Sonntag, 30. Juni 2019

Marcel Proust und die Korrespondenz mit Reynaldo Hahn

Seite 162 – 173  

Auf den folgenden zehn Seiten haben wir, Anne und ich, mit zwei Ausnahmen nicht viel finden können, was uns in unserem Denken hätte weiterbringen können.
Aber in einer Sache konnte unsere Neugier befriedigt werden, und zwar darin, dass sich Marcel wohl bei seinen Eltern, was die Berufsfindung betrifft, hat durchsetzen können. Er hatte sich im Dezember 1893 an der Pariser Sorbonne Universität in Philosophie eingeschrieben und bestand sein Lizenziat im März 1895 nach mehreren Nachhilfestunden, die seine Mutter in Auftrag geben hatte. Die Nachhilfestunden nahm Proust bei seinem ehemaligen gymnasialen Philosophielehrer Alphonse Darlu.

Proust muss in Philosophie wahrscheinlich, wie aus der Fußnote hervorgeht, unter der Anleitung von Alphonse Darlu jede Menge Aufsätze schreiben, wovon einer das Glück behandelt, in dem Proust beweisen soll, dass es das Glück auch gibt, und tut sich schwer damit.
Ich muss Aufsätze schreiben, in denen ich beweisen soll, dass es ein Glück gibt. Da ich ein guter Schüler und Sohn bin, tue ich das auch, da ich ein schlechter Philosoph bin, tue ich es nur schlecht.

Wahrscheinlich hat Prousts Mutter deshalb Nachhilfestunden erwirkt, um ihren Sohn bei den Abschlussprüfungen zu unterstützen. Man kennt Proust ja nur als Musterschüler, während er dies in Philosophie nicht zu sein scheint. Aber ich vermute eher, dass dies nicht einer intellektuellen Fehleistung geschuldet ist, sondern dass Proust seine eigene philosophische Sichtweise zu manchen Dingen hat. Denn wie soll er über das Glück schreiben können, wenn er so seine Zweifel dazu hat?
Aber vor allem glaube ich nicht daran. Ich glaube, dass jeder sein eigenes Glück hat – wenn er es denn hat. Und ein Wunsch, der für jemanden ein Glück herbeiruft, das er vielleicht gar nicht haben will, wäre ein recht unvorsichtiger Wunsch.

Dabei denke ich an einen Spruch, der lautet, passe auf, was du dir wünschst, denn er könnte in Erfüllung gehen. Proust schreibt dazu an Horac de Landau. Mir ist dieser Briefpartner fremd. 
Ich weiß nicht genau, was Sie begehren, und so spreche ich sehr vage Wünsche aus. Aber ich mache mir keinerlei Sorgen über ihre Verwirklichung. Sie tragen das Glück in sich: Das ist der sicherste, wenn nicht der einzige Weg, es zu erlangen. (164) 

Weitere Details über das Glück sind dem Buch zu entnehmen. Obwohl Proust so jung ist, ist er ein so weiser Mensch, dass er mich damit innerlich tief berührt. Er lässt mich an meine eigenen philosophischen Gedanken denken, die ich auch in diesem Alter reichlich hatte.

Weitere Korrespondenzen erfolgen auf diesen Seiten mit dem Dichter Robert de Montesquiou, der uns mittlerweile vertraut ist. Auf eine davon möchte ich kurz eingehen. Genaues Datum kann im Buch nicht wiedergegeben werden, da mit Fragenzeichen versehen.

Robert de Montesquiou (Schriftsteller)
13. Mai 1894, Marcel ist noch 22 Jahre alt

In dem Brief bittet Proust seinen Briefpartner, die beigefügte Studie zu lesen. Auf welche Studie sich Proust bezieht, ist laut der Fußnote nicht eruierbar, weshalb ich nicht wirklich näher darauf eingehen möchte. Interessant ist halt, dass diese Studie etwas mit dem Dichter selbst zu tun haben muss. Eine Kritik an Montesquiou? Proust schreibt;
>wenn Sie die Güte haben, die beigefügte Studie zu lesen, werden Sie verstehen, warum ich Ihnen heute Abend besonders dankbar bin (die Studie ist alt, ich hätte Sie Ihnen nicht geschickt, aber sie ist – leider! – auch aktuell, und zwar Ihretwegen). Gestatten Sie mir, dass ich keine Rechtfertigungen hinzufüge.

Proust äußert Kritik, durchleuchtet das Innenleben dieses Dichters und schon aus den letzten Briefen ging hervor, dass er lernen wolle, sich für seine Meinung nicht mehr rechtfertigen zu wollen. 
Ich verzichte von nun an darauf, da ich davon überzeugt bin, dass wir uns, sobald eine gewisse Tiefe erreicht ist, nicht verstehen können, was ich allerdings nicht allzu tragisch nehme. Die Maxime >Wohl dem, der zu hören weiß< ist zu eng gefasst. Wer nur schlecht hört, kann auf andere Weise >köstlich< sein. Warum sollte man aus griesgrämigem Starrsinn seinen Freuden entsagen?

Nun folgt ein Gedanke, der genial ist, und den ich mir erst hier auf meiner Seite, dann auf meine Brust schreiben werde, deshalb der Fettdruck, der dadurch durch mich  hervorgehoben ist …
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.

Warum will man das denn, dieses immer verstanden werden wollen? Wir leben nicht, um immerwährend anderen gefallen zu müssen. Man schränkt sich ein, wenn man immer nur das tut, was die Gesellschaft von einem erwartet.

Ich finde, dass auch dieser Brief voller Weisheit ist. 
>Wenn diejenigen, die Schicksale missverstehen, sie auf andere Weise verschönern, warum soll man sie mit Vorwürfen ermüden, die sie unvermeidlich weder hören noch verstehen und die Ihnen alles in allem höchst lästig sind. (162)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Schade finde ich nur, dass man nicht weiß, was diese Studie belegt und was sie mit dem Dichter faktisch gemeinsam hat.

September 1894, 23 Jahre
Briefpartner Roynaldo Hahn?

Hier schreibt Proust über seine Gedichte bzw. Prosastücke zur Mondscheinsonate, die er auch der Madame Straus hat lesen lassen, die von den romantischen Gedichten sehr angetan gewesen sein soll. Proust ist gespannt, wie Hahn die Gedichte interpretieren wird. Mit Hahn gehen auch musische Gespräche hervor wie z. B. über Wagners Musikstück Lohengrin.

16. September 1894 und 16. Oktober 1894, 23 Jahre
An Reynaldo Hahn, Komponist

Zwei fragwürdige Briefe, in dem Proust sich als Pony zu geben bekennt, und ich damit nichts anfangen konnte. Hierzu hatte Anne aber einen schönen und interessanten Gedanken, den ich gleich zitieren werde, da ich sie gebeten hatte, diesen Gedanken bzw. diese Assoziation dazu aufzuschreiben und mir zukommen zu lassen, da das Pony auf eine sexuelle Anspielung deuten könnte …

Annes Beitrag, nachdem wir heute Mittag über die Briefe uns ausgetauscht haben.

Ich freue mich, auch einmal mit einigen Gedanken zu den Briefen aufwarten zu können. Wenn ich auch nicht weiß, ob ich damit richtig liege:

Nach den heutigen Briefen von Proust bin ich noch ratloser als bei so manchen ohnehin schon. Mira und ich haben ja schon öfter einstimmig festgestellt, dass viele Briefe äußerst schwer zu verstehen sind, da uns die Antworten darauf fehlen.
Heute nun las ich Folgendes:

Brief vom 16. September 1894 - Seite 168
"Warum 'Marcel, das Pony'? Ich mag diese Neuheit nicht. Das hört sich an wie Jack the Ripper oder Ludwig der Zänker. Vergessen Sie nicht, dass dies kein Spitzname ist und dass ich, Reynolds, ganz wahrhaft Ihr Pony bin." 

Und weiter am 16. Oktober 1894 - Seite 169
"Ich werde Ihnen morgen einen ehrlichen Bericht über die Besorgung machen, mit der Sie mich beauftragt haben. Ich bin nicht allzu müde, und wenn Sie vorhatten, mich morgen im bois oder anderswo zu satteln, so wäre das möglich. Ich fürchte, dass Ihre Pläne für den Nachmittag weniger leicht durchzuführen sein werden, aber lassen Sie mir auf jeden Fall ausrichten, zu welcher Uhrzeit angespannt werden soll. Mit aller Hochachtung, Monsieur Mon Maitre, Ihr treues Pony.
[...] Um zu zeigen, dass Sie Ihrem ehrerbietigen, aber ungebildeten Pony seinen Stil verzeihen, streicheln Sie ihm über den rauen Kopf, den es zärtlich in ihre Hand schmiegt."

Hier nun saß ich da und dachte: Hm, was ist das jetzt. Und dann fiel mir das Wort "Rollenspiele" ein. 

Proust ist 23 Jahre jung, kam das für ihn damals schon infrage? Mira hat ja schon hier und da seine sexuelle Suche und Entwicklung erwähnt. 
Auf den Gedanken wäre ich aber nicht gekommen, wenn ich nicht vor Kurzem in einer Krimiserie von "Bones" die Folge "Der Fall der gerittenen Leiche" gesehen hätte. Da ging es um eben solche Rollenspiele.
Aber macht man solche schon in dem jungen Alter, in dem Proust sich befindet? Wenn man noch auf der Suche nach der eigenen Sexualität ist? Oder ist das nicht eher etwas, was man tut, wenn man schon "normale" Erfahrungen, seien es heterosexuelle, homosexuelle oder bisexuelle, gesammelt hat?
Aber vielleicht liege ich ja auch ganz falsch, und es hat etwas mit einem Theaterspiel oder mit Literatur zu tun, aus dem ich nicht schlau werde. In den Fußnoten war jedenfalls auch keine erläuternde Erklärung zu finden.

Liebe Anne,
ich finde deinen Beitrag sehr spannend. Wir werden nie die ganze Wahrheit erfahren, aber es ist durchaus erlaubt, über Gedanken und Assoziationen zu sprechen, die uns bei den Briefen kommen. Nichts anderes tut Marcel Proust ja auch. Und es ist schön, dass wir uns ergänzen, denn hier wäre ich ratlos geblieben, wäre dein Einwand nicht gewesen. Und dies mit den Rollenspielen kann durchaus möglich sein, da Proust in der Kunst alles schon ausprobiert hat, auch im Bereich des Theaters.

Deshalb dürfen wir weiterhin gespannt hoffen, was uns die nächsten Briefe offenbaren werden und was sie in uns innerlich auslösen.

Nachtrag; die sexuelle Anspielung über  das Pony lässt sich besser verstehen, wenn man weiß, wer Reynaldo Hahn ist, und bin dabei auf ein interessantes Buch gestoßen, das auf www.perlentaucher.de gepostet ist. Das Buch heißt:


Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn


Reynaldo Hahn ist drei Jahre jünger als Marcel Proust, ist Jahrgang 1874 und hat bis 1947 gelebt. Er ist 73 Jahre alt geworden. Viel älter als Proust. Aus dem Klappentext dieses Buches geht hervor, dass Reynaldo Hahn von Beruf Komponist war. Mit Proust soll er lebrnslang befreundet und zeitweise auch sein Geliebter gewesen sein. Sie lernten sich auf einer musikalischen Soiree kennen, und beide fühlten sich sofort zueinander hingezogen. 

Weiteres ist hier aus dem Klappentext zu entnehmen. Bitte runterscrollen.

Wir werden also noch öfters mit Reynaldo zu tun bekommen. 

______________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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