Sonntag, 23. Juni 2019

Berufliche Neuorientierung / Selbstfindungsphase

Seite 152 – 162  

Auf den folgenden zehn Seiten strebt der junge Marcel Proust unter dem Druck seiner Eltern eine berufliche Laufbahn an. Ein Dilemma, wie man es schon von verschiedenen anderen Künstlern her kennt. Die Schriftstellerei als Existenzsicherung scheint für Prousts Vater zu ungewiss zu sein. Schreiben als Hobby neben einem anderen Beruf ist durchaus machbar. Aber Proust schreibt nicht zum reinen Vergnügen, sondern professionell. Profession bedeutet in meinen Augen, einen ganzen Arbeitstag mit dem Schreiben zu verbringen. Damit ist nicht nur das Schreiben impliziert, sondern auch die Zeit, die er auf der Suche nach seinem Stoff noch zusätzlich benötigt. Wo soll da noch Zeit sein, einem anderen Beruf nachzugehen? Ich denke dabei auch an die vielen Profimusiker, die Virtuosen unter uns, die täglich mindestens acht Stunden mit Übungen zubringen, wie ich mir von echten Profis habe sagen lassen. Ein Laie übt wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde am Tag.

Proust sucht verzweifelt nach Kompromissen, später nach einer patenten Lösung.

September 1892, 22 Jahre
Brief an Robert de Billy

Er schreibt in dem Brief an seinen Freund Robert de Billy, spricht sich in dem Brief aus, dass er in der allergrößten Verlegenheit stecken würde, da er auf den Druck seines Vaters sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden müsse. Durch Anraten seines Vaters strebt Proust eine Beamtenlaufbahn zwischen dem Rechnungshof und dem Dienst im Außenministerium in Paris an. Aber beides empfindet Proust als eine >>geisttötende Laufbahn<<. Obwohl Proust Jura studiert hat, und er sein Lizenziat im Oktober 1893 bestanden hat, drängte sein Vater auf eine zügige Berufswahl. Im Folgenden zeigt Proust dem Freund seine innere Not, für die sein Vater wenig Verständnis aufzubringen scheint. Ich zitiere folgende Textstelle, da ich so sehr mit Proust mitfühlen kann:
Ach, mein Freund, mehr denn je wäre mir Ihr Rat hier teuer, und ich leide sehr unter ihrer Abwesenheit. Möge sie doch ein schöner Brief durch das allmächtige Wunder der kommunizierenden Geister aufheben. – Genießt die höhere Verwaltungslaufbahn nicht zu wenig Ansehen? Was bleibt da noch, wo ich entschlossen bin, weder Anwalt zu werden noch Arzt, noch Priester, noch -, (154).

Ende September 1893 schreibt Proust diesbezüglich an den Vater …

… und bittet indirekt erneut darum, seine Studien in Philosophie und in der Literatur weiter fortsetzen zu dürfen, worauf der Vater sich in Schweigen hüllte. Aber Proust ist nachgiebig, zeigt sich weder motzig, noch rebellisch dem Vater gegenüber und sucht nach einer Lösung, mit der beide gut leben können.
Mon cher petit Papa,ich habe immer gehofft, deine Erlaubnis für die Fortsetzung der literarischen und philosophischen Studien zu erhalten, für die ich mich geschaffen glaube. Aber da ich sehe, dass mit jedem Jahr nichts weiter als eine immer aufs Praktische gerichtete Disziplin auf mich zukommt, will ich mich lieber gleich für eine dieser praktischen Laufbahn entscheiden, die du mir vorschlugst. Ich werde ernstlich darangehen, ganz nach Deiner Wahl, die Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst oder für die École nationale des Chartes vorzubereiten. (155)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die École national … die Schüler auf einen höheren Dienst für Bibliotheken, Archiven und Museen vorbereitet.
Was die Anwaltskanzlei angeht, so würde ich noch tausend Mal lieber bei einem Wechselmakler anfangen. Du kannst übrigens sicher sein, dass ich es dort keine drei Tage aushalten würde! Es ist nicht so, dass ich nach wie vor alles außer der Beschäftigung mit Literatur und Philosophie für verlorene Zeit hielte. Aber unter mehreren Übeln gibt es kleinere und größere. Ich habe mir, selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung, nie etwas Furchtbareres als eine Anwaltskanzlei vorstellen können. Der Botschaftsdienst, der mir jene ersparen würde, scheint mir zwar nicht meine Berufung zu sein, aber ein Ausweg. (155f)

Auf der Seite 152 schreibt Proust weiterhin an Robert de Billy. Zur Erinnerung; Proust lernte de Billy im Militärdienst kennen. Sie waren beide in Orléans stationiert. Proust verbrachte nur ein Jahr beim Militär, danach kehrte er nach Hause zurück, um zu schreiben. Dadurch, dass Proust Asthmatiker war, war es leicht, vom Militärdienst befreit zu werden.

Auf den folgenden Seiten findet Proust noch andere Autoritäten, mit denen er über seine Zukunft spricht, da er noch immer nach Auswegen sucht, auch wenn er ernsthaft bemüht ist, es seinem Vater recht zu machen.

Im November 1893 schreibt er an Charles Grandjean und bittet um seinen Rat. Das bedeutet, er ist noch immer auf der Suche, seinen Beruf zu finden, aber wie es scheint, findet er nur in den hoch geistigen Künsten seine berufliche Heimat. Würde er sich für die Beamtenlaufbahn im Rechnungshof entscheiden, so müsse er dort schätzungsweise nach zweijähriger Vorbereitungszeit eine Aufnahmeprüfung ablegen, von der Proust schon jetzt weiß, dass er die Prüfung nicht bestehen werde. Allerdings sucht Proust eine unentgeltliche Anstellung im Museum, um über Umwegen doch in der École de Chartes ein Lizenziat in Literatur ablegen zu können.
 Während dieser Zeit könnte ich, wenn ich feststelle, dass es mir dort gefällt, ganz nach Ihrem Belieben die École des Chartes, ein Lizenziat in Literatur, die École du Louvre oder ganz einfach persönliche Arbeiten vorbereiten – und zwar dergestalt, dass daraus eine Laufbahn für die Zukunft wird, und in Erwartung des noblen und diskreten Rahmens einer Existenz, die ich durch das Studium schöner Dinge zu inspirieren und zu veredeln versuchen würde. (157)

Weitere Details sind den Briefen zu entnehmen.

Mit dem richtigen Beruf versucht Proust, einen Lebenssinn zu bestimmen, ohne das Gefühl zu bekommen, in Zukunft sein Leben vertan zu haben. Doch er ist ambivalent, er weiß nicht so recht, wie er seine beruflichen Pläne umsetzen soll, solange ihm die Unterstützung seines Vaters fehlt. Weiter schreibt er um Rat bittend an Grandjean:
Aber ach, Ihr wunderbarer kritischer Geist wird auch diesen neuen Ballon zerplatzen lassen – oder sagen wir, ich freue mich darüber, denn Sie verscheuchen für mich die Trugbilder, die das Gefährlichste überhaupt sind, und ersparen mir auf diese Weise grausame Enttäuschungen. (158)

Er weiß, dass die Jugend vorbei ist und somit der Ernst des Lebens beginnt.
Da es früher oder später nicht mehr reicht, sein Leben zu erträumen, sondern man es leben muss, hätte ich große Enttäuschungen zu gewärtigen – die größte wäre die, sein Leben vertan zu haben -, wenn Ihre Erfahrung und Ihre Intuition meinem allzu phantasievollen und zu unwissenden guten Willen nicht zur Vorsicht rieten. (Ebeda)

Ich erlebe diese Briefe als einen stillen Hilferuf. Still deshalb, weil Proust diplomatisch bleibt und auch seinen Vater nicht beschimpft. Er schwankt zwischen den Erwartungen und den Forderungen seines Vaters, und zwischen seinen eigenen Plänen, die auch aus seiner Sicht tatsächlich scheitern könnten. Was ist, wenn der Vater recht hat, und alle seine beruflichen Pläne sich nicht so umsetzen lassen, wie er sich dies vorstellt?

Zum Schluss habe ich mich gefragt, weshalb Proust Jura studiert hat? Wurde er dazu gezwungen? Später geht aus den Briefen hervor, dass er weder Medizin, noch Theologie … studieren wollte, so blieb ihm wohl nur noch die Justiz. Aber eine Karriere als Anwalt lehnt Proust vehement ab.

Später bekommt er von den Agenturen mehrere Angebote gemacht, entscheidet sich aber letztendlich, auf seinem Museumsplan zu beharren. Da ich nicht alles verraten möchte, erspare ich mir weitere Details.

Damit es hier nicht nur um Prousts berufliche Pläne geht, sondern zur Abwechslung auch mal um begabte Frauen, möchte ich als letztes hierzu noch einen Beitrag leisten.

Proust befindet sich auf Reisen. Wahrscheinlich zur Erholung. Derzeit ist er mit seiner Mutter in Trouville. Trouville-sur-Mer ist ein kleines französisches Seebad mit 4642 Einwohnern. Zuvor verbrachte er drei Wochen in der Schweiz, St. Moritz, und eine Woche am Genfer See. Er hat von seinen Reiseeindrücken in der Zeitschrift Revue blanche geschrieben. Er ist wieder von einer Dame angetan, Madame Jameson, eine musische Künstlerin, eine Pianistin, zu der sich Proust hingezogen fühlt. Er schreibt seinem Freund Robert de Billy, um über die Pianistin Auskunft zu erlangen, da der Freund diese Dame kennen würde. Proust schreibt, dass er sich schon bei Madame Straus erkundigt habe, bestätigte, dass Madame Jameson … 
… >recht patent ist, die Wohnung gut aufräumt, und überall schrubbt< (was sehr geistreich ist, aber meiner Ansicht nach eher auf andere Anwendung findet als auf diejenige, dich ich für eine so große Musikerin halte< und auf eine antikünstlerische und abscheuliche Weise spielt. (153)

Madame Straus scheint wohl gar nichts von den Künsten Jameson zu halten, drückt es aber eher in versteckter Weise aus, was Proust ein wenig irritiert, weshalb er eine andere Meinung sich bei dem Freund einholen möchte. Man weiß nicht mit Bestimmtheit, wie Madame Straus auf Talente anderer Damen tickt. Vielleicht empfindet sie einfach nur Neid. Madame Jamesons Herkunft stammt nicht aus der gehobenen Gesellschaft, weshalb Proust seinen Freund hierbei um Nachsicht bittet, da sie weder Herzogin noch Prinzessin und nur Protestantin sei. Vielleicht hat Madame Straus die Pianistin auch deshalb abgewertet bzw. sie auf das Können ihrer Hausarbeit reduziert, weil sie keinem Adel angehört. Sehr geistreich scheint Madame Straus aber auch nicht zu sein. Diese wenig geistreichen Menschen treten gehäuft aber auch in der Recherche auf. Sie sind mir nicht neu.

Telefongespräch mit Anne:
Erneut haben Anne und ich unsere Leseeindrücke teilen können. Ja, Proust wird jetzt erwachsen und er spürt deutlich, dass sich seine Jugend und seine Träumereien so langsam dem Ende neigen. Trotzdem sind wir gespannt, wie es weitergehen wird, denn, dass er weiterschreiben wird, das wissen wir schon durch seine siebenbändigen Recherchen. Den letzten Band hat er kurz vor seinem Tod noch beenden können. Anne meinte, dass man neben dem Beruf sich trotzdem noch mit Büchern befassen könne, und ich war der Meinung, dass Proust sich mit Literatur als Hobby nicht begnügen wolle. Er wollte ganz frei sein für sein Schreiben, und so war er nicht bereit, dieses mit einem anderen Beruf zu teilen. Dazu habe ich oben schon einiges geschrieben. Interessant fand ich, dass Anne, die meine Buchbesprechung noch gar nicht gelesen hat, da ich noch am Werkeln bin, dieselben Gedanken und Ideen wie ich geäußert hat.

Ich weiß noch aus der Biografie, dass Proust die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat, weil er sehr krank war. Eine große Karriere, wie der Vater sie für ihn bestimmt hat, wird er dadurch nicht machen können.

Des Weiteren haben wir uns über den Briefpartner Robert de Billy ausgetauscht, da ich ihn total verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war. Aus Annes Namensliste geht hervor, dass dieser Mensch nur Prousts Briefpartner war. Mehr ist aus der Fußnote nicht hervorgegangen. Ich wurde schließlich auf einer französischsprachigen Proust – Seite fündig. Weitere Erklärung sind oben im Text hinterlegt.

Wir sind beide auf nächstes Wochenende gespannt. Wir sind neugierig, wie bzw. ob Proust aus seiner Bedrängnis herausfinden wird, ohne es sich mit dem Vater zu verscherzen. Aber Ewachsenwerden bedeutet auch, sich gegen die elterlichen Erwartungen auflehnen zu können, auch wenn hier eine finanzielle Abhägnigkeit besteht.
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Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

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