Seite 142 – 152
Auf den folgenden zehn
Seiten beginnen die Briefe nun richtig schwierig zu werden, da es hier
ausschließlich um Literaturgespräche geht, was zwar spannend ist, aber vieles
ist für uns schwer vorstellbar. Einfacher wird es, wenn das Zwischenmenschliche
zwischen Proust und seinen Zeitgenossen auch eine Rolle spielt. Aber es macht
mir großen Spaß, mich mit dem Gelesenen schriftlich zu befassen und mich mit Anne auszutauschen. Aber man merkt ganz deutlich, wie Prousts Leben aus der Literatur heraus sprießt. Sein Leben ist Literatur. Und Literatur ist sein Leben.
25.06.1893, noch ist hier Proust 21
Jahre alt
Der Brief geht an Robert
de Montesquiou, *07.03.1855 in Paris, gest. 11.12.1921 in Menton (süd-osten
Frankreich)
Montesquiou hat zu dieser
Zeit zwei Lyrikbände geschrieben, wovon der zweite Le Chef des odeurs sauaves erst
im Januar 1894 erscheinen sollte. Der erste Gedichtband Les Chauves – Souris,
wurde 1892 verlegt. Proust ist ganz hin- und weg von den Gedichten, die recht
blumige Bilder darstellen, weil sie auch blumig geschrieben sind, wobei dies
sicher Naturbetrachtungen sind. Viele Gedichte aus der Natur, so schwärmt
Proust mit folgenden Worten:
Seit heute Morgen liege ich auf dieser Sternenweide und bewundere diesen Blütenhimmel, und ich bin bezaubert von all diesen Düften, berauscht von all dieser Klarheit, und wie die Lotophagen (Lotosesser, Anm. M. P.) habe ich keinen Gedanken mehr an eine Rückkehr und wünsche auch nicht, dass es eine solche gebe.
Total trunken ist
Proust von den Gedichten Montesquious aus dem zweiten Gedichtband. Er sieht die
Natur geistig vor sich, als würde er mitten auf einer Wiese liegen. Das finde
ich genial, wie sehr er die Gedichte inhaliert, als seien sie eine Droge. In
der Natur findet Proust das Göttliche …
Aber für alles, was nicht Gegenstand des Denkens ist – denn die göttliche Vernunft, die solches erfasst, ist frei von Zeit, Raum und Bezügen -, für alles, was vollkommen geheimnisvoll wie die Musik oder der Glaube, finden sich hier (…) Verse, die es erahnen lassen und es offenbaren, in dem sie es verkörpern. (143)
Wow, wie schön sich
mir dieses proustische Bild vor Augen offenbart. Ich kann mir so gut
vorstellen, wie Proust sich von diesen wundervollen Gedichten verzaubern lässt.
Proust bittet um ein Foto des Dichters. Platonische Liebe?
Das sind nur kleine
Ausschnitte, dich ich hier beschrieben habe. Weitere Gedanken zu den Gedichten sind
dem Buch zu entnehmen.
Anfang Juli 1893
korrespondiert Prost erneut mit Montesquiou. Gesprächsgegenstand sind nicht nur
die Gedichte, sondern hier geht es zur Abwechslung mal wieder um eine bestimmte
Frau. Ein brisantes Thema, denn auch hier scheint Proust vor Rätseln zu stehen.
Viel mehr vergleicht Proust die Schönheit dieser Frau mit den Gedichten des
Dichters. Die Dame, um die es hier geht, ist die Comtesse de Greffulhe,
geb. 04.Juli 1860, gest. 21.08.1952. Die Dame habe auf Proust einen großen
Eindruck hinterlassen, und so bittet er den Dichter, ihm der Dame ausrichten zu
lassen, wie sehr er sie bewundert habe, da Montesquiou öfters mit dieser Dame
zu tun bekommen würde. Aber mir war nicht klar, in welcher Verbindung
Montesquiou zu ihr stand. Dies wird sich später klären, siehe am Ende unter Telefongespräch mit
Anne.
Sie trug eine Frisur von polynesicher Anmut, und malfarbene Orchideen fielen ihr bis in den Nacken wie die >Blumenhüte<, von denen Renan spricht. Sie ist schwer zu beurteilen, wahrscheinlich, weil beurteilen vergleichen heißt und nichts an ihr auszumachen ist, was man weder bei einer anderen noch irgendwo sonst hätte sein können. Doch das ganze Mysterium ihrer Schönheit liegt im Glanz, vor allem im Rätsel ihrer Augen. Nie habe ich eine so schöne Frau gesehen. Ich habe nicht dazu gebeten, ihr vorgestellt zu werden, und werde nicht einmal Sie darum bitten, denn außer der Aufdringlichkeit, die darin liegen könnte, würde ich, wie mir scheint, eine eher schmerzhafte Verwirrung empfinden, wenn ich mit ihr zu sprechen hätte. Aber es wäre mir lieb, sie würde von dem großen Eindruck hören, den sie auf mich gemacht hat, (…) . Ich hoffe, Ihnen weniger zu missfallen, indem ich diejenige bewundere, die Sie über alles bewundern und die ich von nun an nach Ihnen, Ihnen gemäß (…) >in Ihnen< bewundern werde. (145f.)
Dass die Augen das
Fenster zur Seele sind, ist bekannt, und dies nicht nur bei den Augen einer
Frau.
Auch hier idealisiert
Proust sowohl den Dichter als auch die Comtesse, und er hofft insgeheim, der
Dichter würde sie ihm vorstellen. Er unterzeichnet mit Ihr respektvoller Bewunderer … .
In einem weiteren
Brief vergleicht Proust Montesquiou mit dem Dichter Charles Baudelaire, geb. 09.04.1821 in Paris, gest. 31.08.1867 ebenda. Proust
ist der Meinung, dass beide Dichter gut in die Zeit des 17. Jahrhunderts passen
würden. Er erwähnt hierbei Verse von Maxime und Corneille. Aber welchen Maxime
und welchen Corneille er meint, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Von
Charles Baudlaire besitze ich einen Gedichtband von Die Blumen des Bösen. Habe ich vor vielen, vielen Jahren von einem
Freund geschenkt bekommen.
04. August 1893, 22 Jahre
Schreibt Proust wieder
an Daniel Halévy
Proust, Halévy, Gregh und
de la Salle planen gemeinsam, ein Scheibprojekt in Form eines Briefromans.
Inspiriert sind sie durch das Vorbild Theophile Gautier (u. a. m.), s. Fußnote
1, Seite 148f. Proust bittet Daniel, längere Briefe zu schreiben, da seine
Briefe zu kurz ausfallen würden.
Sie alle schreiben
unter einem Pseudonym. Proust bittet alle Teilnehmer, die Briefe gut
aufzubewahren, um sie später in der Reihenfolge nochmals lesen zu können. Aus
der Fußnote 1, Seite 45, geht hervor, dass das Schreibprojekt gescheitert war.
Im September 1893
schreibt Proust Monsieur Natanson, das muss der Redakteur der
Literaturzeitschrift Revue Blanche sein, und bittet ihn, ein paar Gedanken zu
dem neuen Gedichtband zu Montesquiou zu schreiben, bevor er im folgenden Jahr
veröffentlicht werde. Proust selbst hat eine Novelle geschrieben, Mélancolique …, siehe Fußnote Seite 152.
Telefongespräch mit Anne, 16.06.2019
Uns ist beiden
aufgefallen, dass selbst die Fußnoten, die eigentlich sehr umfangreich sind,
Lücken aufweisen. Wir wussten beide nicht, wer denn die Dichter aus dem 17.
Jahrhundert waren? Wer sind Maxime und Corneille? Ich hatte gegoogelt und es
gab zig Maximes. Mit Corneille war ich erfolgreicher, denn es handelt sich um
den Dichter Pierre Corneille, der 1606 in Rouen geboren und 1684 in Paris
gestorben ist. Er war Dichter und Dramatiker.
Anne hat im Netz herausgefunden,
dass Montesquiou homosexuell war, denn seine blumige, lyrische Sprache ließ
sie stutzig werden. Aus den Briefen geht das noch nicht hervor, bin aber
gespannt, ob diese Thematik später aus Prousts Feder noch fließen wird.
Und wir hatten beide
den Eindruck, dass Proust Montesquiou idealisiert hatte, demgegenüber auch die
Comtesse Gremfulhe, die nachweislich eine Cousine des Dichters gewesen ist. Leider
ging diese Info weder aus Prousts Briefen, noch aus der Fußnote hervor. Das
bedeutet, dass wir gezwungen sind, Nachforschungen zu betreiben, um die Briefe
besser zu verstehen, was mit viel Arbeit verbunden ist.
______________
Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)
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