativ gut gefallen und so wurde ich neugierig auf das Buch. Ich wollte wissen, inwiefern der Film vom Buch abweicht. Das Einzige, das mir im Buch nicht gefallen hat, war, dass die Münzen in der deutschen Währung -Pfennige- angegeben wurden. Mit dem Lesen dieses Buches konnte man sich gut in das Land Italien hineinversetzen, doch die deutsche Währung hat einfach nicht hineingepasst.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Sehr lebendig geschrieben und die schwarz/weiß Illustrationen sind wunderschön. Ich bin am Überlegen, mir das Buch auf Italienisch anzuschaffen und es auf Italienisch zu lesen. Dann hätte ich einen weiteren Vergleich zur deutschen Übersetzung.

Es gibt viele Pinocchiobücher aus den unterschiedlichen Verlagen, vor allem die Cover sind wesentlich schöner als das des vorliegenden Buchbandes. Allerdings sind sie stark gekürzt und in einer Kindersprache des Vorschulalters verfasst. Aber inhaltlich ist dieser Band vom Anacondaverlag der beste, da er nicht gekürzt ist und das Buch ist nicht in einer kindlichen Sprache verfasst, sodass Erwachsene es lesen können, ohne dass man sich dabei langweilen muss.

Pinocchio kannte ich aus meiner Kindheit nur durch die Erzählungen über meine Mutter. Aber meistens mehr als Erziehungshilfe habe ich Pinocchio erlebt, wenn ich bei Lügen ertappt wurde :).

Das Buch erhält von mir neun von zehn Punkten.

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Nicht der schöne Anzug macht den feinen Herrn,,
 sondern vielmehr der reinliche Anzug.
(Carlo Collodi)

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Montag, 29. Juni 2015

Haruki Murakami / Naokos Lächeln (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

So, nun bin ich mit Murakami durch. Das Buch bekommt von mir nur fünf von zehn Punkten. Ursprünglich waren es sechs. Das Ende ergab einen weiteren Punktabzug.

Naokos Lächeln ist das schlechteste Buch, das ich von Murakami bisher gelesen habe. Außerdem finde ich, dass der Autor in dem Buch ziemlich stark sexualisiert. Das wirkt auf mich recht unnatürlich, wie offen die Figuren über ihr Sexualleben reden, fast schon pornografisch, vor allem die weiblichen Figuren gegenüber männlichen Kommunikationspartnern. Sexualität sollte meiner Meinung nach auch immer ein wenig geheimnisvoll bleiben, und man dieses Geheimnisvolle nicht mit Dritten teilt …
 … Der Mensch verliert in diesem Buch sämtliche Intimitäten und Diskretionen. Das finde ich widernatürlich.

Nur ein einziges Beispiel möchte ich hier einfügen; erotische Fantasien zur Belustigung:
Der Tamponzwischenfall: Vor etwa einem Monat waren wir mit fünf oder sechs Freunden verabredet, und ich erzählte ihnen die Geschichte von einer Nachbarin, der bei einem heftigen Nieser der Tampon rausgeflutscht ist ...
Aus meiner Sicht sind das typische Männerfantasien …

Ich finde die Figuren alle recht flach und der Protagonist namens Toru Watanabe ist ein so braver 19/20jähriger Student, der alles brav tut, was von ihm verlangt wird. Er befriedigt sogar sexuell bedürftige Frauen …

Da das Buch die späten sechziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts behandelt, denke ich, dass Murakami vielleicht die Absicht hatte, die Sexualität als Tabubruch zu behandeln.

Die Leitgedanken aus dieser Zeit waren z.B. sexuelle Freiheit, antiautoritäre Erziehung und Bildung für alle.

Murakami spezialisiert sich allerdings auf die erotischen Nummern. Die Universitäten in dem Buch werden zwar auch bestreikt, aber es kommt nicht deutlich rüber, was der Streikanlass ist und für welche Ideale gekämpft wird. Das war auch vom Autor beabsichtigt, denn Toru Watanabe stand den Streiks wegen der mangelnden Transparenz skeptisch gegenüber. Er stellte sich die Frage, ob er zu den Konterrevolutionären zählen würde …
Diesen Band mit Kafka, Stephen King … zu vergleichen, siehe Tagesspiegel im Cover, finde ich zu weit gegriffen.

Die Rezensentin Andrea Köhler hat in der Neuen Züricher Zeitung Murakamis Buch folgendermaßen kritisiert:
Eigentlich gebe es bei diesem, mit seiner Geschichte um  erste sexuelle Erfahrungen des melancholisch gewordenen 37- jährigen Toru aufs Pornografische schielenden Autor nur einen einzigen Skandal: „seine ganz und gar unerotische Sprache“. Aber auch mit seiner Fantasie ist es offensichtlich nicht weit her: Köhler macht jede Menge „Klischees des Playboy-Designs aus“, erkennt in dem Roman kaum mehr als eine Mischung aus „Sexualhandbuch und Dr. Sommers Sprechstunde“.

Mit diesem Zitat beende ich nun meine Aufzeichnungen zu diesem Werk.

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Nur Tote bleiben für immer siebzehn.
(Haruki Murakami)

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Dienstag, 23. Juni 2015

Haruki Murakami / Naokos Lächeln


Klappentext
Tokio in den späten 60er Jahren: Während sich auf der ganzen Welt die Studenten versammeln, um das Establishment zu stürzen, gerät auch das private Leben von Toru Watanabe in Aufruhr. Mit seiner ersten Liebe Naoko verbindet ihn eine innige Seelenverwandtschaft, doch ihre Beziehung ist belastet durch den tragischen Selbstmord ihres gemeinsamen Freundes Kizuki. Als die temperamentvolle Midori in sein Leben tritt, die all das ist, was Naoko nicht sein kann, muss Watanabe sich zwischen Vergangenheit und Zukunft entscheiden …


Autorenporträt
Haruki Murakami, geboren 1949 in Kyoto, studierte Theaterwissenschaften und Drehbuchschreiben in Tokio. 1974 gründete er den Jazzclub „Peter Cat“, den er bis 1982 leitete. In den 80er Jahren war Murakami dauerhaft in Europa ansässig (u. a. in Frankreich, Italien und Griechenland), 1991 ging er in die USA, ehe er 1995 nach Japan zurückkehrte. Murakami ist der international gefeierte und mit den höchsten japanischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Roman "Gefährliche Geliebte" entzweite das Literarische Quartett, mit "Mister Aufziehvogel" schrieb er das Kultbuch seiner Generation. Ferner hat er die Werke von Raymond Chandler, John Irving, Truman Capote und Raymond Carver ins Japanische übersetzt.
Nun hatte ich mal wieder Lust auf einen Murakami ...

Gelesen habe ich von ihm:
1. Die unheimliche Bibliothek                                            
2. IQ84  BD 1
3. IQ84  BD 2
4. IQ84  BD 3                                                          
5. Kafka am Strand
6. Schlaf
7. Südlich der Grenze, westlich der Sonne 
IQ84 und Kafka am Strand haben mir am besten gefallen.

Für Kafka am Strand  benötigt man allerdings ein starkes Nervenkostüm, aber den Inhalt wird man so schnell nicht mehr vergessen. Hat schon etwas Kafkeskes.

Es gibt aber auch ein Buch, das ich abbrechen musste. Tanz mit dem Schafsmann. Dieser Band war mir zu monologisch ...





Montag, 22. Juni 2015

Jurek Becker / Bronsteins Kinder (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Endlich mal wieder eine Lektüre, die man als gehobene bezeichnen kann.

Das Buch hat nicht nur Tiefe, es hat auch eine Seele. Man spürt ganz deutlich den Autor hinter der Geschichte, jemand, der weiß, wovon er schreibt. Er hat es nicht nötig, mit reihenweise grausamen Gewaltakten der Nazis seine Seiten zu füllen ...
Bücher, die auf mich seelenlos wirken, empfinde ich als sehr kalt …

In diesem Buch geht es auch um Gewalt, aber es ist nicht die Gewalt, von der viele schreiben, wie zum Beispiel eine Aneinanderreihung verschiedenster NZ-Gewalttaten. Nein, mit dieser Form von Gewalt wird man hier verschont, und trotzdem erlebte ich das Buch als recht authentisch in seiner nationalsozialistischen-Thematik.

Zum Schluss hin wurde ich ein wenig hektisch, weil ich die Befürchtung hatte, dass die im Buch beschriebene Problematik mit einem offenen Ende ungelöst bleiben würde …

Der Protagonist und Icherzähler ist der achtzehnjährige Abiturient Hans Bronstein, der mit seinem Vater permanent im Clinch steht. Die Handlung wird von Hans aus zwei Perspektiven erzählt. Aus der Zeit bis 1972 und von 1973. In der Zeit bis 1972 lebte der Vater noch und 1973 war der Vater tot. Diese Erzählperspektiven wechseln sich in den Abläufen ab.

Mir war Hans Bronstein nicht wirklich sympathisch. Während sein Vater und seine um 19Jahre ältere Schwester Elle mit der Nazi-Vergangenheit zu kämpfen haben, lässt dies Hans völlig kalt. Nicht, dass er in einen Loyalitätskonflikt hineingeraten ist, nein, ich hatte von Anfang an schon den Eindruck, dass er sich auf die Seite des ehemaligen Nazi-Wärters gestellt hat, weil er nicht reif genug war, die erlittenen Qualen seiner jüdischen Familienmitglieder realistisch einzuschätzen. Die Handlung spielt sich in der ehemaligen DDR ab. In dem Deutschland, in dem, aus der Sicht des Vaters, minderwertigere Menschen leben würden.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
Hans Bronstein ist achtzehn Jahre alt und will vom Schicksal seines Vaters, als Juden und ehemaligen KZ-Häftlings, nichts wissen. Doch dann entdeckte er, dass dieser im Waldhaus der Familie einen einstigen KZ-Aufseher gefangen hält, um ihn zu foltern und zum Geständnis seiner Untaten zu zwingen. Jetzt kann Hans seine Augen vor dem Trauma seines Vaters nicht mehr verschließen. (...)Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung um Schuld und Sühne, um Vergebung und Selbstjustiz. Hans kann das Verhalten seines Vaters nicht billigen und entschließt sich, den Gefangenen freizulassen. Doch als er in der Waldhütte ankommt, wartet eine schreckliche Überraschung auf ihn. 
Hans ist ein Kind aus der Nachkriegszeit, lt. meiner Berechnung  müsste er Jahrgang 1955 sein. Seine Schwester namens Elle, Jahrgang 1936, könnte seine Mutter sein, dermaßen groß ist der Altersunterschied zwischen den beiden Geschwistern. Elle wurde im Nationalsozialismus vom Vater zum Schutz vor den Nationalsozialisten einem deutschen Bauer übergeben. Der Vater musste eine hohe Gebühr an den Bauern entrichten, und als der Nationalsozialismus vorbei war, und Bronstein aus dem Lager wieder befreit wurde, holte er seine Tochter nach sieben Jahren wieder zurück. Vorher fehlten ihm die Mittel. Der Bauer, der das Mädchen schwer misshandelt hatte, verlangte eine weitere Gebühr, die so hoch war, dass Bronstein sich das Geld woanders hat borgen müssen. Es brauchte viel Zeit, bis er zu dem Geld kam ... Elle wurde durch den deutschen Bauer so schwer malträtiert, dass sie davon einen schweren, irreparablen psychischen Schaden davontrug. Elle war nicht mehr gesellschaftsfähig, und entwickelte schwerste Formen von Aggressionen, die sie an Menschen richtete, hauptsächlich zu Menschen, die sie an die Nazis erinnern ließen. Elle kam in ein psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie lebenslang untergebracht blieb.

Bronstein und seine Frau trauerten um die heißgeliebte Tochter, und als sie sahen, dass Elle von ihrem Trauma nicht mehr genesen konnte, entschieden sie sich nach vielen Jahren ein weiteres Kind zu bekommen und hofften dadurch, Elle ersetzen zu können. Mutter Bronstein starb kurz nach Hans´ Geburt an einer schweren Krankheit ...

Hans erlebt durch Zufall, dass sein Vater mit zwei anderen Männern einen ehemaligen KZ-Wärter gekidnappt hat und ihn mit schweren körperlichen Übergriffen drangsalierten, bis dieser sich zu dem Geständnis bereiterklärt hatte, die Juden früher misshandelt zu haben. Die Form der Gewaltverbrechen werden nur angedeutet beschrieben.

Hans ist empört, zeigt kaum Verständnis und geht völlig rational an das Problem heran und stellt sich folgende Frage: 
Aber war zwischen Tat und Gegentat nicht so viel Zeit vergangen, dass ein Affekt als mildernder Umstand nicht mehr infrage kam? Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen?
Man stellt sich als Leserin selbst auch die Frage: Lässt sich ein Trauma wie sie die Juden im Nationalsozialismus erlitten haben, heilen? Ist Aussöhnung möglich? Zumindest brauchen die Opfer sehr viel psychologische Unterstützung, die Hans´ Vater, seine Schwester und viele andere in dieser Lage einfach nicht hatten. Sie wurden zwar materiell entschädigt, psychologisch betrachtet blieben sie mit den erlittenen Qualen allein …

Hans` Vater versucht immer wieder mit seinem Sohn über diese Zeit zu reden, allerdings ohne sichtbaren Erfolg. Zwischen den beiden kommt es zu großen Konflikten. Hans´ Sichtweise:
>>Und wenn ihr hundertmal findet, dass die Leute und die Gerichte und das Land einen Dreck wert sind: woher nehmt ihr das Recht, euch wie die Fürsten über alles zu stellen.(…) Gibt es nicht jedes Mal Unglück, wenn Leute sich Rechte herausnehmen, die ihnen nicht zustehen? (…) Wenn ihr euch zu Richtern dieses Mannes aufspielt, (…) dann verletzt ihr nicht nur Gesetze …<<
Man kann nun wirklich nicht sagen, dass die Kidnapper sich wie Fürsten verhielten. Vater Bronstein litt selber an seiner grausamen Tat.

Hans schleicht sich in das Gartenhaus des Vaters, nahe am Waldrand, in dem er den ehemaligen KZ-Aufseher mit Handschellen und mit Fußfesseln auf dem Bett angekettet vorfindet. Er kommt mit einem Zweitschlüssel rein, und die drei Kidnapper zeigen sich verwundert über Hans´ Erscheinen. Hans sollte über diese Handlung nicht unterrichtet werden. Ursprünglich wollte Hans dieses Haus aufsuchen, um sich mit seiner Freundin Martha darin zurückzuziehen. Er ist entsetzt über die Erscheinung des Häftlings. Hans verriet nicht, dass er über einen Zweitschlüssel verfügte, obwohl der Vater es ahnte, wollte ihn aber vor den Freunden nicht bloßstellen. Hans verlässt das Haus und beschließt, den Häftling erneut aufzusuchen, wenn die drei Kidnapper das Haus wieder verlassen hatten: 
Auf einmal empörte es mich, wie grob sie ihn angekettet hatten: wie eine Bestie, der man keinen Zentimeter Spielraum lassen darf. Mir leuchtete zwar ein, dass es nicht genügte, das Häuschen zuzuschließen, es war nun einmal nicht ausbruchsicher; doch warum hatten sie ihn nicht so angebunden, dass er wie ein Mensch sitzen und sich drehen zu lassen und das Notwendigste tun konnte? Es kam mir vor, als hätten sie sich eine unnötige Grausamkeit zuschulden kommen lassen.
Nicht nur mich als Leserin stimmte Hans´ scheinbare Neutralität ein wenig stutzig. Scheinbare Neutralität. Auf dem zweiten Blick hegt Hans mehr Mitleid mit dem Häftling als mit seinem Vater. Die Reaktion des Vaters:
>>Warum bist du so gleichgültig? (…) Warum macht es dich nicht böse, wenn du an ihre Opfer denkst? Ich meine nicht nur die Toten, ich meine auch Leute wie mich und Elle. Ein bisschen mehr Aufgeregtheit bitte. (…) Weißt du denn nicht, auf welche Weise Elle zu ihrer Krankheit gekommen ist?<<.
Hans besucht seine Schwester regelmäßig in der Klinik und vertraut ihr immer wieder Vaters radikales Vorgehen gegenüber dem ehemaligen KZ-Aufseher an, weil Elle angeblich so verständig … sei. Elle hört zu, äußert sich diesbezüglich aber erst nach vielen weiteren Besuchen in einem Brief:
Wie kommst du darauf, dass ich so verständig bin und hilfsbereit und scharfsinnig und gewitzt? das alles bin ich Nicht, da kannst du jeden fragen …Niemand verlangt von dir
dass du ihm hilfst unserem Vater im Gegenteil, er hat es bei seiner Erledigung
auch ohne deine Hilfe schwer genug (…).
Der Brief zeigt, wie wenig Einfühlvermögen auch gegenüber der Schwester Hans besitzt. Völlige Fehleinschätzung ihres  Charakters beobachte ich auch dem Vater gegenüber.

Nun bekommt Hans die Meinung auch von seiner Freundin Martha zu hören, denn auch sie beobachtet Hans´ übertriebene Neutralität zu der erlittenen Nazivergangenheit. 
>>Ich weiß seit Langem, dass man über ein bestimmtes Thema mit dir nicht reden kann. (…) Kaum fängt ein Wort mit Jud an, bricht bei dir der Schweiß aus. Die wirklichen Opfer wollen andauernd Gedenktag feiern und Mahnwachen aufstellen, und du willst, dass geschwiegen wird. Du bildest dir vielleicht ein, das wäre das Gegenteil, aber ich sage dir: es handelt sich um dieselbe Befangenheit. Woher kommt die? Ich kenne deinen Vater nicht gut genug, aber ich kenne die anderen Einflüsse, denen du ausgesetzt bist: sind Sie so schlapp? Und hast du mir nicht immer erzählt, er hätte wunderbar unversehrt das Lager überstanden?<<
Hans zeigte daraufhin noch immer geringfügiges Verständnis:
Musste man diesen Dreck bejubeln, nur weil die Eltern im Lager gewesen sind?
Bejubeln wohl nicht aber Mitgefühl zeigen ist das Mindeste, was man für diese Opfer tun kann. 

Mein Fazit:

Rational betrachtet hat Hans natürlich recht, wo kämen wir hin, wenn jeder zur Selbstjustiz greifen würde? Aber das macht nicht jeder ... Natürlich hat Hans auch in dem Punkt recht, dass der Häftling ein Mensch ist ...
 Empathisch betrachtet haben allerdings aus meiner Sicht Vater und Elle recht. So ein Grauen lässt sich nicht einfach aussöhnen und ich finde es verständnislos, wenn sich ein Mensch nicht mal die Mühe macht, Geschichte auch aus der Sicht Betroffener zu begreifen. Wenn wir alles mit dem Sachverstand lösen könnten ... das gerade hat uns die Geschichte aber gezeigt, wohin dies führt. Waren es nicht die Juristen, die Ärzte, Chemiker und andere hochgebildete Leute, die über Leben und Tod der Juden damals entschieden? Deren Sachverstand sprach ganz klar für die Ausrottung der Juden … Und sie waren davon überzeugt; zig selbstentworfene  Theorien machten sie in ihrem mörderischen Tun so selbstsicher; sie wussten ihre vernichtende Tat logisch zu begründen ... So viel zum Sachverstand … Ein Gemisch zwischen Vernunft und Empathie wäre in der Zwischenmenschlichkeit wohl eher angebracht …

Fehlende Empathie kann zur Unmenschlichkeit führen. Es gibt viele Menschen, die versuchen, allein mit der Rationalität über Recht und Unrecht ihrer Mitmenschen zu urteilen. Und dies nicht nur in einer schweren
historischen Zeit des Nationalsozialismus´.

Dieses Werk ist recht  facettenreich und macht die Qualität einer guten literarischen Arbeit aus. Ich habe zwar viel geschrieben, aber nicht alles Wichtige verraten. Es gibt noch viel zu entdecken.

Das Buch erhält von mir wegen der Brisanz dieser sensiblen Thematik, wegen der authentischen Darstellung des Inhalts und der Figuren zehn von zehn Punkten.
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Ein Gedicht in einer Übersetzung zu lesen, ist, als küsste man eine Frau durch einen Schleier.

Wenn du ein Buch in der Hand hältst, bist du ein Pilger an den Toren einer neuen Stadt.
(Anne Michaels)

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Samstag, 20. Juni 2015

Jurek Becker / Bronsteins Kinder


Klappentext
Hans Bronstein ist achtzehn Jahre alt und will vom Schicksal seines Vaters, als Juden und ehemaligen KZ-Häftlings, nichts wissen. Doch dann entdeckte er, dass dieser im Waldhaus der Familie einen einstigen KZ-Aufseher gefangen hält, um ihn zu foltern und zum Geständnis seiner Untaten zu zwingen. Jetzt kann Hans seine Augen vor dem Trauma seines Vater nicht mehr verschließen. Der Sohn fragt sich, "ob einer, der mit dreißig geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen" darf. Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung um Schuld und Sühne, um Vergebung und Selbstjustiz. Hans kann das Verhalten seines Vaters nicht billigen und entschließt sich, den Gefangenen freizulassen. Doch als er in der Waldhütte ankommt, wartet eine schreckliche Überraschung auf ihn. 


Autorenporträt
Jurek Becker wurde in Lodz als Sohn jüdischer Eltern geboren, möglicherweise nicht am 30. September 1937, seinem "offiziellen" Geburtsdatum, sondern etwas später. Sein Vater Mieczyslaw (Max) Becker (1900 – 1972) war Prokurist in einer Textilfabrik. Seine Mutter Anette (geborene Lewin) arbeitete als Näherin.
Vier Wochen vor Jureks zweitem Geburtstag überfielen die Deutschen Polen. Die nächsten sechs Jahre verbrachte er zuerst mit seinen Eltern im Ghetto von Lodz, dann mit seiner Mutter in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen.
1945 starb seine Mutter an Unterernährung. Sein Vater, der den Holocaust in Auschwitz überlebt hatte, fand ihn nach dem Krieg wieder und zog mit ihm nach Ostberlin.
Dort erlernte Jurek Becker die deutsche Sprache, machte 1955 das Abitur, leistete dann zwei Jahre lang freiwillig Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee ab, trat in die SED ein und studierte ab 1957 Philosophie, bis er die Humboldt-Universität 1960 aus politischen Gründen verlassen musste.
1961 heiratete Jurek Becker die Dekorateurin Erika Hüttig.
1962 stellte ihn die DEFA als Drehbuchautor ein. Sein Drehbuch "Jakob der Lügner" wurde 1968 abgelehnt. Daraufhin arbeitete er es zum Roman um("Jakob der Lügner") und machte sich damit 1969 einen Namen als Schriftsteller. Aufgrund des Erfolgs wurde das Buch zweimal verfilmt. Für die Verfilmung unter der Regie von Frank Beyer ("Jakob der Lügner") schrieb Jurek Becker selbst das Drehbuch. (Die zweite Verfilmung stammt von Peter Kassovitz ("Jakob der Lügner").
Für seinen zweiten Roman – "Irreführung der Behörden" – erhielt Jurek Becker den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen. Er wurde in den Vorstand des Schriftstellerverbands der DDR gewählt und 1975 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. 
Weil er aber 1976 mit elf anderen Autoren gemeinsam schriftlich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierte, schloss ihn die SED im November 1976 aus. Ein Jahr später verließ er den Schriftstellerverband aus Protest gegen den Auschluss seines Kollegen Reiner Kunze. Daraufhin wurden seine Bücher in der DDR nicht mehr gedruckt.
Seine Ehe wurde 1977 geschieden.
Von 1978 an lebte Jurek Becker mit einem zunächst auf zwei Jahre, dann bis 1989 befristeten Visum in Westberlin.
1983 heiratete er die zweiundzwanzigjährige Verlegerstochter Christine Niemeyer aus Tübingen.
Drei Jahre später erschien sein Roman "Bronsteins Kinder". Und er schrieb das Drehbuch für die Fernsehserie "Liebling Kreuzberg", für die er 1987 zusammen mit Heinz Schirk und seinem langjährigen Freund Manfred Krug den Adolf-Grimme-Preis in Gold bekam.
Aus seiner ersten Ehe hatte Jurek Becker zwei Söhne. 1990 gebar Christine Becker seinen dritten Sohn.
Im Winter 1995/96 wurde bei Jurek Becker Darmkrebs diagnostiziert. Er starb daran am 14. März 1997 in seinem Landhaus in Sieseby (Schleswig Holstein).rs

Der Autor war mir bis dato unbekannt und lt. des Autorenporträts hatte er ein recht bewegtes Leben.

Ich habe die ersten hundert Seiten schon durch. Erneut ein Buch, das sich mit der Nachkriegsgeschichte des Nationalsozialismus befasst. Allerdings mit neuen Ideen, die mich sehr ansprechen. Bis jetzt liest sich das Buch recht spannend, aber ich muss langsam lesen, da der Stoff, den der Autor hier behandelt, recht hart auf mich wirkt.

Ich bin neugierig auf das weitere Prozedere ...




Freitag, 19. Juni 2015

Ann Patchett / Familienangelegenheiten (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Dieses Werk habe ich seit gestern Abend durch und bin mit meiner Meinung ein wenig ungehalten, denn man kann das Buch hochloben, man kann es aber auch zerreißen.

Ich habe mich für das Hochloben entschieden, weil das Buch mit viel Menschenliebe geschrieben wurde, weshalb es von mir acht von zehn Punkten erhält.

Nach dem ich mit dem Lesestoff durch war, war ich allein vom Lesen schon gesättigt, sodass ich mir eine ausführliche Buchbesprechung diesmal sparen werde.

Die unterschiedlichen Familien, die über einen Unfall zusammenkommen, finde ich recht interessant, weiß nur nicht, wie realistisch die Handlung tatsächlich ist.

Dennoch kann ich das Buch weiterempfehlen …

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Ein Gedicht in einer Übersetzung zu lesen, ist, als küsste man eine Frau durch einen Schleier.

Wenn du ein Buch in der Hand hältst, bist du ein Pilger an den Toren einer neuen Stadt.
(Anne Michaels)

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Dienstag, 16. Juni 2015

Ann Patchett / Familienangelegenheiten

Klappentext
Ann Patchett legt ein neues zeitloses Buch vor, das von Elternschaft, Liebe und der eigenen Zugehörigkeit erzählt. »Familienangelegenheiten« spielt im Herzen von Boston und ist die Geschichte der irischstämmigen Doyles: Für Theodore und Tip ist nach dem Tod ihrer Adoptivmutter Bernadette eine Marienstatue, die ihr so sehr ähnelt, der einzige Trost. Doch ihre Trauer lässt sie nie darüber nachdenken, wer ihre leibliche Mut ter ist. Erst als die beiden viele Jahre später in einen Unfall verwickelt werden, bei dem sich eine Frau lebensgefährlich verletzt, beginnen sie über Bernadettes Tod nachzudenken und ihre eigene Herkunft. »Eine wunderbare, wahrhaftige Geschichte, wie sie nur eine klassische amerikanische Erzählerin schreiben kann.« Andrew O Hagan, Pub lishers Weekly 

Autorenporträt
Ann Patchett, 1963 in Los Angeles geboren, lebt als Schriftstellerin und Kritikerin in Nashville/Tennessee. Der vorliegende Roman ist das Debüt der Autorin.
Ich habe 170 Seiten schon gelesen und es gefällt mir recht gut. Hoffe, dass ich das in hundert Seiten auch noch sagen kann.




Montag, 15. Juni 2015

Anne Michaels / Fluchtstücke (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich als sehr sprachgewandt erlebt und war anfangs von den vielen Symbolen im Text recht angetan. Doch leider flachte es nach ca. zweihundert Seiten zunehmend ab. Ich konnte mit den Figuren partout nicht warm werden und wusste nicht, woran das liegen könnte. Auf mich wirkte der Stoff, den die Autorin hier behandelt, recht kühl, manchmal sogar kalt und ich merkte deutlich, dass die Autorin den Nationalsozialismus selbst nicht miterlebt hat, aber so manches darüber gelesen haben muss. Außerdem schreibt sie recht kopflastig und emotionsarm. Bietet wenig psychische Reibungsfläche, zu harmonisch wurden die verschiedenen problembehafteten Ereignisse miteinander verwoben, weshalb ich mich schließlich durch die Seiten schleppte. Ich fing an mich zu langweilen. In den naturwissenschaftlichen Fächern wie z.B. der Botanik, Geologie … arbeitete die Autorin viel zu detailliert, die Details benötigte sie wahrscheinlich, um viele, viele ihrer Seiten damit füllen zu können, während es ihr nach meinem Empfinden nicht gelang, über die facettenreiche Psyche eines Menschen, der den Nationalsozialismus erlebt hat, zu schreiben … Ich hatte das Buch schon auf Facebook zu früh hochgelobt, so wurde ich anfangs wohl zu sehr von der wunderbaren literarischen Sprache geblendet …
Der kleine Jakob wird Zeuge, als die Nazis 1942 seine gesamte Familie umgebracht haben. Er selbst konnte fliehen. Im Wald wird er von einem griechischen Archäologen gefunden, der das Kind zu sich nimmt. Er deportiert Jakob nach Griechenland. Und somit entpuppt sich der Archäologe zum Ziehvater des Jungen ...

Zu Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Der siebenjährige polnisch-jüdische Jakob wird Zeuge, wie seine Familie von deutschen Soldaten ermordet wird. Er flüchtet sich in die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt Biskupin. Dort entdeckt ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Jakob mit Athos, der ihn alles lehrt, was er weiß: Geografie, Geologie, Dichtkunst, Botanik, Archäologie. Langsam taucht Jakob aus seiner Verstörung auf und kehrt in die Welt zurück.
Dass der Junge durch sein traumatisches Erlebnis verstört gewesen sein soll, das kam meines Erachtens psychologisch gesehen zu wenig rüber. Stattdessen wird man von einer Kette reflektiver Gedanken genährt, die Jakob von sich gibt.

Ich habe trotzdem einige Zettelchen in meinem Buch kleben und schaue nun, was ich daraus machen werde …

In Griechenland, auf der Insel Zakynthos, findet Jakob zeitweise eine neue Heimat … Er lebt bei dem Archäologen namens Athos Roussos …

Oftmals gehen ihm schaurige Bilder über die Nazis durch den Kopf. Er nimmt bewusst wahr, dass er verglichen mit vielen seiner Landsleute einfach Glück hatte, und den Nazis entkommen konnte … 
Während ich mich in dem strahlenden Licht von Athos´ Insel versteckte, erstickten Tausende im Dunkeln. Während ich im Luxus eines Zimmers Unterschlupf fand, wurden Tausende in Backöfen, Abflusskanälen und Mülltonnen gestopft. In den Kriechverschlägen doppelter Zimmerdecken, in Hühner- und Schweineställen. Ein Junge in meinem Alter versteckte sich in einer Kiste; nach zehn Monaten war er blind und stumm, Arme und Beine waren verkümmert. Eine Frau stand anderthalb Jahre lang in einem Schrank, ohne sich jemals setzen zu können; das gestaute Blut ließ ihre Venen platzen. Während ich mit Athos auf Zakynthos lebte, Griechisch und Englisch lernte, Geologie, Geografie und Poesie, füllten Juden alle Winkel und Spalten Europas aus, jeden zugänglichen Raum. Sie vergruben sich in fremden Gräbern. Jeder Raum, der ihren Körper aufnahm, war ihnen recht, denn ihnen wurde in der Welt gar keinen Platz mehr zugestanden. 
Diese Bilder sind recht grausam, allerdings weiß ich nicht, wie realistisch sie medizinisch betrachtet tatsächlich sind. Wie kann sich ein Kind zehn Monate lang in einer Kiste verstecken? Der Junge müsste schon längst verhungert sein. Ebenso die Frau in dem Kleiderschrank, die anderthalb Jahre lang stehend darin zugebracht haben soll, bevor ihre Venen platzten …. Auch sie müsste längst verhungert sein. Kein Mensch hält das so lange körperlich in irgendeiner Art und Weise aus. Ist der Nationalsozialismus nicht schon grausam genug? Muss man unbedingt diese Bilder noch künstlich überspitzen? 

Die Grausamkeit der Nazis ist grenzenlos. Die Autorin beschreibt eine Krankenschwester, die versuchte unter ihrem Kleid einen Säugling zu schmuggeln, wurde von den Nazis erwischt, die ihr das Kind wegnahmen, es in die Luft schleuderten und es dabei abknallten, noch bevor das Kind auf den Boden fiel. Die Krankenschwester bekam eine Kugel in den Mund geschossen.
Einige andere Frauen waren schwanger, bekamen Wehen, in der Gaskammer, das Kind wurde nur zu Hälfte geboren, die andere Hälfte befand sich noch im Leib der Mutter, bis Kind und Mutter an dem Gas erstickten. Grausame Bilder. Das kann man sich nicht vorstellen.

Die Nazis hielten sich auch in Griechenland auf. Es wird eine Szene beschrieben, in der sie Oliven kauten, die Kerne ausspuckten, damit die kleinen, hungrigen Kinder diese abgelutschten Kerne auflasen, um das letzte Restchen abgenagter Olive vom Kern abzubeißen. Die Nazis hatten ihre Freude bei diesem Anblick …
Die Soldaten, die ihrer Pflicht nachkamen, als sie Müttern die abgetrennten Köpfe ihrer Töchter zurückgaben - mit den Zöpfen und Haarklemmen noch an ihrem Platz; hatten nichts Böses in ihren Zügen. 
Das sind von mir eine Aneinanderreihung von Gewaltszenen, die mit wenig Tiefe von der Autorin hingeschrieben wurden.

Natürlich findet eine Auseinandersetzung zwischen Jakob und den Nazis statt. Doch die Art und Weise, wie er damit umgeht, war mir zu wenig authentisch. Ein seelisches Trauma, das der kleine Jakob durch eine Vielzahl an erlittenen grausamen Erlebnissen und Verluste haben muss, spielt sich ganz anders ab. Ab und zu ein paar Albträume ist mir zu wenig.

Dass die Nazis die Juden entmenschlicht haben, sie wie Parasiten behandelten, das ist nichts Neues. Es gibt genug AutorInnen, die über das Thema schon geschrieben haben. Neue Literatur zur NS – Vergangenheit sollte auch neue Erkenntnisse bringen, sonst wüsste ich nicht, welchen Sinn dieses Buch haben könnte. Angelesenes zu reproduzieren finde ich recht langweilig und monoton.

Nichtsdestotrotz bekommt die Autorin von mir sechs von zehn Punkten, weil mir der literarische Schreibstil nach wie vor sehr gut gefallen hat.
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Ein Gedicht in einer Übersetzung zu lesen, ist, als küsste man eine Frau durch einen Schleier.

Wenn du ein Buch in der Hand hältst, bist du ein Pilger an den Toren einer neuen Stadt.
(Anne Michaels)

Gelesene Bücher 2015: 31
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Dienstag, 9. Juni 2015

Anne Michaels / Fluchtstücke

Klappentext
Der siebenjährige polnisch-jüdische Jakob wird Zeuge, wie seine Familie von deutschen Soldaten ermordet wird. Er flüchtet sich in die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt Biskupin. Dort entdeckt ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Jakob mit Athos, der ihn alles lehrt, was er weiß: Geographie, Geologie, Dichtkunst, Botanik, Archäologie. Langsam taucht Jakob aus seiner Verstörung auf und kehrt in die Welt zurück.


Autorenporträt
Anne Michaels wurde 1958 in Toronto geboren. Mit ihrem ersten Roman »Fluchtstücke« gelang ihr ein internationaler Bestseller, der in 30 Sprachen übersetzt wurde.
Die ersten einhundert Seiten habe ich durch, und ich bin über den Schreibstil mehr als erstaunt. Ich habe echte Literatur vor mir. Nicht nur das Thema ist brisant, nein, auch die Autorin selbst, der es gelungen ist, ihren Stoff mit einer hohen literarischen Hingabe zu verpacken. Jede Zeile ist so ausdrucksstark, voller Bilder, voller Metapher, reich an Wissen und Kreativität. Ich bin zuversichtlich, dass der Anspruch im weiteren Verlauf nicht abflachen wird, wie ich dies schon so oft bei anderen Büchern erlebt habe.

Ein Epos von Werk.






Montag, 8. Juni 2015

Malala Yousafzai / Ich bin Malala (1)

Lesen mit Anne ...

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch ist recht eindrucksvoll und inhaltsreich geschrieben. Auch steckt es voller Weisheit:

Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.

Es gibt wohl zwei verschiedene Buchausgaben. Einmal die Jugendbuchausgabe und einmal die Ausgabe für Erwachsene aus dem Droemer Verlag. Diese beiden unterschiedlichen Bände waren mir mit meinem oberflächlichen Blick erst gar nicht aufgefallen, bis ich auf Annes Buch gestoßen bin, das im Fischerverlag als KJB (Kinder- und Jugendbuch) erschienen ist. Mich wunderte erst, weshalb Anne so viel früher mit dem Lesen fertig war als ich, sodass ich, neugierig wie ich war, beide Inhaltsverzeichnisse miteinander vergleichen musste und ich dadurch festgestellt habe, dass meine Ausgabe über einige Seiten mehr verfügte und in der Jugendbuchausgabe einige Kapitel fehlten. Und sehr wahrscheinlich war der Schreibstil in der Jugendbuchausgabe noch kindgerecht angepasst. Im Nachhinein leuchtet mir das ein, denn viele Begebenheiten, die in meinem Buch beschrieben worden sind, sind alles andere als jungendtauglich. Ich empfehle diesen Band erst ab sechzehn Jahren, wobei man es dem Buch anmerkt, dass Malala nicht alleine an dem Buch gearbeitet hat. Sicher waren noch mehrere Erwachsene am Werk.

Viele Szenen stimmten mich recht nachdenklich, einige erwiesen sich mir als starker Tobak, tatsächlich nicht für Kinder geeignet. Andererseits erleben Kinder in vielen Ländern Kriege, und niemand fragt, ob Kriege jugendtauglich sind.

Beim Frühstück legte ich meinen Brüdern nahe, fortan von Frieden zu sprechen statt vom Krieg. Wie immer hörten sie nicht auf mich und spielten weiter Krieg. Khushal hatte einen Spielzeughubschrauber und Atal eine Pistole aus Pappe, der eine rief >>Feuer!<< Und der andere >>Stellung beziehen!<<

Ich konnte nicht über die Seiten rasen. Ich konnte nur langsam lesen und langsam verdauen.

Viele Zettelchen liegen wieder zwischen den Seiten
 und ich leider nicht alle bearbeiten kann. Das gäbe ein zweites Buch J.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:

Das Mädchen, das die Taliban erschießen wollten, weil es für das Recht auf Bildung kämpft,
am 9. Oktober 2012 wird die junge Pakistanerin Malala Yousafzai auf ihrem Schulweg überfallen und niedergeschossen. Die Fünfzehnjährige hatte sich den Taliban widersetzt, die Mädchen verbieten, zur Schule zu gehen. Wie durch ein Wunder kommt Malala mit dem Leben davon. Als im Herbst 2013 ihr Buch "Ich bin Malala" erscheint, ist die Resonanz enorm: Weltweit wird über ihr Schicksal berichtet. Im Juli 2013 hält sie eine beeindruckende Rede vor den Vereinten Nationen. Barack Obama empfängt sie im Weißen Haus, und im Dezember erhält sie den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, verliehen vom Europäischen Parlament. Malala Yousafzai lebt heute mit ihrer Familie in England, wo sie wieder zur Schule geht. 

Erstaunlich, wie wichtig für Malala die Schule ist. Sehr reif für ihr Alter. Während man ihr von den Taliban in Pakistan den Schulbesuch verweigerte, wurde sie von ihren Brüdern beneidet, die auch lieber zu Hause bleiben würden. Vielen SchülerInnen ist gar nicht bewusst, wie gut sie es haben, noch dazu kostenlos die Schule besuchen zu dürfen ...

Auch mir war es in dem Alter nicht bewusst, eher selbstverständlich, 
da bei uns die Schulpflicht zählt.

Vieles, was die junge Autorin schreibt, kennt man ja schon aus der Presse. Aber lesen und es selbst erfahren sind weltweite Unterschiede. Außerdem differenziert die Presse oftmals nicht. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Menschen, die in solchen repressiven Ländern aufwachsen und dort leben, Achtung verdient haben. Die einen riskieren ihr Leben, wenn sie sich gegen das gesellschaftliche und politische System auflehnen, andere passen sich an, weil sie nicht den Mut und die Kraft haben, sich gegen das System aufzulehnen und dann gibt es wiederum andere, die für das System stimmen und sie Mitmenschen, die es nicht tun, brutalst aus der Gemeinschaft verstoßen. Die Letztgenannten verdienen natürlich keine Achtung, sondern eine hohe Gefängnisstrafe, deren mörderische Taten oftmals straflos begangen werden.

Wenn Mädchen verschwanden, dann nicht immer, weil sie verheiratet worden waren. Zum Beispiel die hübsche fünfzehnjährige Seema. Alle wussten, dass sie in einen Lehrer verliebt war. Manchmal kam er vorbei, und sie sah ihn unter ihren langen dunklen Wimpern hervor an, um die alle Mädchen sie beneideten. In unserer Gesellschaft bringt ein Mädchen, das mit einem Mann flirtet, Schande über die Familie. Aber für Männer ist es in Ordnung! Später sagte man uns, Seema habe sich umgebracht. Wir fanden heraus, dass ihre eigene Familie sie vergiftet hatte.

Nach diesem Zitat stellte sich mir die Frage; wie kann das möglich sein, das eigene Kind zu töten, und dass nur, weil die gesellschaftlichen Normen wichtiger sind? Das ist absurd, kann man kaum glauben, aber es ist Realität pur. Es geht hier um das Wohl des Kindes, das unter Schutz gestellt werden sollte …

Die Taliban, die den Koran so auslegen, wie es ihnen passt, schätze ich auch eher so ein, dass sie Frauen verachten, weil sie um ihre Macht fürchten.
Pakistan wird als ein schönes, naturreiches und gesellschaftlich als ein friedliebendes Land beschrieben, wären da nicht die Terroristen, die ihren Ursprung in Afghanistan haben, die mit fundamentalistischer Gewalt Menschen anderer Lebensweisen zu bekehren versuchen. Sie behandeln Frauen, als wäre es schon ein Verbrechen, als Frau geboren zu werden. Sie bedenken nicht, dass  sie ohne die Frauen gar nicht auf der Welt wären ...

Die Taliban sind gegen Bildung, weil sie glauben, ein Kind, das Bücher liest oder Englisch lernt oder sich mit Naturwissenschaften auseinandersetzt, würde verwestlicht werden. Ich hielt dagegen: >>Bildung ist Bildung. Wir sollten alles lernen und dann selbst entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen.<< Bildung ist weder islamisch noch westlich, Bildung ist menschlich.

Malala und ihre Schulkameradinnen, die tagtäglich auf ihrem Schulweg befürchten mussten, von den Taliban ermordet zu werden, zeigt, wie früh sich diese Kinder mit Zerstörung und mörderischer Gewalt auseinandersetzen mussten. Wie menschliche Ängste sich weltweit relativieren lassen, zeigt nachfolgendes Zitat:

Die geheime Schule ist unser stiller Protest. (…) Wären wir erwischt worden, wären wir ausgepeitscht oder sogar abgeschlachtet worden wie unsere Schulkameradin Shabana. Manche Menschen haben Angst vor Gespenstern, andere vor Spinnen oder Schlangen - wir hatten in jenen Tagen Angst vor unseren Mitmenschen.

Kinder, die in Kriegsländern aufwachsen, nehmen die Kriege in ihren Spielen auf, um den Krieg verarbeiten zu können. Sie werden mit Leichen konfrontiert, mit öffentlicher Hinrichtung, u.v.m.. Diese Bilder prägen den Alltag auch kleiner Menschen:

Eines Tages sah ich meinen kleinen Bruder Atal wie wild in unserem Garten graben.
>>Was tust du da?<<, fragte ich ihn.
>>Ich schaufle ein Grab<<, antwortete er.
Unsere Zeitungen waren voll von Mord und Totschlag, und es war nur natürlich, dass Atal Särge und Gräber im Kopf hatte. Die Kinder spielten nicht mehr Verstecken oder >>Räuber und Gendarm<<, sondern >>Armee gegen Taliban<<. Aus den Zweigen der Bäume bauten sie ihre Raketen, und Stöcke waren ihre Kalaschnikows. Das waren ihre Terrorspiele.

In der westlichen Welt werden viele Kinder vor Gefahren in Übermaß geschützt, während Kindern, die gewalterfahren sind, regelrecht der Schutz fehlt.

Über diese grauenvollen Taten möchte ich mich allerdings nicht weiter auslassen, diese darf sich ruhig jeder selbst mit dem Lesen des Buches aneignen. Und dass Malala Opfer eines terroristischen Anschlags über die Taliban wurde, das ist weltweit bekannt und muss hier nicht nochmal darüber geschrieben werden. Außerdem wird der Anschlag schon im Klappentext erwähnt.

Malala war eine mutige Jugendliche. Sie war schon mit neun Jahren mit viel Wissen und Weisheit ausgestattet. Viele Erwachsene tragen nicht mal zur Hälfte dieses Wissen, das dieses Kind besitzt. Dank ihres Vaters, der seine Erstgeborene wertschätzend empfangen und erzogen hatte, und in seinem kleinen Mädchen schon von Geburt an einen wunderbaren Menschen sah, den er förderte …
Anders die Mutter. Sie freute sich nicht, als sie das Mädchen geboren hatte. Sie wünschte sich einen Sohn. Die zweite Geburt wurde schließlich ein Junge und die Mutter beabsichtigte, für ihren Sohn eine schöne Wiege bauen zu lassen, doch der Vater war dagegen, da für Malala auch keine schöne Wiege gebaut wurde ...
Um Missverständnissen entgegenzutreten: Malalas Mutter, die weder lesen noch schreiben konnte, war auch mit ihrer Kraft ein herausragender Mensch und sie vieles in der Gesellschaft zu bewegen wusste. Sie liebte ihre Tochter, auch wenn Malala erst ein Junge hätte werden sollen.

Als Malala geboren wurde, gab es kein  Fest, auch, weil die notwendigen
 Mittel dafür nicht aufgebracht werden konnten:

In unserer Tradition wird am siebten Lebenstag eines Kindes in der Familie ein Fest namens Woma gefeiert, (…) zu dem Verwandte, Freunde und Nachbarn das Neugeborene bewundern kommen. Meine Eltern hatten für mich keine solche Feier abgehalten, weil sie sich die Ziege und den Reis zur Verköstigung der Gäste nicht leisten konnten, und mein Großvater wollte nichts beisteuern, weil ich kein Junge war. Als meine Brüder dann auf die Welt kamen und mein Großvater die Feier bezahlen wollte, wies mein Vater ihn zurück, weil er es für mich nicht getan hatte.

Malalas Vater war auch ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Indem er Schulen gründete, sorgte er noch dafür, dass jedes Kind, arm oder reich, Mädchen oder Junge, zur Schule kommen konnte. Leider wurden viele Mädchenschulen in Pakistan von den Terroristen in die Luft gesprengt. Dass Malala den Anschlag überlebt hat, grenzt an ein großes Wunder. Viele Mädchen erlagen den Anschlägen ...

Und nun noch etwas zur Literatur:

Da mich immer neugierig macht, was AutorInnenen für Erfahrungen mit den Büchern anderer AutorInnen machen, gebe ich zum Schluss ein Leseerlebnis Malalas zu Paulo Coelho wieder. Malala zitiert aus Coelhos Buch Der Alchimist:

>>Wenn du etwas ganz fest willst, 
dann wird das Universum darauf hinwirken, dass du es erreichen kannst<<.

Dazu Malala:

Ich glaube, Paulo Coelho ist noch nie
 einem Taliban oder einem unserer unfähigen Politiker begegnet.


Meine Fazits

Auch wenn Anne und ich zwei unterschiedliche Ausgaben hatten, konnten wir uns telefonisch wunderbar austauschen. Es ist nun für mich gut zu wissen, dass es auch eine Jugendbuchausgabe gibt, die man einem jungen Menschen bei Gelegenheit schenken kann, ohne befürchten zu müssen, ihn damit seelisch zu überfordern ...

Spätestens nach diesem Buch müsste jedem klar geworden sein, dass nicht jeder Mensch aus dem islamischen Glauben ein Terrorist und nicht jeder traditionell oder rückständig ist. Es gibt viele verschiedene Gründe, weshalb sich eine muslimische Frau für das Tragen eines Kopftuchs entschieden hat. Viele sogar, um sich in der Männerwelt zu emanzipieren …

Da das Buch 2014 den Friedensnobelpreis erhalten hat, spare ich mir eine Punkteverteilung.

Zum Abschluss fallen mir zu Malalas Buch der Liedermacher Herbert Grönemeyer ein: Kinder an die Macht und das Jugendbuch von Erich Kästner Die Konferenz der Tiere.


Miras und Annes Sub-Liste

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Lange muss der Rohdiamant geschliffen werden, ehe aus ihm ein winziger Brillant wird.
(Malala Yousafzai)

Gelesene Bücher 2015: 30
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Mittwoch, 3. Juni 2015

Malala Yousafzai / Ich bin Malala

Lesen mit Anne ...

Und wieder sind vier Wochen vergangen, sodass Anne und ich am ersten Juni mit einem Buch, das wir gemeinsam lesen, begonnen haben. Diesmal war ich mit dem Aussuchen dran und wählte folgendes Buch, siehe unten:


Klappentext
Das Mädchen, das die Taliban erschießen wollten, weil es für das Recht auf Bildung kämpft
Am 9. Oktober 2012 wird die junge Pakistanerin Malala Yousafzai auf ihrem Schulweg überfallen und niedergeschossen. Die Fünfzehnjährige hatte sich den Taliban widersetzt, die Mädchen verbieten, zur Schule zu gehen. Wie durch ein Wunder kommt Malala mit dem Leben davon. Als im Herbst 2013 ihr Buch "Ich bin Malala" erscheint, ist die Resonanz enorm: Weltweit wird über ihr Schicksal berichtet. Im Juli 2013 hält sie eine beeindruckende Rede vor den Vereinten Nationen. Barack Obama empfängt sie im Weißen Haus, und im Dezember erhält sie den Sacharow-Preis für geistige Freiheit, verliehen vom Europäischen Parlament. Malala Yousafzai lebt heute mit ihrer Familie in England, wo sie wieder zur Schule geht. 

Autorenporträt
Malala Yousafzai, geboren 1997, wurde von klein auf von ihrem Vater Ziauddin gefördert und dazu ermutigt, sich für die Rechte von Mädchen einzusetzen. Ziauddin Yousafzai leitete selbst eine Schule im pakistanischen Swat-Tal – und missachtete damit das Verbot der Taliban. Malala lebt heute mit ihrer Familie in England, wo sie sich von ihren schweren Verletzungen erholt. Seit März 2013 geht sie in Birmingham wieder zur Schule. Im September 2013 wird sie mit dem Internationalen Friedenspreis für Kinder und dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit ausgezeichnet. Malala Yousafzai erhält den Friedensnobelpreis 2014. 
Habe sechzig Seiten gelesen und schon die ersten Seiten lesen sich mit vollem Interesse. Nun habe ich fünf Tage frei, so dass ich mich nun ganz auf das Buch ohne lange Unterbrechungen mich einlassen kann.

Miras und Annes SuB-Liste

Dienstag, 2. Juni 2015

Sandro Veronesi / Stilles Chaos (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch am Sonntagnachmittag beendet und bin gar nicht traurig drum. Es ist ein wenig langatmig gewesen und so hatte ich zwischendrin immer mal wieder ein paar Durststrecken zu überwinden. Das Buch ist nicht nur schlecht, es ist aber auch nicht nur gut gewesen. Nichtsdestotrotz, ein literarisches Epos wird  dieses Buch nie werden.

Der Schluss hat mir am besten gefallen. Mir fehlte in dem Buch ein wenig die Weisheit, gute Gedanken vermisste ich und so langweilte ich mich etwas über den stereotypen Alltag der Leute und deren Dialoge, die mir ein wenig zu flach vorkamen. Nun wurde ich am Ende etwas entschädigt.

Was mir gut an dem Buch gefallen hat, ist, man hat das Gefühl gehabt, in Italien zu sein. Habe ich sehr genossen, da ich Italien nur vom Urlaub her kenne und mir der Alltag dort recht fremd ist. Des Weiteren habe ich es genossen, dass die Italiener mal bunt dargestellt wurden. Blonde Haare, rote Haare, schwarze Haare, von allem war etwas dabei. Dann wurden die Italiener als sonnengebräunt dargestellt und nicht von Geburt an olivefarben, wie man dies reihum von deutschen Autoren her kennt, wenn sie versuchen, Italiener in ihrem Roman im Aussehen und in der Charakterisierung zu beschreiben. Sie stecken gerne alle Südländer in einen Topf.
Ich kaufe mir kein Buch mehr von einem Deutschen, der ein Roman über die Italiener schreibt. Das möchte ich nicht mehr.

Was mir nicht gefallen hat, ist, dass mir der Protagonist und Icherzähler Pietro Paladini, von Beruf Manager, zu sexistisch aufgetreten ist, nicht in Form eines Machos, nein, eher in Form der Darstellung seiner tiefsten, innersten sexuellen Erlebnisse, die mir nicht immer real erschienen sind. Zu voyeuristisch, und gleichzeitig zu aufgesetzt. Einfach zu dick aufgetragen. Es hat mich nicht interessiert, wann Pietros Penis in seinem Alltag steif wurde. So plump ist er mit diesen Begriffen umgegangen. Seine Erektion begann schon gleich zu Beginn der Geschichte, als er einer ertrinkenden Frau aus dem Meer zu retten versuchte ...
Das war nur ein kleines Beispiel, im Buch gibt es diesbezüglich noch mehr zu lesen.
Dazu waren mir viele Dialoge einfach zu flach, zu gewöhnlich und manchmal zu hypnotisch.

Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
Über den Mut, seiner inneren Stimme zu vertrauen. Dieser Roman ist dicht und tiefgründig, aber auch rasant und unterhaltsam. Die äußeren Umstände sind ansprechend – ein erfolgreicher Geschäftsmann aus Mailand und seine süße Tochter stehen im Mittelpunkt – die inneren Umstände allerdings sind tragisch: Pietro hat seine Freundin verloren, an dem Tag und möglicherweise in dem Moment, als er eine fremde Frau vor dem Ertrinken rettet. Als er mit seinem Bruder zurück zu ihrem gemeinsamen Ferienhaus kommt, steht dort der Krankenwagen, seine Freundin ist an einer Hirnblutung vor den Augen der gemeinsamen Tochter gestorben. Dass dies alles wenige Tage vor der Hochzeit des Paares geschieht, sorgt kurzfristig für tiefe Betroffenheit. Doch dann nimmt uns Sandro Veronesi, der Autor von „Stilles Chaos“, mit in die Großstadt und in den italienischen Alltag.
Was ich sehr außergewöhnlich fand, ist, dass Pietro drei Monate lang vor der Schule seiner Tochter Claudia den ganzen Tag auf sie bis Schulschluss gewartet hat, ohne zu merken, dass dieses Verhalten seiner Tochter auf Dauer nicht gut tun kann, da sie von ihren Mitschülern deswegen aufgezogen  wird. Pietro und Claudia hatten, wie im Klappentext schon hervorgeht, durch den Todesfall eine Trauer zu überwinden. Pietro hatte die Absicht, seiner Tochter diese innere Leere zu nehmen, die durch den Tod und durch das Fehlen der Mutter entstanden sein muss. Doch wie sie beide mit der Trauer umgehen, Vater und Kind, ist für die italienische Gesellschaft sehr befremdlich. Sowohl Claudia als auch Pietro hatten nach dem Todesfall keine Tränen vergossen und wirkten beide nicht traurig, obwohl der Schock vor allem bei dem Kind recht tief sitzt, wie sich dies am Ende des Buches herausstellte. Man kann die Liebe, die ein Kind für seine Mutter empfindet, nicht an der Anzahl vergossener Tränen messen. Diese scheinbare Emotionslosigkeit erschreckte viele Leute, und so macht der Buchtitel Stilles Chaos Sinn. Jeder meint zu wissen, wie Trauer ausgelebt werden sollte. Am besten sichtbar für alle. Und einige empfehlen dem Vater und der Tochter eine Trauertherapie oder eine langwierige Psychoanalyse. Pietros Schwägerin Martha zum Beispiel war so dreist, Vater und Kind vorzuwerfen, sie würden beide die verstorbene Mutter und deren Lebenspartnerin namens Lara nicht ausreichend geliebt haben …
Doch eigentlich war der Vater zu sehr mit sich selbst beschäftigt und die Tochter spürte dies und passte sich seinem Empfinden an …

Deutlich wurden auch die beruflichen Probleme im Managerbereich, die man auch von Deutschland her kennt. Pietros Firma sollte mit einer anderen Firma fusioniert werden. So schnell, wie man aufgestiegen ist, so schnell konnte man wieder fallen … Das Buch beschreibt viele Probleme, die typisch sind für die westliche Welt ...

Am Ende macht Pietro folgende Erkenntnis:
Es ist übrigens nicht wahr, dass Claudia nicht leidet: Ihre Mutter ist gestorben, und sie muss viele Dinge allein begreifen und mit sich selbst abmachen und mir sagen, was ich tun soll, und das ist Leiden. Und du hast recht gehabt, Martha, auch mir geht es schlecht. Seit Lara gestorben ist, habe ich mich vor dieser Schule niedergelassen und mich nicht mehr weg bewegt und die anderen mit ihrem Leid zu mir kommen lassen und mein Leben auf null zurückgefahren-und das ist offensichtlich meine Art zu leiden. Wenn ich nicht tiefer leide, wenn ich nicht völlig am Ende und verzweifelt bin, dann nur deshalb, weil ich ein oberflächlicher Mensch bin, und oberflächliche Menschen können keine tiefen Erfahrungen machen. (…) Da ich so oberflächlich bin, habe ich die Dinge vor Augen und sehe sie nicht. (…) Ich brauchte jemanden, der mir die Augen öffnete. Meine Tochter hat sie mir geöffnet. Das musste sie tun, aus Verzweiflung, denn so, wie ich war, war ich ein Problem. Sie musste mir die Dinge sagen, die ich allein nicht verstehen konnte. Papa, hat sie zu mir gesagt, du musst wieder arbeiten; und wenn du die Arbeit, die du hattest, verloren hast, hat sie zu mir gesagt, musst du eine andere finden. Du musst an unsere Zukunft denken, Papa. Du musst dich um Mamas Auto kümmern, du musst melden, dass es kein Nummernschild mehr hat, und es abholen lassen. (…) Du musst achtgeben, dass ich nicht schwitze und nass werde, wenn es kalt ist, du musst mich beschützen. 
Ich mache hier nun Schluss. Das Buch bietet noch jede Menge andere Themen, die jeder Leser sich selbst aneignen darf.

Ich habe gehört, dass es zu dem Buch eine Verfilmung gibt. Leider habe ich sie nicht finden können, aber ich könnte mir vorstellen, dass der Film besser als das Buch ist, da die Handlungen sich schauspielerisch gut umsetzen lassen.

Das Buch erhält von mir sechs von zehn Punkten.
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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

Gelesene Bücher 2015: 29
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86