Posts mit dem Label Proust und die Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Proust und die Literatur werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 9. September 2019

Prousts Lebenskrise

Weiter geht es mit den Proust-Briefen von Seite 271 – 280  

Auf den folgenden Seiten erfährt man, welche Erfahrung Proust als Übersetzer mit John Ruskin macht und dass er die Absicht hat, mit seiner Mutter Ende April 1900 nach Venedig zu reisen. Ich kann mich erinnern, dass es in der Recherche auch eine Szene gibt, in der der fiktive Marcel mit seiner Mutter nach Venedig gereist ist und dort mit einem italienischen Kellner eine peinliche Situation erlebt hat. Sicher eine reale Begebenheit, die Proust in seiner imaginären Autobiographie hat einfließen lassen.

Auch hat sich herausgestellt, welche Form von Asthma Proust erleidet. Er ist Pollenallergiker. Zitiert wird aus der Fußnote aus einem Brief von Marie Nordlinger.
Proust plante mit seiner Mutter die Abreise nach Venedig für das Ende des Monats April. (…) Dort auch der Hinweis darauf, dass ihm Florenz wegen seines Heuschnupfens und der Baumblüte untersagt bleibt. Proust blieb mit seiner Mutter ca. bis Ende Mai (1900) in Venedig. Im Oktober (…) brach er, diesmal ohne seine Mutter, zu einem zweiten, gut zweiwöchigen Venedig-Aufenthalt auf. (273)

Zu Venedig habe ich weiter unten noch Zitate eingefügt.

An Pol Neveux
Februar 1900, Proust ist hier 28,5 Jahre alt

Proust befindet sich von der Bibliothek Mazarine am Ende des fünften Beurlaubungsjahrs. Aufgrund seines labilen Gesundheitszustands erbittet Proust Nevoux um ein weiteres Beurlaubungsjahr.
Cher Monsieur, wie es scheint, ist das letzte (das fünfte) Jahr meiner Beurlaubung abgelaufen, und ich müsste nun wieder in der Mazarine antreten, was mir, leider Gottes, mein Gesundheitszustand nicht erlaubt. Muss ich also meine Entlassung ersuchen, oder gibt es einen anderen Ausweg, eine Verlängerung der Beurlaubung, einen Aufschub meines Dienstantritts, eine unbefristete Beurlaubung oder was auch immer? (271)

Ich bin über den Satz gestolpert, als Proust auch eine unbefristete Beurlaubung in Erwägung gezogen hat. Was genau soll ich mir darunter vorstellen? Kein Arbeitgeber würde darauf eingehen. Anne ist der Meinung, dass er solange beurlaubt sein möchte, solange der Bedarf vorliegen würde.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust gebeten wurde, seinen Dienst unverzüglich am 14.02.1900 wieder aufzunehmen. Scheinbar ist er dieser Forderung nicht nachgekommen und so wurde er ab dem 01.03.1900 vom Dienst suspendiert.

Im nächsten Brief erfährt man etwas über Prousts Arbeit als Übersetzer von John Ruskins Werken. Scheinbar habe er Übersetzungsfehler begangen, auf die Proust peinlichst berührt reagiert.

An Robert de La Sizzerane
April 1900
Monsieur,(…) Ich habe von einem Herrn aus England einen Brief erhalten, dem Sie meine Artikel zu Ruskin geschickt hatten. Das hat mich erstaunt, in Verlegenheit gebracht und vor allem mehr gerührt, als ich es vielleicht zum Ausdruck bringen kann. Ihr Freund weist mich auf eine Sinnwidrigkeit in der Übersetzung einer Passage der „Biblie d´Amiens“ hin. Ich möchte ihm gerne schreiben, um mich für seinen Brief zu bedanken, und ihn um Rat bei anderen Stellen bitten, die mir Kopfzerbrechen bereiten.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Prousts Englischkenntnisse nicht überragend gewesen wären, auch die seiner Mutter nicht. Ich zitiere aus der Fußnote.
Die seiner Mutter, auf deren Hilfe er angewiesen war, waren auch nicht über alle Zweifel erhaben, wodurch sich in der „Bible d´Amiens“ eine Reihe von Fehlern einstellte, auf die schon Henri Lemaitre 1944 hingewiesen hat in seinem in Toulouse erschienenen Buch „Proust et Ruskin“. (273)

1944 hatte Proust nicht mehr gelebt, weshalb er das Buch von Lemaitre selbst nicht hat lesen können. Aber wenn er es hätte lesen können, so bin ich sicher, wäre ihm das Buch sicher mehr als peinlich gewesen.

Dennoch wurde Prousts Übersetzung schließlich im Verlag Mercure de France abgedruckt. Ganz so schlecht können seine Übersetzungen doch nicht gewesen sein.

Weiter schreibt er:
Sie haben mir gesagt, dass es nach Ihrer Kenntnis mehrere unveröffentlichte Ruskin-Übersetzungen gibt. Wissen Sie, ob sich darunter auch die „Steine von Venedig“ finden? Ich habe die Absicht, nach Venedig zu reisen, und da ich dort Ruskin-Übersetzungen abschließen muss, die ich einem Verleger versprochen habe, wäre es eine große Erleichterung für mich, wenn ich vor Ort die „Steine von Venedig“ auf Französisch lesen könnte. Natürlich würde ich keine Übersetzung der „Steine von Venedig“ lesen, wenn ich sie selbst zu übersetzen hätte. Aber die „Steine von Venedig“ gehören nicht zu den Werken, die ich übersetzen muss, und ich hätte keinerlei Skrupel, sie auf Französisch zu lesen, um mich von meinen diversen Übersetzungen auszuruhen. (272f)

Ich bin neugierig geworden, und habe auf Amazon nach diesem Werk gesucht, und tatsächlich, das Buch die Steine von Venedig ist auch ins Deutsche übersetzt worden und käuflich zu erwerben. 

Wer ist John Ruskin? Siehe obiges Foto. Darüber hatte ich schon in der letzten Besprechung geschrieben. Kurz nochmals ein paar wenige Fakten zur Wiederholung. John Ruskin ist am 08.02.1819 in London geboren und ist ein englischer Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker. Gestorben ist er am 20.01.1900.

In einem anderen Brief spürt man wieder Prousts Depression. Er leidet, dass er auch als Übersetzer nicht den Erfolg einbringt, den er sich erhofft hat. Außerdem beklagt er wieder seine angeschlagene Gesundheit und freut sich über jede freundschaftliche Zuneigung, die man Proust in Zeiten seiner Nöte entgegenbringt.

An Constantin Brancovan
Januar 1901, hier ist Proust 30,5 Jahre alt.
Cher ami,  
ich wage nicht zu glauben, dass die geistigen Wellen, von denen das neue Institut für Psychologie spricht und die große Entfernungen überwinden können, um die Person zu erreichen, an die man gerade gedacht hat, real genug sind, um Ihnen zugetragen zu haben, dass ich, seit dem Neujahrstag an einer Grippe leidend, auf einen beschwerdefreien Tag wartete, um Ihnen zu sagen, wie traurig ich über Ihre Abwesenheit bin und wie dankbar über die Zeichen der Zuneigung, mit denen Sie mich liebenswerterweise zu Trost und Stärkung bedacht haben. All jene, die wissen, was Freundschaft ist, werden Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen wissen.

Immer wieder liest man, wie sehr dieser junge Mensch unter seinen Erkrankungen leidet, was mich sehr betroffen stimmt. Noch mehr, als er seine beruflichen Ziele einfach nicht zu erreichen scheint, und glaubt, auch seine Eltern damit enttäuschen zu müssen.
Aber wenn Sie bedenken, dass ich, stets krank, ohne jegliches Vergnügen, ohne Ziel, ohne Beschäftigung, ohne Ambition, mein abgeschlossenes Leben vor mir und bedrückt von dem Kummer, den ich meinen Eltern bereite, wenig Freuden habe, werden Sie verstehen, welche Bedeutung freundschaftliche Gefühle für mich haben können und wie stark in meinem der Welt abgewandten Herzen die Sympathien sind, die ich für meine Freunde empfinde, und wie dankbar ich denen bin, die mir, wie Sie, mit so viel feinfühliger Zuneigung und Liebenswürdigkeit begegnen. (275)

Hier erfolgt noch ein interessanter Link von der Frankfurter Allgemeine: 
Proust in Venedig. Wo ist seine Reisegruppe? Ein Artikel von Konrad Heumann. 

Zum Schluss hat auch Anne ein Zitat finden können, das ihr zugesagt hat. Ihr Schwerpunkt sind kritische Frauenthemen, und sie neugierig auf Proust ist, welchen Umgang er zu seinen weiblichen Zeitgenossinnen zu pflegen scheint.

Anne schreibt:
Wie erfrischend zu lesen, wie ein Künstler das Werk einer Künstlerin lobt. Und nicht, wie es heute oft der Fall ist, sich an deren Äußerlichkeiten abarbeitet, sodass Frauen gezwungen sind, auf ihre besondere Art darauf zu reagieren. Ich empfehle da die Aktion #dichterdran, die auf Twitter Blüten treibt: 

Hier thematisch eine Verlinkung zu Twitter.

An Anna de Noailles
Mittwoch, ein ½ Stunde nach Mitternacht (I.? Mai 1901)
Madame,ich erwarte Ihre Verse mit der ängstlichen Gewissheit dessen, der neuer Wunderwerke der Schönheit harrt. Ich war deren so sicher wie der Prinz im Märchen, dem die arbeitsamen Bienen die Rosenstöcke bestäuben, sicher sein durfte, Honig und Rosen zu bekommen. Denn ein geniales Naturell handelt unfehlbar wie die Natur. Und was Ihrem Hirn entspringt, wird immer so wertvoll sein, wie der Duft der Weißdornblüten immer köstlich sein wird…“ (277)

Dies ist wirklich ein schönes Zitat, liebe Anne, das du Dir herausgesucht hast.

Meine Gedanken

Obwohl Marcel Proust keinen leichten Lebensweg hat, bleibt er im Austausch mit seinen Briefpartner*innen immer sehr höflich, dankbar, wertschätzend und zuvorkommend. Mir hat es gefallen, dass er die Freundschaft zu wertschätzen weiß, denn unter vielen seiner Freund’innen darf er sein, wie er ist, mit all seinen Schwächen. So wirken zumindest die Briefe auf mich. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie das ist, wenn man seinen Begabungen nicht so nachgehen kann, wie man möchte, weil einem durch die verschiedenen Hindernisse die Kraft dazu genommen wird. Doch auch hier muss ich sagen, ganz erfolglos ist Proust auch diesmal nicht, denn immerhin wurden seine Ruskin-Übersetzungen veröffentlicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Aber er hat auch Glück, denn er findet immer ein verständiges Ohr unter den Freund’innen, wo er es sich erlauben kann, sich über seine Nöte auszusprechen. Und hier muss ich Proust auch recht geben; es ist nicht selbstverständlich, Verständnis bei anderen Menschen zu finden. Vielleicht verlieh ihm dies Kraft und Mut, weiter zu machen, um nicht aufzugeben.

Telefongespräch mit Anne

Anne und ich haben uns auch sehr ausführlich über Prousts Werdegang ausgetauscht. Dass er als Übersetzer in seinen Texten viele Fehler begangen hat, kann nicht nur Proust angelastet werden. Heute dürfen nur Menschen sich als Übersetzer ausgeben, die neben der Fremdsprache auch die Ausbildung dazu vorzuweisen haben. Anne ist der Meinung, dass die Menschen früher so geschrieben haben, wie sie gesprochen hätten. Ich erinnere mich, dass Proust mit mehreren Sprachen aufgewachsenen ist. Deutsch und Französisch als Erst- und Zweitsprache, später kamen Englisch und Italienisch hinzu. Arm ist er in seiner Multilingualität nicht, aber reichen diese Kenntnisse auch aus, um fremdsprachige Bücher in die Muttersprache zu übersetzen? Ich bin gespannt, wie sich Proust noch weiterentwickelt, und ob er einen anderen Weg, als den des Übersetzers, finden wird.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 280 – 290.
_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 22
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Montag, 12. August 2019

Proust und die Verehrung einer Märchenfigur namens Mogli

Seite 228 - 239  

Und wieder gibt es spannende Einblicke aus Prousts Leben. Einige Briefe waren durch die Dreyfusaffäre wieder sehr politisch. Aus einem anderen Brief geht die Erkrankung seiner Mutter hervor. Und erneut gab es interessante Literaturgespräche zu entnehmen, diesmal von einem Märchen, das auch uns gegenwärtig allseits bekannt ist. Spannend war, wie intensiv Proust dieses Märchen in sich eingesaugt hat.

Ich freue mich jedes Wochenende auf Marcel Proust, und ich spüre deutlich, wie sehr er von Brief zu Brief in meiner Seele wächst. 


An Adrien Proust
September 1898, Proust ist 27 Jahre alt
Trouville

Prousts Mutter ist krank, wurde in einem Pariser Krankenhaus notoperiert, aber er spricht nicht über die Art der Erkrankung, da sie als bekannt vorausgesetzt wird, denn er schreibt an seinen Vater und berichtet über die Genesung seiner Mutter. Die Mutter befindet sich nun zur Erholung in einem Kurort namens Trouville, und scheint wieder zu Kräften zu kommen. Proust befindet sich in Trouville an ihrer Seite. In diesem Brief geht es aber nicht nur um die Befindlichkeit der Mutter, sondern auch um die eines jungen Marine-Infanterist, der drei Jahre in Madagaskar zugebracht und sich dort ein tropisches Fieber eingeholt habe. Proust bezeichnet dieses Fieber als eine Art von Blutvergiftung. Das Fieber sei allerdings erst im Heimatland ausgebrochen, immer wieder in Schüben und so bittet er seinen Vater, der von Beruf Arzt ist, um ein Heilmittel oder um eine Überweisung zu einem Spezialisten.

Das fanden wir, Anne und ich, sehr rührend, wie besorgt und Anteilnehmend Proust nicht nur für seine Mutter ist, sondern auch um diesen jungen Mann, wir aber nicht wissen, in welcher Beziehung er zu diesem Menschen steht. Wir werden wohl nicht erfahren, ob der Vater hier hat Abhilfe schaffen können.

An Marie Nordlinger
Dezember 1898

Proust erhält von der Dame eine Weihnachtskarte, über die er sich sehr gefreut hatte. Wie schön er ihr diese Freude zum Ausdruck gebracht hat, liest man an folgender Textstelle:
Mademoiselle, mit Ihrer Weihnachtskarte haben Sie mir eine große Freude bereitet. Wären wir nur Vernunftwesen, würden wir an Geburtstage, Feste, Reliquien, Gräber nicht glauben. Aber da wir auch ein wenig aus Materie bestehen, glauben wir gerne, dass sie auch in der Wirklichkeit etwas darstellt, und wir wollen, dass das, was in unserem Herzen einen Platz hat, auch einen kleinen Platz außerhalb von uns einnimmt, dass es, wie unsere Seele mit unserem Körper, ein materielles Symbol hat.

Diese Sichtweise fanden Anne und ich sehr rührend, sehr weise.

Seine Ansicht zur Weihnachtsfeier hat Proust so schön ausgedrückt, dass ich Weihnachten in diesem Brief, mitten im August, regelrecht riechen konnte.
Und in dem Maße, wie Weihnachten für uns seine Wahrheit als Geburtstag einbüßt, wird es, kraft der zarten Strahlung der angehäuften Erinnerungen, zu einer immer lebendigeren Wirklichkeit, in der das Kerzenlicht, die melancholische Erwartung eines ersehnten Besuchs, der durch den Schneefall verhindert wird, der Duft der Mandarinen, der die Wärme der Zimmer durchtränkt, die Lustbarkeiten in der Kälte und am Feuer, die Gerüche von Tee und Mimosen wieder aufscheinen, überzogen vom köstlichen Honig unserer Persönlichkeit, die wir dort unwissentlich über Jahre hinweg abgelegt haben, Jahre, in denen wir sie – wie gebannt von egoistischen Zielen – nicht mehr spürten und jetzt, mit einem Mal, unser Herz schneller schlagen lässt. (235)

Ist dies nicht ein schöner Text? Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust diese Szene ähnlich in seinem Roman Jean Santeuil, eine Ausgabe von 1965, hat einfließen lassen.

Doch Anne hat angemerkt, dass Proust Madame Nordlinger intellektuell nicht ausreichend gewürdigt habe und er sie auf ihren Humor, auf ihre Art, Witze zu erzählen, reduzierte:
Ich hoffe sehr, (…) dass Sie bald nach Paris zurückkommen. Ich wäre glücklich, wieder in den Genuss ihres so köstlichen Witzes zu gelangen und in den Genuss Ihrer Anmut, die so erfrischend ist wie ein Weißdornzweig. (236)

Wer weiß, vielleicht bekommen wir noch mehr zu dieser Dame zu lesen, um uns ein umfassenderes Bild zu ihrer Charakterisierung und zu ihrem Charme zu machen.

An Robert d´Humiéres
Februar 1899

Robert d`Humiéres ist zusammen mit seinem Kollegen Louis Fabulet Übersetzer von Kiplings Dschungelbuch gewesen. Proust ist in dem Märchen ganz aufgegangen, lobt die Übersetzer.
So hat mir gestern die Revue de Paris mit dem bewundernswerten >Moglis Entführung< einen weiteren Grund gegeben, Sie zu verehren. Auch ich bin entführt worden, bin wie Mogli auf den Schultern der Affen durch den Dschungel gestürmt und habe Freundschaft mit dem Geier geschlossen.

Proust zeigt sich immer voller Dankbarkeit zu seinen Schriftstellerkollegen, wenn sie es schaffen, ihn mit ihren Werken zu verzaubern.
Wenn man sich schon größer fühlt, nachdem man so schöne Dinge gelesen hat, um wie viel mehr muss da nicht derjenige über sich hinausgewachsen sein, der sie so wunderbar übersetzt hat, der viel länger und auf viel vollkommenere Weise Kipling war als ich selbst, der ich ihn verstanden und genauso geliebt habe.

Nun spricht er direkt mit Mogli:
Und auch Sie, lieber Mogli, kleines Menschenkind, sehen in diesem Augenblick den Dschungel vor sich, auf den Sie sich, nachdem Sie Kipling so schön übersetzt haben, geistigen Besitzanspruch erworben haben. Machen Sie sich auf die Suche nach den Pfaden der Affen, den Ruinen der Hindu-Stadt, um mir von alldem erzählen zu können.
Gott weiß, wie sehr mich das interessiert.

Immer wieder erlebt man, wie Proust manche literarischen Figuren nach dem Lesen in sich ein zweites Mal aufleben lässt.

Im letzten Absatz dieses Briefes bedankt sich Proust erneut bei d´Hümières gebührend für die Übersetzung:
Ich kann Ihnen für >Moglis Entfürung< gar nicht genug danken. Mit dieser Übersetzung haben Sie mir eine der größten literarischen Freuden bereitet, die ich je empfunden habe. Ich gehe mit diesem entzückenden Poem bei allen klugen und empfindsamen Menschen hausieren, die ich kenne. Kennen Sie sich in Kiplings Leben aus?

Doch Proust stellt sich auch kritische Fragen, und konfrontiert d´Humières damit.
Wissen Sie, woher bei (Kipling) dieses so eigene Interesse für das Leben der Tiere, all diese Entführungen, diese Reise auf dem Rücken der Elephanten oder Affen oder Panthern führt? (…) Das Einzige, was mir missfällt, ist, wenn es so scheint, als wolle er allegorisch werden, zum Beispiel das Affenvolk, das nichts aufbauen kann usw. Glauben Sie, dass er da eine Allegorie schreiben wollte?

Eine Allegorie zu was? Er befürchtete, dass mit den Affen die Menschen gemeint sein könnten. Hier hätte ich Lust, nochmals Das Dschungelbuch zu lesen. Ich denke, dass ich es tun werde.

Aber ich wollte jetzt auch noch wissen, wie alt Kipling zu Prousts Zeiten war und habe festgestellt, dass der Altersunterschied nicht sehr groß gewesen ist. Rudyard Kipling ist 1865 geboren und 1936 gestorben. Er ist gerade mal sechs Jahre älter als Marcel Proust und hat aber ein deutlich längeres Leben als er gehabt, Proust, der die 50 nicht überschreiten konnte, während Kipling 71 Jahre alt wurde. Und trotzdem war er ein Genosse aus Prousts Zeiten.

Telefongespräch mit Anne
So richtig intensiv haben wir uns diesmal nicht ausgetauscht, da sehr viele Briefe Wiederholungen zu politischen Motiven enthielten. Weitere Gedanken zu Anne habe ich entsprechend im Text deutlich hervorgehoben.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 240 bis Seite 249.

_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 21
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94