Donnerstag, 21. März 2013

Noelle Chátelet / Die letzte Lektion (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Nachdem ich das Buch von Jenny Williams zu Ende gelesen, und darüber geschrieben habe, hatte ich das Bedürfnis nach Fantasie. Die Themen zu Rudolf Ditzen waren schon recht brisant, tief bewegend aber nicht uninteressant. Dadurch allerdings, dass meine Woche ziemlich vollgepackt war, hatte ich mich dann doch für eine andere Lektüre entschieden, und das Fantasy-Buch aufs Wochenende zu vertagen, weil ich mich auf diese außergewöhnliche Bilderwelt mit Zauber und Imaginationen in Ruhe einlassen wollte... .

Deshalb habe ich mit dem obigen Buch begonnen, weil es nicht so dick war und merkte aber recht schnell, dass das Thema auch wieder recht erdrückend war und bin demgegenüber nicht wirklich aufgeschlossen gewesen, und war nah dran, das Buch wieder abzubrechen. Ich konnte aber irgendwann wieder die Kurve kriegen. Aber auch nur, weil das Buch recht dünn war, mehr als diese 150 Seiten hätte ich sicher nicht gepackt. Vieles an Gedanken hatte sich auch wiederholt. Dicker hätte das Buch nicht werden dürfen, man hätte mich damit ermüdet... .

Das Buch ist mehr zwischen Tochter und Mutter in einer reflektierenden, monologischen Art geschrieben und aus der Ich-Perspektive der Tochter erzählt, die viele Dialoge mit der alternden Mutter geistig neu Revue passieren lässt... .

Es geht um eine 92jährige Frau, die in jüngeren Jahren beschlossen hat, ihr Leben selbst zu beenden und hat dafür auch ein bestimmtes Datum vorgesehen. Die Tochter musste das Versprechen geben, dies zu respektieren, damit die Mutter selbstbestimmt aus dem Leben gehen konnte. Der Zeitpunkt rückt immer näher und die Tochter, mittlerweile Anfang sechzig, leidet darunter, dass sich ihre Mutter bald das Leben nehmen wird.

Für sie ist die Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer Mutter wie eine Lektion, die letzte Lektion sozusagen, erfahrend, als würde sie wieder die Schulbank drücken, vergleicht den Lernprozess, dem sie ausgesetzt ist, mit einer Schule.

Ich finde die Textstelle zur Mutter manchmal ein wenig symbiotisch, wo ich denke, dass ein Mensch mit 92 Jahren doch ein Recht hat, sterben zu dürfen. Die Mutter spricht recht gelassen über ihren Tod, frei von Ängsten und Zwängen. Mir hat dazu das folgende Zitat sehr gut gefallen, weil ich es aus dieser Perspektive bisher noch gar nicht betrachtet hatte, was mein Nachdenken über den Tod und meinen gestorbenen Körper betrifft. Es geht darum, den Körper nach dem Ableben den wilden Tieren zum Fraß zu geben, um den Kreislauf des Lebens zu fördern:
Das Problem, dass du möglicherweise von deiner Reise nicht zurückkommen würdest, hast du ohne Umschweife und nicht ohne Humor durch ein außergewöhnliches Ansinnen gelöst, das geradezu legendär bleibt. Du hast den kühnen reichlich ausgefallenen Wunsch geäußert, man solle dich, falls dein Leben dort zu Ende gehe, den Krokodilen im Niger oder einem anderen Fluss zum Opfer bringen, um so den Kreislauf der Natur zu fördern. 32
Immer wieder erinnert die Mutter die Tochter an ihre Abmachung, bis sich die Tochter schließlich genervt zeigt und die Mutter darauf reagiert:
Aber mein Schatz, das tue ich doch nicht aus Grausamkeit, ganz im Gegenteil! Das tue ich, damit du dich daran gewöhnt, damit du dich mit dem Gedanken an meinen Tod vertraut machst. Der Tod, weißt du, lässt sich durchaus zähmen!… 38f
Den Tod zu zähmen, fand ich auch ein interessanter Gedanke, der mir gut gefallen hat. Ich denke, das ist der alten Dame auch gelungen, da sie sich schon lange mit dem Tod auseinandergesetzt hatte.

Die Tochter empfindet so viel Liebe zu der Mutter, dass es mir ein wenig zu eng ist, ja, schon fast symbiotisch. Die Tochter erinnert sich, als sie ihre Mutter angebetet hatte, und sie dabei ausgelacht wurde, als sie davon einer Freundin erzählt hatte. Die Mutter fragt nun:

"Was hat denn deine Freundin geantwortet?" 
"Sie hat gesagt: man betet nur Gott an!" Ich höre noch dein Lachen. Höre noch deine belustigte Antwort, während du mich im Wind, der unsere beiden Körper schüttelt, fester in den Arm nimmst: "Deine Freundin hat schon recht. Dass du mich liebst, genügt mir, mein Schatz." 41
Dass du mich liebst, genügt mir. Fand ich auch sehr schön, dass die Mutter dafür Worte hat finden können und dass die Tochter der Mutter diese Liebe spüren ließ. Allerdings hatte die Tochter schon als kleines Kind immer Verlustängste in der Form, ihre Mutter könne sterben. Diese Verlustangst ist auch haften geblieben bis ins hohe Alter und erinnert sich dabei auch an ihre Geburt:
Ich frage mich, ob du für mich nicht wirklich in dem Augenblick zu sterben begonnen hast, als dieser Geburtsschrei ertönte, indem er meine als Echo meiner Geburt widerhallte. Ich sage >wirklich< im Sinn von > tatsächlich< , denn in der Fantasie habe ich dich schon so oft tot  vor mir gesehen! Meine Kindheit ist erfüllt von gespenstischen Vorstellung deines Todes, die auf meine abgöttliche Liebe und die damit verbundene Angst zurückgeht, dich zu verlieren… 58
Diese Gefühle sind vielen Menschen bekannt, von mir selbst kenne ich die Ursache, während es bei der Ich-Erzählerin nicht gut rüberkommt, weshalb das Kind aus  diesen Ängsten nicht herausgewachsen ist.

Nun komme ich an Textstellen, die mir ein wenig zu symbiotisch sind:
Du hast deinen Platz in mir gefunden. Du hast dich in mir ganz klein gemacht. So stelle ich es mir zumindest vor, wie ich dich sehr organisch - ebenso organisch, wie meine Angst es war - integriert habe, kaum dass du fort warst, kaum dass du dem Leben den Rücken gekehrt hat.Ein gerechter Ausgleich ... Von nun an trage ich dich in mir wie ein Kind. Das ist dein Platz als Tote, ein Platz, den ich mir für den Rest meines Lebens für dich ausgesucht habe. Näher geht es kaum, nicht wahr?Mir ist klar, wie seltsam und auch wie naiv diese Worte klingen. Ich, deine Tochter, sage dir, dass ich dich in mir trage, sowie du mich in dir getragen hast, und noch dazu mit der glücklichen Gewissheit, dass ich dich nicht verlieren werde. Wir werden immer eins sein, nie mehr zwei, endlich vereint ohne Furcht vor einer Trennung, da ich dich nie zur Welt bringen werde. Du bist für immer in mir. 60f
Die Mutter als Tote verinnerlichen? Organisch? Ich finde das Zitat sehr ausdrucksstark aber es löst in mir recht beklemmende Gefühle aus.

Die Tochter sowie auch deren Geschwister mussten lernen zu akzeptieren, dass die Mutter selbst ihren Tod bestimmt. In Würde sterben statt in Unwürde leben, das ist das Lebensmotto der Mutter, während die Tochter diese Art von Tod sie wie eine Strafe begreift:

"Du wolltest, dass die Strafe keine Strafe, sondern im Gegenteil ein Geschenk sein sollte, dass uns eben aus diesem Grund der Kummer erspart blieb. 
" Ich will nicht, dass ihr Kummer habt!" Und daher hast du dir gewünscht, dass deine Kinder deinen freiwilligen Abschied vom Leben als letzten Liebesbeweis betrachten sollten. (…)". 63
Einen lieben Menschen gehen zu lassen und dies lernen als letzten Liebesbeweis zu betrachten, finde ich ein sehr schöner Gedanke. Auf den folgenden Seiten erfährt man, als die Mutter ihre Kinder zu beruhigen versucht in der Betrachtung darin, dass der Tod zum Leben gehöre und der Tod das Natürlichste von der Welt sei. Ja, sachlich gesehen ist das so, jeder weiß von dem Naturgesetz, dennoch erfahrt man dies emotional ein wenig anders. Um diese Reife zu erlangen, wie sie die Mutter erlangt hat, bedeutet es auch, nicht aufzuhören über den eigenen Tod nachzudenken.
Um das >jetzt< zu akzeptieren, musste ich darauf verzichten, dich mit meinen Augen zu betrachten, und bemühte mich stattdessen, dich mit deinen Augen zu sehen. Meine Augen seien zu großzügig, zu nachsichtig, hast du gesagt. Sie wollten nicht sehen, was du sagst: wie verbraucht und > klapprig < du warst, wie gebrechlich, so dass ich dich nicht mehr zurückhalten konnte. 63f
Einen Menschen, mit den Augen seines Gegenüber zu sehen, um ihn besser verstehen zu können, kenne ich auch aus meiner Berufspraxis. Wenn das jeder tun würde, auch im Privaten, hätten wir viel mehr Frieden auf der Welt.
Deine Gebrechlichkeit! Wie sehr hat sie dich gequält! Wie lange hast du mir schon ihre traurige Wirklichkeit anvertraut! Ich fand es im übrigen normal, dieses Wissen mit dir zu teilen, denn wir hatten uns beide verändert, Du und ich, und nie aufgehört, gemeinsam den Wandel, den wir unterworfen waren, zu verfolgen, so wie es unter Frauen manchmal vorkommt, aber wir taten es noch gewissenhafter, weil du meine Mutter warst und ich deine Tochter, gleichermaßen deine Verlängerungen, dein Abbild. 64
Die Verlängerung, ihr Abbild fand ich ein wenig zu nah, zu eng. Der Mensch hat ein Recht auf die eigene Persönlichkeit.

Dass der Tod in der Gesellschaft tabuisiert wird, geht auch aus dieser Lektüre hervor. Die Mutter, die erklärt, weshalb sie den Tod vorzieht, findet zum Schluss mehr oder weniger Verständnis bei der Tochter, aber gleichzeigt auch Verständnis von der Gesellschaft erwarten? Geht das?

"Der Entschluss, die Augen zu schließen und deinem Leben ein Ende zu setzen, hieß Belohnung. Der Wunsch zu sterben war nicht unwürdig, der Wunsch dazubleiben dagegen, so müde, wie du warst, wäre es gewesen. Schwierig, das den Leuten später zu erklären:
"Aber warum hat sich Ihre Mutter denn das Leben genommen? War sie krank?"
"Nein. Sie war müde." 
Unverständnis. "Müde? War das vielleicht ein Grund zu sterben?" 112
Ich finde, dass das Buch schon sehr zum Nachdenken anregt, auch wenn mir diese Beziehung zwischen Mutter und Tochter ein wenig zu eng ist. Dennoch betrachte ich das Buch als ein Plädoyer für die aktive Sterbebegleitung.

Das Buch bekommt von mir acht von zehn Punkten.
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 „Wo viel Liebe ist, kann sich das Böse nicht entfalten“
         (Aus der Zauberflöte, Mozart)

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