Montag, 31. August 2015

Hermann Hesse / Unterm Rad (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Es gibt kein Happy End, was aber typisch für Hermann Hesse ist. Er sieht dem nackten Leben ins Auge und verschont seine LeserInnen damit nicht minder.

Mich hat das Buch ein wenig an Narziss und Goldmund erinnert. Auch dort geht es zwischen einem Künstler und einem Wissenschaftler darum, die richtige Lebensweise zu finden, damit man am Ende des Lebens nicht das Gefühl bekommt, etwas versäumt zu haben.

Der junge Hans Giebenrath, der Protagonist dieser Geschichte, musste schon recht früh diese Erfahrung machen. Wiederholt stellte er sich die Frage, ob er am Lebenssinn vorbei lebt, wenn er seine Jugend ausschließlich der grauen Theorie opfert, nur weil dies alle von ihm fordern, und er niemanden enttäuschen möchte. Vor allem seinen Vater möchte er nicht enttäuschen.

Jedes gesunde Leben muss einen Inhalt und ein Ziel haben, und das war dem jungen Hans Giebenrath verloren gegangen.


Hans entwickelt durch den Leistungsdruck unüberwindbare psychosomatische Beschwerden ...

Der Vater, Josef Giebenrath, ist ein verwitweter Vater, der dem Sohn keine Mutter ersetzen kann. Emotional ist der Vater ein wenig abgestumpft. Er schafft es nicht, dem Kind seelische Nähe entgegenzubringen. Der Vater ist ganz auf Leistung eingestellt und kompensiert seine Liebe Hans gegenüber mit guten Schulleistungen. Es ist nicht bekannt, woran Hans´ Mutter gestorben ist. Auch den Todeszeitpunkt lässt Hesse offen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres vom anderen leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist, und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden. 
Hans ist ein intellektuell überdurchschnittlich begabter junger Mensch, der durch das Bestehen seines Landesexamens vorzeitig von der allgemeinbildenden Schule genommen wird, da man ihm nichts mehr beibringen konnte. Demnach sollte Hans als Seminarist im September auf ein klösterliches Internat wechseln, in dem hauptsächlich alte Sprachen wie z. B. Latein, Altgriechisch und Hebräisch gelehrt werden. Doch bis dahin wollte Hans seine neu erworbene Freiheit und seinen Status, der ihn über seine Kameraden stellte, genießen, während andere noch die Schulbank drücken:

Hans befindet sich gerade beim Angeln: 
Griechisch und Latein, Grammatik und Stilistik, Rechnen und Memorieren und der ganze folternde Trubel eines langen, ruhelosen, gehetzten Jahres sanken still in der schläfernd warmen Stunde unter. Hans hatte ein wenig Kopfweh, aber nicht so stark wie sonst, und nun konnte er ja wieder am Wasser sitzen, sah den Schaum am Wehr zerstäuben, blinzelte nach der Angelschnur, und neben ihm schwammen in der Kanne die gefangenen Fische. (…) Zwischendurch fiel ihm plötzlich ein, dass er das Landexamen bestanden habe und Zweiter geworden sei, da klatschte er mit den nackten Füßen ins Wasser, steckte beide Hände in die Hosentaschen und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Richtig pfeifen konnte er zwar nicht, das war ein alter Kummer und hatte ihm von den Schulkameraden schon Spott genug eingetragen. Er konnte es nur durch die Zähne und nur leise, aber für den Hausgebrauch genügte das, und jetzt konnte ihn keiner hören. Die anderen saßen jetzt in der Schule und hatten Geografie, nur er allein war frei und entlassen. Er hatte sie überholt, sie standen jetzt unter ihm. Sie hatten ihn genug geplagt, weil er außer August keine Freundschaften und an ihren Raufereien und Spielen keine rechte Freude gehabt hatte. So, nun konnten sie nachsehen, die Dackel, die Dickköpfe. Er verachtete sie so sehr, dass er einen Augenblick zu pfeifen aufhörte, um den Mund zu verziehen. 
Hans wird von dem Direktor aus seiner Schule und von dem Stadtpfarrer zu sich gerufen, die ihm beide in unterschiedlichen Fächern Privatstunden erteilen möchten, damit Hans später im Klosterseminar gut vorbereitet ist. Das war´s nun wohl mit den vorgezogenen Ferien. Nur einer hatte Mitleid mit ihm, der Schuhmacher Flaig, ein strenggläubiger Mensch, der warnend auf Hans einzureden versucht:
(Das viele Lernen) ´s Unsinn, Hans, und eine Sünde dazu. In deinem Alter muss man ordentlich Luft und Bewegung und sein richtiges Ausruhen haben. Zu was gibt man euch denn Ferien? Doch nicht zum Stubenhocken und Weiterlernen. Du bist ja lauter Haut und Knochen! 
Flaig ist der Meinung, dass der Stadtpfarrer nicht ausreichend an Gott glauben würde, sondern mehr an die Wissenschaft. Er glaubt nicht, dass der Umgang mit dem Stadtpfarrer der richtige für Hans ist und gibt mahnende Ratschläge.

Hans lernt in dem Klosterinternat einen Poeten kennen, einen Dichter namens Hermann Heilner, der sich gegen das Spießige aufzulehnen versucht. Auch er ist ein sehr guter Student, doch recht bald wollten die Dozenten ihn wieder loswerden, da er sich dem System des Internats widersetzte.
Er beeinflusste auch Hans in seiner Denkweise und Hans fühlt sich von ihm stark inspiriert:
>>Da lesen wir Homer<<, (…) >>wie wenn die Odyssee ein Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird. Aber am Schluss der Stunde heißt es dann jedes Mal: Sehen Sie, wie fein der Dichter das gewendet hat, Sie haben hier einen Blick in das Geheimnis des dichterischen Schaffens getan! Bloß so als Soße um die Partikeln und auch Aoriste herum, damit man nicht ganz dran erstickt. Auf diese Art kann mir der ganze Homer gestohlen werden. Überhaupt was geht uns eigentlich das alte griechische Zeug an? 
Heilner hinterfragt das Schulsystem und die Lehrmethoden, die auf ihn leblos und ohne jeglichen Sinn wirken. Würde der Mensch allerdings sich neben den Theorien etwas mehr an echter Lebensweise aneignen, würde dies nicht wirklich gern gesehen werden. Ein wenig absurd:
Wenn einer von uns einmal probieren wollte, ein bisschen griechisch zu leben, so würde er rausgeschmissen. Dabei heißt unsere Stube Hellas!(*) Der reine Hohn! Warum heißt sie nicht >Papierkorb< oder >Sklavenkäfig< oder >Angströhre<? Das ganze klassische Zeug ist der Schwindel.<< 
Hermann sieht sich als Sklave seiner Lehranstalt. Am liebsten würde er die gesamte Lehrzeit in der Natur zubringen und dichten.
>>Das ist Taglöhnerei, (…), du tust all die Arbeit ja doch nicht gerne und freiwillig, sondern lediglich aus Angst vor den Lehrern oder vor deinem Alten. Was hast Du davon, wenn du Erster oder Zweiter wirst? Ich bin Zwanzigster und darum doch nicht dümmer als die Streber.<< 
Hermanns Karriere an dem Klosterinternat ist nicht sehr langwierig. Die Dozenten bekommen mit, dass sich Hans immer mehr mit Hermann freundschaftlich zusammentut. Die Reaktion eines Dozenten ...

... Hans:
>>Ich weiß nicht, er ist nun eben mein Freund.<<
>>Du weißt, dass ich deinen Freund nicht besonders liebe. Er ist ein unzufriedener, unruhiger Geist; begabt mag er sein, aber er leistet nichts und übt keinen guten Einfluss auf dich. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn du dich ihm mehr fernhalten würdest .- Nun?<<
>>Das kann ich nicht, Herr Ephorus.<<
>>Du kannst nicht? Ja warum denn?<<
>>Weil er doch mein Freund ist. Ich kann ihn doch nicht einfach im Stich lassen.<<
>>Hm. Aber du könntest dich doch etwas mehr an andere anschließen? Du bist der einzige, der sich dem schlechten Einfluss dieses Heilner so hingibt, und die Folgen sehen wir ja schon. Was fesselt dich denn gerade an ihm besonders?<< 

Hans steckt nun wiederholt in einem Loyalitätskonflikt, fühlt sich hin- und hergerissen. Doch schließlich steht er seinem Freund bei, nachdem er schon einmal an Hermanns Freundschaft gescheitert ist und er seinen Fehler, den er durch Wiedergutmachung kein zweites Mal begehen möchte.
Von da an plagte sich Hans aufs Neue mit der Arbeit. Es war allerdings nicht mehr das frühere flotte Vorwärtskommen, sondern mehr ein mühseliges Mitlaufen, um wenigstens nicht zu weit zurückzubleiben. Auch er wusste, dass das zum Teil von seiner Freundschaft herrührte, doch sah er in dieser nicht einen Verlust und ein Hemmnis, vielmehr einen Schatz, der alles Versäumte aufwog - ein erhöhtes wärmeres Leben, mit dem das frühere nüchterne Pflichtdasein sich nicht vergleichen ließ.
Was nun aus Hans und Hermann wird, lasse ich offen.


Mein Fazit

In dem Buch wird sehr stark das Schulsystem hinterfragt und kritisiert. Und dies zu Hesses Zeiten. Mit dem heutigen Schulsystem verglichen, fällt mir dabei die Schulreform in Hessen ein, wo man seit 2010 das Abitur nach der 12. Jahrgangsstufe erwerben kann. Ein Jahr gestohlene Kindheit? Dieses Schulsystem hat sich nicht wirklich bewährt, manche Schulen haben mit dem Regierungswechsel wieder auf G8 zurückgefunden, während Bayern Pläne hat, das Abitur sogar nach sieben Jahren zu machen. Besonders begabte Kinder mögen dies zwar mit wenig Zeitaufwand schaffen, doch andere müssen einen Großteil ihrer Spielzeit dem Lernen opfern, ähnlich wie Hans oben im Roman. Oder sie müssen auf das Abitur verzichten. Und somit haben nicht alle Kinder dieselben Chancen …  Ein altes, leidiges Thema, und denke an die vielen Pisastudien. Die Regierung ist aus meiner Sicht nicht daran interessiert, dass alle Abitur machen. Sie will nur die Besten. Je dümmer ein Volk, desto weniger werden sie politisch von ihren Wählern durchschaut.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Eine Lektüre, die sehr wohl auch Jugendliche ab 16 Jahren lesen können. Ein Buch auch über Freundschaft, wie man oben im Text in einem kurzen Abschnitt lesen konnte.

Mir fällt dabei auch der Film Der Club der toten Dichter mit Robin Williams ein.

Ein letztes poetische Zitat, verglichen mit einem Baum, eine Metapher, die an junge Leute gerichtet ist, aber auch an die Eltern, mit dem Appell, lasst euch eure Jugend nicht nehmen, denn …
… (wenn) ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte krank wurde und verdarb, in die frühlingshafte Zeit der Anfänge und ahnungsvollen Kindheit zurück, als könnte sie dort neue Hoffnungen entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden  aufs Neue anknüpfen. Die Wurzelsprossen geilen saftig und eilig auf, aber es ist ein Scheinleben, und es wird nie wieder ein rechter Baum daraus.
Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

*Hellas heißt übersetzt: Griechen, Griechenland, wonach Hans´und Hermanns Schlafstube benannt wurde.
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Man kann seine Schuld nicht mildern, wenn man sie eingesteht, 
sondern nur, wenn man anfängt, sich zu bessern.
(Ann Kirchner)

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