Seite 152 – 162
Auf den folgenden zehn
Seiten strebt der junge Marcel Proust unter dem Druck seiner Eltern eine
berufliche Laufbahn an. Ein Dilemma, wie man es schon von verschiedenen anderen
Künstlern her kennt. Die Schriftstellerei als Existenzsicherung scheint für Prousts
Vater zu ungewiss zu sein. Schreiben als Hobby neben einem anderen Beruf ist
durchaus machbar. Aber Proust schreibt nicht zum reinen Vergnügen, sondern
professionell. Profession bedeutet in meinen Augen, einen ganzen Arbeitstag mit
dem Schreiben zu verbringen. Damit ist nicht nur das Schreiben impliziert,
sondern auch die Zeit, die er auf der Suche nach seinem Stoff noch zusätzlich benötigt.
Wo soll da noch Zeit sein, einem anderen Beruf nachzugehen? Ich denke dabei
auch an die vielen Profimusiker, die Virtuosen unter uns, die täglich mindestens acht Stunden mit Übungen
zubringen, wie ich mir von echten Profis habe sagen lassen. Ein Laie übt
wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde am Tag.
Proust sucht verzweifelt
nach Kompromissen, später nach einer patenten Lösung.
September 1892, 22
Jahre
Brief an Robert
de Billy
Er schreibt in dem
Brief an seinen Freund Robert de Billy, spricht sich in dem Brief aus, dass er in der allergrößten Verlegenheit stecken
würde, da er auf den Druck seines Vaters sich für eine berufliche Laufbahn
entscheiden müsse. Durch Anraten seines Vaters strebt Proust eine Beamtenlaufbahn
zwischen dem Rechnungshof und dem Dienst im Außenministerium in Paris an. Aber beides
empfindet Proust als eine >>geisttötende Laufbahn<<. Obwohl Proust
Jura studiert hat, und er sein Lizenziat im Oktober 1893 bestanden hat, drängte
sein Vater auf eine zügige Berufswahl. Im Folgenden zeigt Proust dem Freund seine
innere Not, für die sein Vater wenig Verständnis aufzubringen scheint. Ich
zitiere folgende Textstelle, da ich so sehr mit Proust mitfühlen kann:
Ach, mein Freund, mehr denn je wäre mir
Ihr Rat hier teuer, und ich leide sehr unter ihrer Abwesenheit. Möge sie doch
ein schöner Brief durch das allmächtige Wunder der kommunizierenden Geister
aufheben. – Genießt die höhere Verwaltungslaufbahn nicht zu wenig Ansehen? Was bleibt
da noch, wo ich entschlossen bin, weder Anwalt zu werden noch Arzt, noch
Priester, noch -, (154).
Ende September 1893
schreibt Proust diesbezüglich an den Vater …
… und bittet indirekt erneut
darum, seine Studien in Philosophie und in der Literatur weiter fortsetzen zu
dürfen, worauf der Vater sich in Schweigen hüllte. Aber Proust ist nachgiebig,
zeigt sich weder motzig, noch rebellisch dem Vater gegenüber und sucht nach
einer Lösung, mit der beide gut leben können.
Mon cher petit Papa,ich habe immer gehofft, deine Erlaubnis
für die Fortsetzung der literarischen und philosophischen Studien zu erhalten,
für die ich mich geschaffen glaube. Aber da ich sehe, dass mit jedem Jahr
nichts weiter als eine immer aufs Praktische gerichtete Disziplin auf mich
zukommt, will ich mich lieber gleich für eine dieser praktischen Laufbahn
entscheiden, die du mir vorschlugst. Ich werde ernstlich darangehen, ganz nach
Deiner Wahl, die Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst oder für die École
nationale des Chartes vorzubereiten. (155)
Aus der Fußnote ist zu
entnehmen, dass die École national … die Schüler auf einen höheren Dienst für Bibliotheken, Archiven und Museen vorbereitet.
Was die Anwaltskanzlei angeht, so würde
ich noch tausend Mal lieber bei einem Wechselmakler anfangen. Du kannst
übrigens sicher sein, dass ich es dort keine drei Tage aushalten würde! Es ist
nicht so, dass ich nach wie vor alles außer der Beschäftigung mit Literatur und
Philosophie für verlorene Zeit hielte. Aber unter mehreren Übeln gibt es
kleinere und größere. Ich habe mir, selbst in den Tagen meiner größten
Verzweiflung, nie etwas Furchtbareres als eine Anwaltskanzlei vorstellen
können. Der Botschaftsdienst, der mir jene ersparen würde, scheint mir zwar
nicht meine Berufung zu sein, aber ein Ausweg. (155f)
Auf der Seite 152
schreibt Proust weiterhin an Robert de Billy. Zur Erinnerung; Proust lernte de
Billy im Militärdienst kennen. Sie waren beide in Orléans stationiert. Proust
verbrachte nur ein Jahr beim Militär, danach kehrte er nach Hause zurück, um zu
schreiben. Dadurch, dass Proust Asthmatiker war, war es leicht, vom Militärdienst
befreit zu werden.
Auf den folgenden
Seiten findet Proust noch andere Autoritäten, mit denen er über seine Zukunft
spricht, da er noch immer nach Auswegen sucht, auch wenn er ernsthaft bemüht ist, es seinem
Vater recht zu machen.
Im November 1893 schreibt
er an Charles Grandjean und bittet
um seinen Rat. Das bedeutet, er ist noch immer auf der Suche, seinen Beruf zu
finden, aber wie es scheint, findet er nur in den hoch geistigen Künsten seine berufliche Heimat. Würde er sich für die Beamtenlaufbahn im Rechnungshof entscheiden, so
müsse er dort schätzungsweise nach zweijähriger Vorbereitungszeit eine Aufnahmeprüfung ablegen,
von der Proust schon jetzt weiß, dass er die Prüfung nicht bestehen werde.
Allerdings sucht Proust eine unentgeltliche Anstellung im Museum, um über
Umwegen doch in der École de Chartes ein Lizenziat in Literatur ablegen zu
können.
Während
dieser Zeit könnte ich, wenn ich feststelle, dass es mir dort gefällt, ganz
nach Ihrem Belieben die École des Chartes, ein Lizenziat in Literatur, die École
du Louvre oder ganz einfach persönliche Arbeiten vorbereiten – und zwar
dergestalt, dass daraus eine Laufbahn für die Zukunft wird, und in Erwartung
des noblen und diskreten Rahmens einer Existenz, die ich durch das Studium
schöner Dinge zu inspirieren und zu veredeln versuchen würde. (157)
Weitere Details sind
den Briefen zu entnehmen.
Mit dem richtigen
Beruf versucht Proust, einen Lebenssinn zu bestimmen, ohne das Gefühl zu
bekommen, in Zukunft sein Leben vertan zu haben. Doch er ist ambivalent, er
weiß nicht so recht, wie er seine beruflichen Pläne umsetzen soll, solange ihm
die Unterstützung seines Vaters fehlt. Weiter schreibt er um Rat bittend an
Grandjean:
Aber ach, Ihr wunderbarer kritischer
Geist wird auch diesen neuen Ballon zerplatzen lassen – oder sagen wir, ich
freue mich darüber, denn Sie verscheuchen für mich die Trugbilder, die das
Gefährlichste überhaupt sind, und ersparen mir auf diese Weise grausame
Enttäuschungen. (158)
Er weiß, dass die
Jugend vorbei ist und somit der Ernst des Lebens beginnt.
Da es früher oder später nicht mehr
reicht, sein Leben zu erträumen, sondern man es leben muss, hätte ich große
Enttäuschungen zu gewärtigen – die größte wäre die, sein Leben vertan zu haben
-, wenn Ihre Erfahrung und Ihre Intuition meinem allzu phantasievollen und zu
unwissenden guten Willen nicht zur Vorsicht rieten. (Ebeda)
Ich erlebe diese
Briefe als einen stillen Hilferuf. Still deshalb, weil Proust diplomatisch
bleibt und auch seinen Vater nicht beschimpft. Er schwankt zwischen den
Erwartungen und den Forderungen seines Vaters, und zwischen seinen eigenen
Plänen, die auch aus seiner Sicht tatsächlich scheitern könnten. Was ist, wenn der Vater recht hat,
und alle seine beruflichen Pläne sich nicht so umsetzen lassen, wie er sich
dies vorstellt?
Zum Schluss habe ich
mich gefragt, weshalb Proust Jura studiert hat? Wurde er dazu gezwungen? Später
geht aus den Briefen hervor, dass er weder Medizin, noch Theologie … studieren
wollte, so blieb ihm wohl nur noch die Justiz. Aber eine Karriere als Anwalt lehnt
Proust vehement ab.
Später bekommt er von
den Agenturen mehrere Angebote gemacht, entscheidet sich aber letztendlich, auf
seinem Museumsplan zu beharren. Da ich nicht alles verraten möchte, erspare ich
mir weitere Details.
Damit es hier nicht
nur um Prousts berufliche Pläne geht, sondern zur Abwechslung auch mal um
begabte Frauen, möchte ich als letztes hierzu noch einen Beitrag leisten.
Proust befindet sich
auf Reisen. Wahrscheinlich zur Erholung. Derzeit ist er mit seiner Mutter in Trouville.
Trouville-sur-Mer ist ein kleines französisches Seebad mit 4642 Einwohnern. Zuvor
verbrachte er drei Wochen in der Schweiz, St. Moritz, und eine Woche am Genfer
See. Er hat von seinen Reiseeindrücken in der Zeitschrift Revue blanche
geschrieben. Er ist wieder von einer Dame angetan, Madame Jameson, eine musische Künstlerin, eine Pianistin, zu der
sich Proust hingezogen fühlt. Er schreibt seinem Freund Robert de Billy, um
über die Pianistin Auskunft zu erlangen, da der Freund diese Dame kennen würde.
Proust schreibt, dass er sich schon bei Madame Straus erkundigt habe,
bestätigte, dass Madame Jameson …
… >recht patent ist, die Wohnung gut aufräumt,
und überall schrubbt< (was sehr geistreich ist, aber meiner Ansicht nach
eher auf andere Anwendung findet als auf diejenige, dich ich für eine so große
Musikerin halte< und auf eine antikünstlerische und abscheuliche Weise
spielt. (153)
Madame Straus scheint
wohl gar nichts von den Künsten Jameson zu halten, drückt es aber eher in
versteckter Weise aus, was Proust ein wenig irritiert, weshalb er eine andere
Meinung sich bei dem Freund einholen möchte. Man weiß nicht mit Bestimmtheit,
wie Madame Straus auf Talente anderer Damen tickt. Vielleicht empfindet sie
einfach nur Neid. Madame Jamesons Herkunft stammt nicht aus der gehobenen
Gesellschaft, weshalb Proust seinen Freund hierbei um Nachsicht bittet, da sie weder
Herzogin noch Prinzessin und nur Protestantin sei. Vielleicht hat Madame Straus
die Pianistin auch deshalb abgewertet bzw. sie auf das Können ihrer Hausarbeit
reduziert, weil sie keinem Adel angehört. Sehr geistreich scheint Madame Straus
aber auch nicht zu sein. Diese wenig geistreichen Menschen treten gehäuft aber
auch in der Recherche auf. Sie sind mir nicht neu.
Telefongespräch mit Anne:
Erneut haben Anne und
ich unsere Leseeindrücke teilen können. Ja, Proust wird jetzt erwachsen und er
spürt deutlich, dass sich seine Jugend und seine Träumereien so langsam dem
Ende neigen. Trotzdem sind wir gespannt, wie es weitergehen wird, denn, dass er
weiterschreiben wird, das wissen wir schon durch seine siebenbändigen
Recherchen. Den letzten Band hat er kurz vor seinem Tod noch beenden können. Anne
meinte, dass man neben dem Beruf sich trotzdem noch mit Büchern befassen könne,
und ich war der Meinung, dass Proust sich mit Literatur als Hobby nicht begnügen
wolle. Er wollte ganz frei sein für sein Schreiben, und so war er nicht bereit,
dieses mit einem anderen Beruf zu teilen. Dazu habe ich oben schon einiges
geschrieben. Interessant fand ich, dass Anne, die meine Buchbesprechung noch gar
nicht gelesen hat, da ich noch am Werkeln bin, dieselben Gedanken und Ideen wie
ich geäußert hat.
Ich weiß noch aus der
Biografie, dass Proust die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat,
weil er sehr krank war. Eine große Karriere, wie der Vater sie für ihn bestimmt
hat, wird er dadurch nicht machen können.
Des Weiteren haben wir
uns über den Briefpartner Robert de Billy ausgetauscht, da ich ihn total
verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war. Aus Annes Namensliste geht
hervor, dass dieser Mensch nur Prousts Briefpartner war. Mehr ist aus der
Fußnote nicht hervorgegangen. Ich wurde schließlich auf einer französischsprachigen
Proust – Seite fündig. Weitere Erklärung sind oben im Text hinterlegt.
Wir sind beide auf
nächstes Wochenende gespannt. Wir sind neugierig, wie bzw. ob Proust aus seiner Bedrängnis
herausfinden wird, ohne es sich mit dem Vater zu verscherzen. Aber Ewachsenwerden bedeutet auch, sich gegen die elterlichen Erwartungen auflehnen zu können, auch wenn hier eine finanzielle Abhägnigkeit besteht.
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Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)
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