Sonntag, 5. Mai 2019

Familiärer Austausch

Die ersten Proust-Briefe mit Familienmitgliedern, 1879-1887  

Kindheit und Jugend in den Briefen
Mit den ersten beiden Briefen, April 1879 und Febr. 1881 war Marcel gerade mal sieben und neun Jahre alt, als er sich schon ans Schreiben machte, was ich phänomenal fand. Ein quicklebendiges, neugieriges und fabulierfreudiges Kind, das sich in der Auseinandersetzung mit hoher Literatur und im Umgang mit seinen Mitmenschen befindet. Was mir auffällt, ist, dass sich der kleine, sensible Proust in seinen Briefen hauptsächlich mit Erwachsenen beschäftigt und kaum etwas mit seinen Altersgenossen zu tun hat. Eine reife Seele in einem Kinderkörper? So kommt mir der Kleine vor. Er schreibt hier an seine Großeltern mütterlicherseits Nathé und Adèle Weil. Mit neun Jahren schreibt er seinen ersten Brief auf Deutsch. Mit neun Jahren lernt er auch Deutsch und Latein, 18 Monate bevor er aufs Gymnasium wechselt. Später scheint er ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, da er hier auch Altgriechisch und Geschichte lernt. Dadurch wird er mit der griechischen Mythologie vertraut gemacht. Der junge Marcel saugt wie ein Schwamm alles auf, was er literarisch und zwischenmenschlich aufgetragen bekommt. Ein Junge mit so einer immensen Begabung kann unmöglich den Umgang zu Gleichaltrigen gesucht haben.

Auf Seite 87 geht aus dem Brief an die Großmutter hervor, dass er das Briefeschreiben vorzieht, um ihr eine Madame Catusse zu beschreiben, anstatt mit seinen Kameraden Krocket spielen zu gehen.
Mit zehn Jahren liest Marcel schon Dramen und Theaterstücke. Zudem liest er Honoré de Balzac, und Théophile Gautiers und zitiert daraus reichlich in seinen Briefen an die Großeltern.

Ein Faible hat er auch für ältere Frauen, was mir schon in seiner Recherche über die Madame Guermantes aufgefallen ist. Madame Marie-Marguerite Catusse ist hier eine junge Dame im geschätzten Alter zwischen 23 und 25 Jahren. Sie scheint eine Opernsängerin zu sein. Marcel war zu der Zeit 15 Jahre alt, als er ihren Umgang suchte. Die junge Frau ging eine Freundschaft mit Marcels Mutter ein. Der Kontakt mit dieser Frau blieb selbst dann noch bestehen, als seine Mutter 1905 aus dem Leben schied. Madame Catusse blieb eine intime Vertraute von Marcel ...

Eine prächtige Charakterisierung über diese Frau brachte der junge Marcel im Brief an die Großmutter zustande, die aber der Großmutter missfiel. Seine Reaktion dazu:
Ma chère Grand` mère,danke mir nicht für diesen Brief. Seit der Standpauke letzthin habe ich außerdem Angst, erneut gestriegelt zu werden. Aber Madame Catusse hat mir eine kleine Arie versprochen, wenn ich damit anfange, sie für dich zu porträtieren, eine große Arie, wenn ich damit fertig bin, und für alles zusammen alle Arien, die ich will. (2016, 87)

Hier habe ich mich gefragt, was eine Madame Catusse dazu treibt, sich mit einem minderjährigen Jungen abzugeben, doch es scheint wohl die Kunst, die sie beide verbindet, dazu geführt zu haben. Und hierbei zählt der Altersunterschied keine Rolle. Es sind die verwandten Seelen, die sich finden, würde der alte Goethe wohl sagen.

Madame Catusse schienen Prousts literarische Vorlieben und seine Fantasien dazu, Menschen zu beobachten und zu beschreiben, aufgefallen zu haben, zu denen sie sich ein wenig narzisstisch hingezogen fühlt, denn warum sonst möchte sie von dem jungen Proust porträtiert werden? Andere Künstler malen mit Aquarelle, Marcel malt seine Figuren mit der Feder.

Aus dieser Feder wurden schon die ersten Figuren der Recherche geboren. Marcel übt sein Metier über das Schreiben von Briefen, das später übergeht in seinen siebenbändigen Büchern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Was ist noch aus diesen zehn Seiten zu entnehmen? Proust hat noch einen jüngeren Bruder namens Robert, der auf diesen Seiten nur peripher erwähnt wird, weil Robert noch zu klein ist. Einen Robert gibt es aber auch in der Recherche … Marcels Vater, Adrien Proust, ist Zahnarzt von Beruf.
Marcel beschäftigt sich auch mit anderen Charakteren und lernt den Kollegen seines Vaters Magitot kennen, der aus den Briefen einer Madame Victorine Ackermann, geb. Choquet, Literatin, zitiert:
Um, wie der Burgherr von Auteuil zu sagen pflegt, der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich im Übrigen sagen, dass der Doktor ein sehr gutmütiger Mann ist, sehr offen, sehr natürlich, sehr gebildet, sehr klug. Er hat sich anderntags damit vergnügt, vor einem Publikum höchst devoter Frauen und Ehemänner atheistische und gotteslästerliche Verse einer Madame Ackermann zu lesen und von A bis Z zu beweisen, dass die Religionen menschliche Einrichtungen seien, die den gesellschaftlichen Fortschritt aufhielten (…). (89)

Auf Seite 91 geht hervor, dass Marcels Mutter, Jeanette Weil, ihren Vater bittet, einen Brief vom Enkel sofort nach dem Lesen wieder zu vernichten. Auch hier zeigt sich, dass die Briefe peinlich berühren konnten. Den Brief an eine Madame Antoinette Faure hatte die Mutter sogar selbst zerrissen, angeblich, weil die Schrift zu schlecht sei, aber Marcel vermutet eher politische Motive, die darin beschrieben wurden.

Meine Meinung zu den ersten zehn Seiten, (81-91)
Wie gehaltvoll Marcels Werke sind, sowohl seine Briefe als auch seine anderen Werke, zeigen, wie viel auf diesen zehn Seiten zu entnehmen ist. Wenn ich sie nicht aufschreiben würde, hätte ich das ganz schnell wieder vergessen, denn der Inhalt wird nach dem Lesen im Schreibprozess noch weiter intensiviert und dadurch besser verarbeitet.

Ich finde es schön, dass in den Briefen auch männliche Autoritäten erwähnt werden, wie zum Beispiel den Großvater und den Vater, die mir in der Recherche ein wenig zu kurz gekommen sind.

Ich finde diesen jungen Marcel sehr sympathisch, was später aber bei mir wieder kippen wird, wenn er Menschen von oben herab behandelt und so blasiert daherredet. Man merkt, dass er seine Zeit zu sehr mit Erwachsenen verbringt und sich schon recht früh mit schweren Themen befasst, sodass diese unbeschwerte Kindheit, die er auch hatte, aber einen Schatten abgeworfen zu haben scheint, wenn er als Erwachsener zu altklug erscheint.

Ich bin so neugierig auf die weiteren Briefe, und so lassen wir das Ganze noch weiter in uns sacken.

Marcel Proust ist für mich in der Literatur, was ein Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik ist, denn auch Mozart begann schon recht früh zu musizieren; er komponierte im Kindesalter auch erste Musikstücke. 

Telefongespräch mit Anne, 05.05.19
Ich habe mit Anne telefoniert, und ich bin richtig froh, dass auch sie die Briefe interessant findet. Wir haben unsere gemeinsamen Eindrücke geteilt. Anne hat zudem herausgefunden, dass Marcel Prousts Mutter deutsche Jüdin ist. Das hatte ich nämlich auch vermutet, da die Mutter mit Mädchennamen Weil heißt. Dass Proust Jude war, das ließ sich schon aus der Recherche herauslesen. Anne und ich waren beide erstaunt darüber, wie früh der kleine Marcel schon begonnen hatte, sich literarisch auseinanderzusetzen. Seine Ausdrucksweise faszinierte uns einerseits, doch aus der Feder eines Zehnjährigen wirkte sie ein wenig zu reif. Lange Briefe erstaunten uns, aber auch die kurzen, die aus einem Vierzeiler stammen, sind sehr einfallsreich. Was wir als mühselig empfunden haben, sind die vielen Unterbrechungen durch die Fußnoten. Positiv haben wir erlebt, dass die Fußnoten nicht hinten in einem gesonderten Glossar abgedruckt sind, sondern noch auf derselben Seite, am Ende eines Schreibens. Uns beschäftigt noch die Frage, weshalb Marcel Proust seiner fiktiven Figur aus der Recherche seinen Namen vergeben hat? Wir hoffen auf eine Lösung durch die Briefe.

Am 06. Mai 2017 hatten wir begonnen zu lesen. Ich kopiere mal unsere ersten Leseeindrücke rein, ich zitiere:

Erster Eintrag von 06.05.2017
Ich habe mit den Briefen begonnen, ich habe allerdings aus dem ersten Band erst die Chronologie geschafft, die relativ umfangreich ist. Die Briefe daraus beginne ich nächste Woche mit meiner Lesepartnerin Anne-Marit zu lesen. Aus der Chronologie konnte ich viel Interessantes entnehmen, ein paar wenige Fakten möchte ich auch hier festhalten, Weiteres ist meiner separaten Buchbesprechung zu entnehmen.

Wie den meisten bekannt ist, ist Marcel Proust Asthmatiker gewesen. Dadurch hat er permanent den Tod vor Augen gehabt, musste jede Menge Anfälle über sich ergehen lassen. Solche Asthmaanfälle sind schon erschreckend, wenn man sich vorstellt, dass einem die Luft wegbleibt und man zu ersticken droht. Durch seine Atemwegserkrankung ist Proust tatsächlich nicht alt geworden. Er starb mit 51 Jahren (1871-1922).
Als er noch lebte, quälte ihn die Sorge, er würde vorzeitig sterben, ohne seine Recherche beendet zu haben. Außerdem hatte er Angst, seine vielen Briefe, die teilweise sehr persönlich sind, würden veröffentlicht werden, kaum dass er tot sei. Ich denke mir dabei, dass er selbst die Wahl hatte. Er hätte die Briefe vor seinem Tod verbrennen können. Aber er tat das nicht, also stand er einer Veröffentlichung ambivalent gegenüber.

Worunter er noch litt, war sein Ruf. Nicht wenige bezeichneten ihn als einen Snob. Darüber musste ich so schmunzeln, denn auch ich zähle mich zu den Leser*innen, die ihn für arg blasiert hielten, siehe im oberen Text. Interessant, dass ich mit dieser Charakterisierung nicht alleine dastehe.

Sorgen bereitete ihm auch, dass die Leser*innen zwischen dem fiktiven und dem realen Marcel nicht unterscheiden könnten. Diese Sorge ist berechtigt, denn ich selbst stellte mir wiederholt die Frage, weshalb Proust dem Protagonisten aus der Recherche denselben Vornamen verpasst hatte? Nicht nur die Leser*innen sind vor diese Herausforderung gestellt, die beiden Marcels auseinanderzuhalten. Auch er, Marcel Proust, der Vater des fiktiven Marcels, muss selbst vor dieser schweren Aufgabe gestanden haben, beide Marcels auseinanderzuhalten. Wie kann er einen fiktiven Marcel kreieren und gleichzeitig Abstand gewinnen zwischen den beiden gleichen Namensträgern?

In seinen siebenbändigen Büchern gibt es sehr wohl Parallelen zu seinem eigenen Leben. Dies zeigt mir, dass es ihm nicht gelungen ist, sich als realer Marcel von dem fiktiven Marcel zu distanzieren. Warum aber war es ihm so wichtig, seinem Protagonisten seinen Namen zu verpassen? Vielleicht gibt es in den Briefen eine Antwort dazu, denn er muss sich ja etwas dabei gedacht haben.