Mittwoch, 6. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (1)



Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

ISBN-10: 3596512255
Das Buch fesselt mich von der ersten Seite bis zu hundertsten und es mir schwer fällt, eine Lesepause einzulegen. Aber es wird jetzt auch Zeit, ein paar Gedanken festzuhalten. Es sind so viele schöne Textstellen und ich mir jetzt viel Zeit nehmen möchte, diese hier aufzuschreiben. 

Kurz möchte ich nur sagen, dass ich den Protagonisten Kien, vierzig Jahre alt, total für interessant halte, aber es stellt sich sehr schnell heraus, dass er menschlich ein absoluter Versager ist. Interessant ist auch, dass sein Bruder Peter in Paris Gynokologe ist, dann aber zum Psychiater sich weiterfortbildete. Ich glaube, Kien benötigt einen Psychiater, *grins*. Aber nicht einen, der so weit weg ist, sondern am besten einen in seiner absoluten Nähe... . 

So, und nun zum Buch:

Schmunzeln musste ich schon auf der ersten Seite, als ich die Bekanntschaft eines neunjährigen Schuljungen namens Franz Metzger machen durfte, der, wenn er die Wahl hätte, sich lieber für das Buch als für die Schokolade entscheiden würde. Der Junge liest so viel, dass sein Vater ihm schließlich die Bücher verbot. Das habe ich auch in meiner Grundschulzeit erlebt. Man hat mir die Bücher weggenommen, weil ich zu viel las und ich mir dadurch die Augen verderben würde. (Meine Augen waren ja schon verdorben, bevor ich überhaupt lesen konnte, und Ich glaube, dass es manchen Eltern regelrecht erschreckt, wenn sie Bücherwürmer aufziehen, könnten ja gescheiter werden als sie selbst :D. )

Zurück zum Buch: 

Prof. Kien ist völlig begeistert von dem Jungen und lädt ihn bei sich zu Hause ein, um ihm ein paar Bildbände zu China und Indien zu zeigen, da der Junge große Begeisterung und Vorwissen zu diesen, und anderen Ländern zeigte. Der Junge nahm die Einladung des Professors sehr ernst und persönlich. Nun, was aus der Einladung allerdings geworden ist ... . Besser selbst nachlesen, eine Szene, die mich betroffen gemacht hat, wenn diese für mich auch nicht unerwartet kam.

Auf Seite 15 denkt Kien durch den Jungen an seine eigene Kindheit zurück, als er so süchtig nach Buchhandlungen und Bibliotheken wurde. Und mir gefiel dabei folgendes Zitat:

Ein Buchhändler ist ein König, ein König kein Buchhändler.
Kien verbascheut den Alltag anderer Menschen, er lebt völlig in seiner Bücherwelt, noch besser in seiner eigenen Bibliothek umgeben von zweihundertfünfzigtausend Büchern, in der er seinen wissenschaftlichen Forschungen nachgeht.  Kien  spricht als Sinologe, China und Japankenner, viele östliche Sprachen und doch ist er wie stumm. Er drückt sich lieber schriftlich aus, und belegt das schriftlich Ausgedrückte am liebsten noch mit vielen Zitaten.

Später erfährt man, dass Kien von Studenten gar nichts halten würde, und man müsse sie in den Prüfungen bis zum Alter von dreißig Jahren durchfallen lassen, um somit eine ausgiebige Selektion zu bewirken, denn


an mittelmäßigen Köpfen sei ohnehin kein Mangel. Vorlesungen, die er abhalten, könnten, da er an seine Hörer die höchsten Forderungen stellen müsste, nur auf wenig Zulauf rechnen. Bei Prüfungen käme voraussichtlich kein einziger Kandidat durch :D. Er würde seinen Ehrgeiz darin setzen, die jungen, unreifen Menschen so lange durchfallen zu lassen, bis ihr dreißigstes Jahr erreicht und sei es aus Langeweile, sei's aus beginnendem Ernst, einiges, wenn auch vorläufig nur weniges gelernt hätten. ( Oh, der Fachkräftemangel lässt rufen, Anm. der Verf.)... Schon die Aufnahme von Menschen, deren Gedächtnis man nicht sorgfältig geprüft habe, in die Hörsäle der Fakultät, käme ihm bedenklich und zumindest nutzlos vor. Zehn nach schwersten Vorprüfung ausgewählte Studenten würden, blieben sie unter sich, unzweifelhaft mehr leisten, als wenn sie sich unter hundert träger Biernaturen :D, die üblichen an den Universitäten, mischten.
Wenn Kien seinen täglichen Spaziergängen nachgeht, so führt er ständig ein Notizheft mit Bleistift mit sich, um sich die Dummheiten, die sich auf der Straße, außerhalb seiner Bibliothek, zutragen, zu notieren.


Es folgte die Begebenheit, welche wieder die Dummheit der Menschen illustrieren sollte. Ein angewandtes Zitat, immer ein neues, bildete den Beschluss. Die gesammelten Dummheiten las er nie; ein Blick auf das Titelblatt genügte. In späteren Jahren dachte er sie herauszugeben, als Spaziergänge eines >Sinologen< .
Interessant finde ich auch die Wohnstätte des Protagonisten. seine Wände sind alle mit Büchern tapeziert, und besitzt in den Wohnräumen außer seines alten Diwans und seinem Schreibtisch keine weiteren Möbelstücke, da er Möbelstücke als pure Verschwendung betrachtet, die den Büchern nur den Platz rauben würden.


Nirgends ein Tisch, ein Schrank, ein Ofen, der das bunte Einerlei der Regale unterbrochen hätte. Den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek, in der ihn kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsten Gedanken ablenkte.
Kien beschäftigt auch eine Haushälterin, die für ihn kocht und seine Bibliothek von dem Staub befreit. Mit ihrer Arbeit zeigte er sich sehr zufrieden, sprach aber nie seine Wertschätzung ihr gegenüber aus, er dachte sie nur im Stillen für sich. Wenn er seine Mahlzeiten auf seinem Schreibtisch zu sich nahm, wo er mit vielen Gedanken beschäftigt ist und von ihnen sich nicht zu trennen beabsichtigte, so war er gar nicht in der Lage zu beurteilen, ob ihm das Essen schmeckt, auch wusste er nicht, was er gerade für eine Mahlzeit zu sich nahm, denn,


das Bewusstsein bewahre man für mögliche Gedanken; sie nähren sich von ihm, sie brauchen es; ohne Bewusstsein sind sie nicht denkbar. Kauen und verdauen versteht sich von selbst.

Ich bin sehr angetan von diesem Zitat, weil es doch auch eine gewisse Wahrheit beinhaltet. und ich selbst finde es auch gut, wenn man auf solche Banalitäten nicht so viel an Bedeutung abgewinnt, allerdings nicht in dieser so scharfen Ernsthaftigkeit wie dies bei unserem Professor der Fall ist.

Viel Verständnis hat unser Krösus auch nicht für behinderte Menschen, dann wäre er von einer Behinderung betroffen, so würde er sich auf jeden Fall das Leben nehmen und dasselbe würde er auch diesen Menschen raten. 
Mich macht Kien recht neugierig, aber mit ihm zu tun möchte ich im realen Leben nicht wirklich.

er lebt sehr intensiv in seiner Bücherwelt, dass er quasi gar nicht mehr zu unterscheiden weiß, was Wirklichkeit und was Fiktion ist.


Plötzlich, er weiß nicht, wie ihm geschieht, verwandeln sich die Menschen in Bücher. Er schreit laut auf und stürzt besinnungslos in die Richtung des Feuers. Er rennt, keucht, beschimpft sich, springt hinein und sucht und wird von fliehenden Leibern gefressen. Die alte Angst ergreift ihn, Gottes Stimme befreit ihn, er entkommt und betrachtet vom gleichen Fleck das gleiche Schauspiel. Vier Mal lässt er sich zum Narren halten. Die Geschwindigkeiten der Geschehnisse nimmt von mal zu mal zu. Er weiß, dass er in Schweiß gebadet ist.
Diese Textstelle verdeutlicht nochmal, wie intensiv der Professor in seiner Welt lebt.

Seine Bedienstete interessiert sich eigentlich zu seinem Erstaunen auch für Literatur, und so leiht er ihr ein Buch, aber ein Buch, das er in der Jugendzeit schon gelesen und an vielen Klassenkameraden weiter verliehen hatte und dadurch reichlich abgenutzt ist. Die gute Haushaltsdame bekam nur aus dem Grunde dieses Buch ausgeliehen, weil sie viel zu dicke Finger habe und aus seiner Sicht recht ungebildet sei, so dass er ihr mit gutem Gewissen dieses abgenutzte Buch auszuleihen in der Lage ist, ohne zu befürchten, dass dem Buch noch mehr Schaden zugefügt werden könnte.
Romanen steht Kien eher abfällig gegenüber, da von ihnen kein Geist fett werden könne :D. 

Den letzten Satz, der Geist könne von Romanen nicht fett werden, finde ich so toll im Ausdruck ausgewählt, wenn ich die Meinung mit ihm allerdings auch nicht teile, obwohl ich selbst diese Erfahrung einst einmal machte, als ich ab dem Beginn meines Studiums die Romane alle ablegte und ich erst seit August 2010, wo mein Studium schon längst abgeschlossen war, wieder mit Romanen zu lesen begonnen habe. 

Auf der siebzigsten Seite macht unser Freund eine fragliche Entdeckung, was die Behandlung des abgegriffenen Buches durch die Haushaltsdame betrifft, die das Buch von dem vielen Schmutz zu reinigen versuchte und es in Schutzpapier kleidete, weil sie den Wert des Buches erkannte, was dem Professor in Erstaunen versetzte:


Sie sagte nicht > kostet < , sie sagte > Wert < hat. Sie meinte den inneren Wert, nicht den Preis. Und er hatte ihr immer vom Kapital vorgeschwärzt, das in seiner Bibliothek steckte. Diese Frau musste ihn verachten. Sie war eine großartige Seele. Da saß sie nächtelang über alten Flecken und plagte sich mit ihnen ab, statt zu schlafen. Er gab ihr sein lumpigstes, abgegriffenstes, schmierigste Buch, aus Gehässigkeit, sie nahm es in liebevolle Pflege. Sie hatte Erbarmen, nicht mit Menschen, da war es keine Kunst, sondern mit Büchern. Sie ließ die Schwachen und Betrübten zu sich kommen. Des letzten, verlassenen, verlorenen Wesens auf Gottes Erdboden nahm sie sich an.
 Mit diesem Zitat wird auch noch einmal deutlich, dass die Bücher für den Professor Menschen sind, einige davon lädiert, schwach, betrübt und verlassen... .

Durch diese Erkenntnis mit seiner Haushälterin gerät er ins Hadern, flüchtet somit zurück in seine Bibliothek und greift seinen Konfuzius an, den er duzt, er spricht wohl regelmäßig mit ihm, auch mit den anderen längst verstorbenen Autoren, während er mit den lebenden Menschen absolut auf Distanz steht:


"Ich glaube einige Bildung zu haben!" schrie er Konfuzius von fünf Schritt Entfernung an, "ich glaube auch einigen Takt zu haben. Man wollte mir einreden, dass Bildung und Takt zusammengehören, dass eines ohne das andere unmöglich ist. Wer mir das einreden wollte? Du!" Er scheute sich nicht, Konfuzius zu duzen. "Da kommt plötzlich ein Mensch ohne einen Funken von Bildung daher und hat mehr Takt, mehr Herz, mehr würde, mehr Menschlichkeit als ich und du und deine ganze Schule der Gelehrten zusammengenommen!"
Nun kommt es zu der großen Wende, und Kien nimmt seine Haushälterin zur Frau. Vor dem Altar war er recht hilflos, ich spare mir aber die Details und vor der ersten Nacht erst recht, indem er die Frau mit einer Muschel verglich, die durch ihre langen Kleider schwer an sie heranzukommen sei, wobei ich glaube, dass die erste Nacht gar nicht stattgefunden hat. Weitere, und zwar lustige aber gleichzeitig ernste Abläufe sind dem Buch zu entnehmen und so mache jetzt hier erst mal Schluss. Die zweite Buchbesprechung ist für morgen geplant... .
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 "Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)


UB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 40