Sonntag, 9. Juni 2019

Konfliktklärung mit Monsieur Desjardins und Madame Straus

Seite 133 – 143   

Juli / August 1892 – Juni / Juli 1893 (21
 – 23 Jahre)

Auf den folgenden zehn Seiten bekommt man es mit einem Marcel zu tun, der sich mit 21 / 23 Jahren im Jurastudium befindet, und verschiedene Examensprüfungen vor sich hat.

Hier wendet sich Proust brieflich an Fernand Gregh. Fernand Gregh, geboren 1873, ist Prousts jüngerer Schulkamerad aus dem Lycee Concorcet. Gregh ist auch Mitbegründer der Literaturzeitschrift von Le Banquet. Gregh ist Schriftsteller und Literaturkritiker geworden. Marcel befindet sich allein in Paris, während seine Familie wegen mehrerer Asthmaanfälle ohne ihn nach Auteuil aufgebrochen ist. Proust sehnt sich nach Gesellschaft und bittet Gregh um einen abendlichen Besuch. Dass die Familie ihn alleine gelassen hat, wundert mich sehr, wo der Vater doch Arzt ist. An Asthma sind schon viele Menschen noch bis in den 1970er Jahren gestorben. Die Patient*innen erleiden einen grauenvollen Erstickungstod. Vielleicht war diese Atemwegserkrankung damals noch unerforscht. Aber wenn man mitbekommt, wie es einem Patienten dieser Art geht, wenn er sich in einem Anfall befindet, erschrickt man als Außenstehende gewaltig. Ein Asthmatiker hat ständig den Tod vor Augen.

Proust beschreibt sich hier als untröstlich, da ihm ein Examen bevorsteht, für das er den ganzen Tag lernen müsste. Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass er den ersten Teil seiner Jura-Prüfung ablegen müsse.

Proust ist immer sehr freundlich und wohlwollend zu seinen Briefpartner*innen.

Dez. 1892, 21 Jahre
Der nächste Brief geht an Paul Desjardins. Begründer der Zeitschrift Bulletin de L´Union pour láction morale, die am 07. November 1892 erstmals erschienen ist. Dies scheint keine sehr anspruchsvolle Zeitschrift zu sein, wie sich mein Verdacht aus der Fußnote bestätigen lässt. Proust entschuldigt sich bei Desjardins, dass er die Zeitschrift noch nicht abonniert habe.
Ein so schöner Brief, und wieder gebraucht dieser Marcel interessante Bilder im Ausdruck. In der Fußnote steht, dass mit dem Bulletin keinerlei literarischen Absichten verfolgt werden.
Proust kritisiert Desjardins. Es ist, als würde man einem Bettler Parfüm vor die Füße sprühen, statt ihn mit einem Mantel anzukleiden. Die Zeitschrift betrachtet Proust als etwas ganz Armseliges, ohne Esprit, das die Seele mit falscher Barmherzigkeit vertrocknen lässt.
Und gehorcht nicht derjenige, der Parfüm zu Füßen eines Armen versprühte, anstatt ihn zu kleiden, eher der künstlerischen Lust an einer so großartig unnützen Handlung als dem guten Willen, einem Armen etwas Gutes zu tun. (134)
Ich finde es sehr mutig von diesem jungen Menschen, wie er seine Partner mit (konstruktiver) Kritik konfrontiert. Auch hier schließt er den Brief sehr höflich und wohlwollend ab.

Anfang des Jahres 1893, 21,5 Jahre
Interessant ist auch der folgende Brief, der an Madame Geneviève Straus geht, mit der wir es schon aus den letzten Briefen zu tun bekommen haben.

Er bezeichnet diese Dame als geheimnisvoll aber auch als zu oberflächlich. Aber er würde geheimnisvolle Frauen lieben, was er in der Literaturzeitung Le Banquet geschrieben hat. Man darf Proust nicht begegnen. Er stellt öffentlich jeden Menschen an den Pranger, mit dem er es zu tun bekommt.
Aber ich kann sie nicht mehr ganz so lieben, und ich werde Ihnen sagen, warum, auch wenn das überhaupt keinen Sinn hat, aber Sie wissen ja, dass man seine Zeit mit Dingen verbringt, die keinen Sinn haben oder sogar schädlich sind, vor allem, wenn man liebt, und selbst dann, wenn man etwas weniger liebt. Sie glauben, dass man seinen Charme verfliegen lässt, wenn man zu offenherzig ist, und ich glaube, dass das stimmt. Aber ich muss Ihnen sagen, wie es sich mit Ihnen verhält. Man sieht Sie meist in Gesellschaft von zwanzig anderen Personen (…). Aber ich vermute, dass man es nach einigen Tagen doch schafft, Sie für einmal allein zu sehen. Sie haben nur fünf Minuten Zeit, und selbst während dieser fünf Minuten denken Sie an etwas anderes. Aber das ist noch gar nichts. Wenn man mit Ihnen über Bücher spricht, halten Sie das für pedantisch, wenn man mit Ihnen über Leute spricht, halten Sie das für indiskret (…) oder neugierig, wenn man Fragen stellt, wenn man mit Ihnen über Sie spricht, halten Sie das für lächerlich. So ist man schon hundertmal an dem Punkt angelangt, Sie für sehr viel weniger entzückt zu halten. (136)
Seine Zeit mit Dingen verbringen, die keinen Sinn machen, da keimte im Proust schon der Stoff für seinen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sinnlos die Zeit abzutun, wie ich es schon in meiner Proust Satire beschrieben habe, und freue mich, mich hier wieder bestätigt zu sehen. 

Proust spricht hier zum ersten Mal von einer platonischen Liebe, die ich aus den letzten Briefen herausgelesen hatte, besonders in der Korrespondenz mit Daniel Halévy. Proust scheint viel von seinen Mitmenschen zu halten, er empfindet für sie tatsächlich auch eine geschlechtslose, eine geistige Liebe. Das stimmt mich nachdenklich, denn es ist dadurch nicht erwiesen, ob er tatsächlich homosexuell ist.
Da ich Ihre hübschen Vorschriften über den falschen Ton befolgen will, möchte ich nicht genauer werden. Aber ich bitte Sie, denken Sie darüber nach. Seien Sie der platonischen Liebe gegenüber aufgeschlossener, in der Ihnen, wie ich Sie glauben und zu erlauben bitte, Ihr ergebener Diener respektvoll zugetan ist. (136f)
Ich denke, dass Madame Straus Probleme hatte mit Prousts Offenheit, weswegen sie sich schwertat, sich ihm zu öffnen. Er schwatzt halt auch tatsächlich alles heraus, was er mit seinen Mitmenschen erlebt, sie dazu noch in der Öffentlichkeit bloßstellt. Das mag nicht jeder.

Juni 1893, noch 21 Jahre
An Robert de Billy

In diesem Brief erfährt man, dass Proust im August nach Abschluss seiner Examensprüfung in die Schweiz nach St. Moritz reisen möchte, der von Monsieur Robert de Montesquiou und Madame Howland empfangen wird. Proust hat Madame Howland seine Erzählung Mélancolique … zukommen lassen.

Fasziniert finde ich, dass Proust so viele Literaturpartner*innen hat und er immer im Austausch gehobener literarischer Themen steht. Dafür bewundere ich ihn sehr.

Seine Examensprüfungen hat Proust alle bestanden.

Telefongespräch mit Anne
Auch Anne ist der Meinung, dass es gar nicht klar ist, dass Proust homosexuell ist. Seine blumige Sprache lässt dazu verleiten. Bei uns ist diese Art von Ausdruck gar nicht üblich. Schon gar nicht von einem Mann.
______________
Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

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