September 1888 bis Okt. 1888 (17 Jahre alt)
Der junge Marcel Proust, ein leidenschaftlicher Briefeschreiber, verpasst keine Gelegenheit, sich Briefpartner zu suchen, um sich über sein reges Innenleben mitzuteilen. Er macht sich viele Gedanken über seine Mitmenschen, zieht dabei Literaturfiguren mit ein, dieses Mal aus Le Misanthrope von Molière. Hieraus Alceste, ein Idealist und Menschenfeind, der ohne Heuchelei den Menschen die Wahrheit ins Gesicht sagt. Diese Haltung würde aus einer lächerlichen und schlechten Gemütsverfassung entspringen … Proust schreibt auch immer wieder über die Konflikte, die er mit bestimmten Menschen hat und erschafft sich ein Gedankenkonstrukt, das er in zwei Variablen, x- und y, einteilt. Er schreibt von der Gesamtheit von Freundschaftsphänomenen x und von der Antipathie y.
Und so hat das Zerwürfnis nur die Bedeutung einer Laune, einer Prüfung oder einer Verstimmung, und alles kommt darauf an, sich wieder zu versöhnen. Ist es y, Antipathie, so bedeutet die Versöhnung nichts, und alles ist Zerwürfnis. (113)
Jede Menge Charakteranalyen entstehen dadurch. Er entschuldigt sich bei seinem Freund Robert Dreiyfus, dass er einen ganzen Brief gebraucht habe, um ihm darin seine Theorie darzulegen. Neben seinen tiefen Gedanken zeigt sich Marcel aber auch als ein Plauderer, der gerne über Freunde und aber auch über sich selbst ablästert, allerdings nicht als der Marcel Proust, sondern in dem Mantel einer (literarischen) Figur. Proust bittet Dreyfus, diesen Brief Daniel Halévys zu zeigen, s. u. . Obwohl er von Daniel nicht den Respekt erwiesen bekommt, den er verdient hätte? Angeblich soll ihn Daniel für mall und meschugge halten.
Proust nimmt Reitstunden, und überträgt Begriffe davon in seinen Jargon und erweitert dadurch gekonnt seinen Wortschatz:
Ich erlaube Dir, mein lieber Freund, diesen Brief D. H. zu zeigen, auch wenn er im allerschnellsten Galopp geschrieben ist, denn ich bin die ganze Zeit über von der Uhr vorangepeitscht worden, da ich noch zum Reitplatz muss. (117)
Interessant fand ich Prousts Brief an den neuen Philosophielehrer Alphonse Darlu, der mir ein wenig peinlich gewesen wäre. Gerade mal zwei Tage in der Klasse, wendet sich Marcel per Brief an ihn, da Darlu keine so erfreuliche Ansprache zu den jungen Menschen überbracht hatte. Marcel dagegen fühlt sich zu Darlu hingezogen, bewundert seinen philosophischen Geist und bittet ihn in seinem Brief um eine moralische Konsultation.
Ich habe in den letzten beiden Tagen eine so große Bewunderung für Sie empfunden, dass ich das unwiderliche Bedürfnis empfinde, Sie um einen großen Rat zu bitten, bevor ich das Studium der Philosophie aufnehme. (120)
Proust kehrt in diesem Brief dem Lehrer sein Innerstes heraus. Im Unterricht muss Darlu über eine Erkrankung gesprochen haben, von der nichts ahnend Proust betroffen ist. Dadurch teilt Proust ihm mit, dass er selbst an dieser Krankheit leidet und bittet um ein Gegenmittel. Des Weiteren lässt er den Lehrer wissen, dass er durch seine schwächliche Gesundheit unter einer Bewusstseinsspaltung leiden würde.
Aber mein Leiden ist, auch wenn es einen fast gänzlich anderen Charakter angenommen hat, nicht weniger lebhaft. Es hat sich intellektualisiert. Ich empfinde kein vollständiges Vergnügen mehr an dem, was mir früher ein Genuss war, an literarischen Werken. (120)
Weiter geht es in der Beschreibung seines anderen Ichs, Details sind dem Werk zu entnehmen, 120/121. Das Ende des Briefes fand ich dermaßen persönlich, das würde ich niemals einem Lehrer schreiben, auch wenn ich ihn mögen würde.
Sie werden, wie ich hoffe, Monsieur, meiner außerordentlichen Bewunderung und meiner unendlichen Begier, zu wissen, was Sie davon halten, die Absonderlichkeit und vielleicht auch die Indiskretion verzeihen, die darin besteht, einem Unbekannten derart intime Gedanken anzuvertrauen. (121)
Durch dieses stark Persönliche wirkt der Brief auf mich unheimlich. Weiter geht es im Text:
Aber ich glaube, Sie nach dem wenigen, was ich von Ihnen gehört habe, schon zu kennen. Ich flehe Sie an, in der Klasse nicht die leiseste Anspielung auf diesen Brief zu machen, der für mich so eine Art von Beichte ist. Ihr Schüler und aufrichtiger Bewunderer. (121)
Was ist das für ein Geschleime? Da kringeln sich mir sämtliche Fußnägel hoch. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
… (>>der bewundernswerteste Lehrer, den ich je gehabt habe, der Mann, der den größten Einfluss auf mein Denken ausgeübt hat (…)<<, doch notiert er einige Jahre später (…) >>Niemand außer Darlu hat Einfluss auf mich ausgeübt, und dieser Einfluss war schlecht.<<(122)
Wie in seiner Recherche kommt er mir auch hier sehr verschwatzt vor. Ein intellektuelles Lästermaul, das sich seelisch vor vielen Menschen nackt macht und sich dann aber wundert, wenn hintenrum über ihn geredet wird.
Telefongespräch mit Anne, Sonntag, 26.05.2019
Auch Anne war der Meinung, dass Proust gerne schwatzt. Sie war eigentlich die erste von uns beiden, die darauf aufmerksam gemacht hat. Ich selbst konnte diese Eindrücke in seinen Briefen erst nicht festmachen, obwohl ich sie gelesen habe, es ist aber so schwer, das Gelesene zu verinnerlichen, wenn einem so gar nicht die Antwortbriefe vorliegen. Nun aber, im zweiten Durchlauf, konnte dieser Charakterzug auch für mich an verschiedenen Textstellen deutlich gemacht werden. Proust kränkt in seiner Ausdrucksweise so manchen Kameraden, davon bleibt auch sein Freund Robert Dreyfus nicht verschont. Proust muss ihn so beleidigt haben, dass auch Robert ihn für recht blasiert hielt, sodass Proust sich genötigt sah, sich mit Schmeichelei und Lobeshymnen bei dem Freund zu entschuldigen. Er verfällt von einem Extrem ins andere.
In den Briefen bittet er seine Gesprächspartner immer wieder darum, seine Depesche anderen Personen nicht weiterzureichen, sodass wir, Anne und ich, den Eindruck bekommen haben, dass er tief in seiner Seele sich nichts anderes wünscht, als dass sie weitergereicht werden.
Proust weiß, dass er ein fulminanter Schreiber ist und kokettiert mit sich selbst. Er scheint es zu genießen, sich selbst in Szene zu setzen. Ich glaube, er hat es ganz gerne, wenn andere über ihn reden, wenn seine Briefe hochgelobt werden.
Meine persönliche Meinung
Mir kommt Prousts Seele ein wenig hurenhaft vor. Jedem sein Innerstes preiszugeben, finde ich sehr peinlich. Und trotzdem verstehe ich ihn aber auch. Proust, der Vieldenker, er braucht ein Gegenüber, um sich literarisch und geistig entfalten zu können. Er saugt die Menschen auf wie ein Schwamm und macht daraus fiktionale Geschichten. Und das führt zu einem überaus regen Innenleben, dass es schwermacht, sich selbst zu ertragen. Nur die Art und Weise, wie er es tut, wirkt zudem noch sehr impulsiv und versnobt. Ich selbst habe auch in diesen jungen Jahren viel geschrieben. Ich habe über 25 Tagebücher verfasst, wovon ich die Hälfte vernichtet habe. Die andere Hälfte werde ich mit der Zeit noch entsorgen. Auch ich hatte in der Schule die eine oder den anderen Lehrer*in, für die ich geschwärmt habe, die ich ähnlich wie Proust innerlich idealisiert habe aber niemals würde ich meiner Lehrer*in eine Bewunderung dieser Art aussprechen, weil es seelisch gesehen mir viel zu peinlich wäre.
Aber ich hätte Lust, Molières Theaterstück Proust zuliebe ;-) ein zweites Mal zu lesen. Auch ich habe das Stück gelesen, weil ich mich in den Anfängen meiner 20er Lebensjahre mit dem Buchtitel identifizieren konnte. Auch ich hatte mich viele meiner jungen Jahre in der Literatur gesucht. Ich erinnere mich, dass ich mich allerdings am Ende des Stückes doch nicht mit dem Misanthropen habe identifizieren können. Aber die Details weiß ich nicht mehr, weshalb ich das Stück gerne noch einmal lesen würde.
Mein Fazit aus diesen zehn Seiten
Proust probiert sich aus. Literarisch, schauspielerisch (Theater) und sexuell.