Donnerstag, 11. Februar 2016

Astrid Lindgren / Zum Donnerdrummel (1)

Ein Werk-Porträt 

Hrsg. Paul Berf und Astrid Surmatz

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

  
In dem Buch sind sehr viele Kinderbücher von Astrid Lindgren in gekürzter Form abgedruckt, die im Anschluss besprochen werden. Da ich sowieso die Absicht habe, mir die Kinderbücher später erneut vorzunehmen, habe ich einige Geschichten darin übersprungen. Diese werde ich auf später verschieben, so mache ich es dann Henning Mankell gleich, der auch die Lindgren-Bücher im erwachsenen Alter ein weiteres Mal gelesen hat. Die Bücher nochmals zu lesen, im Alter, wo man dem kindlichen Humor schon längst entwachsen ist, stelle ich mir wundervoll vor, vor allem, wenn man innerlich selbst ein bisschen Kind geblieben und offen für diese Art von Humor ist.

Astrid Lindgren hatte eine glückliche Kindheit. Dieser glücklichen Kindheit haben wir die vielen schönen Kinderbücher von ihr zu verdanken. Nur wenige Menschen hatten zu ihrer Zeit dieses Glück. Pippi Langstrumpf war ihr erstes Kinderbuch. Wer wünschte sich nicht, ein bisschen wie Pippi zu sein? Souverän, autonom, sozial, reich, gutmütig, tierlieb, stark, klug und gerechtigkeitsempfindend. Alles, was man braucht, um sich gegen diese engstirnige Erwachsenenwelt durchzusetzen, und trotzdem ein gutes Leben haben. 
Eine kleine Pippi sollte eigentlich jeder in sich bewahren. Zu schnell ordnet man sich Regeln unter, die andere für einen machen. Und wie oft gibt man sich zu leicht zufrieden. Pippi hingegen ist eine Rebellin - sie macht Sachen, die sie richtig findet. Als Kind versteht man zuerst gar nicht, was sie eigentlich Verbotenes oder Falsches tut. Erst wenn man älter wird und sich anpasst, erst wenn man die Bevormundung und die gängigen Normen akzeptiert hat, wundert man sich über Pippi. Es ist schade, dass Kindern durch Erziehung ihre Wildheit und Unverstelltheit genommen wird. Dabei ist gerade dieses Unbändige der Kinder so herrlich!
Ich unterscheide zwischen der Film-Pippi und der Buch-Pippi. Beide Medien haben mich geprägt. Doch der Humor, so finde ich, kommt im Buch viel stärker zur Geltung als im Film. Im Film wird man zu sehr von den absurden filmischen Spektakeln abgelenkt, als dass man auf die Wortwahl achtet. Auf einigen Seiten wurde ich so zum Lachen angeregt, dass ich mich richtig darauf freue, die Bücher wieder zu lesen.

Als Annika und Tommi die neunjährige Pippi kennengelernt haben, wundern sie sich, dass Pippi so ganz ohne Eltern in der Villa Kunterbunt lebt:
>>Wohnst du hier ganz allein?<<
>>Aber nein, Herr Nielsson und das Pferd wohnen ja auch hier.<<
>>Ja aber ich meine, hast du keine Mama und keinen Papa hier?<<
>>Nein, gar nicht.<<
>>Aber wer sagt dir, wann du abends ins Bett gehen sollst und all so was?<<
>>Das mach ich selbst. (…) Erst sage ich es ganz freundlich, wenn ich nicht gehorche, dann sage ich es noch mal streng, und wenn ich dann immer noch nicht hören will, dann gibt es Haue.<<
Auch dieser Dialog brachte mich so richtig zum Lachen.

Nächstes Beispiel:
>>Am besten, ihr geht jetzt nach Hause, (…) damit ihr morgen wiederkommen könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, dann könntet ihr nicht wiederkommen. Und das wäre schade.<< 
Diese Form von kindlicher Logik finde ich einfach genial. Auch die Szene, als Pippi sich als Sachensucher bezeichnet, amüsierte mich. Hier werden die Wertvorstellungen, die von den Erwachsenen aufgeladen werden, ein wenig verschoben. Pippi hat Freude auch an Gegenständen, die in den Augen der Erwachsenen eigentlich völlig wertlos sind.

Auf Seite 165 bezeichnet sich Pippi als schüchtern. Kann man sich nicht vorstellen. Pippi und schüchtern. Pippi ist zu einem Kaffeekränzchen bei den Settergrens eingeladen, Settergrens, so heißen Annika und Tommi mit dem Familiennamen. Pippi bemüht sich sehr, anständig aufzutreten, um das Geschwisterpaar nicht zu blamieren. Sie schenkt der Frau Settergren einen Knicks und sagt:
>>Ich bin nämlich sehr schüchtern, und wenn ich mich nicht selber kommandiere, dann würde ich in der Diele stehen bleiben und nicht wagen, hereinzukommen.<< 
Sich selber kommandieren. :).

Pippi Langstrumpf wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Für die einen stellte sie eine Revolution im Kinderzimmer dar, andere sahen in Pippi eine unangenehme Figur, die an der Seele kratzt. 
Welch ein Glück für mich, dass die Kinder nichts dagegen hatten, von Pippi an ihren Seelen gekratzt zu werden. Aber es gab Erwachsene, die baten, Gott möge sie vor Pippi bewahren. Um das zu verstehen, braucht man bloß die Leserbriefspalten der Zeitungen damals zu studieren.
Für viele war sie nicht erwünscht. Mit einigen bösen Fantasien wurde Lindgren zudem noch konfrontiert: 
Da gab es beispielsweise einen Mann, der vorschlug, man solle mir einen Mühlstein um den Hals binden, damit man mich in der Tiefe des Meeres versenken könne. Und da war die Frau, die im Radio eine Sendung über >>diesen wahrlich widerwärtigen Frechdachs<< gehört hatte. Verhämt wollte sie nun wissen: >>Gibt es bei uns wirklich so wenig gute Kinderliteratur, dass man einen solchen Nonsens veröffentlichen muss?<< 
Während die einen das Buch vehement zurückgewiesen hatten, haben es andere umso mehr willkommen geheißen. In Deutschland wurde Lindgren von dem Hamburger Verlag namens Friedrich Oetinger mit Handkuss umworben. Friedrich Oetinger war Ende der 1940er Jahre noch ein recht kleiner Verlag und schwamm in roten Zahlen. Mit Astrid Lindgrens Erstlingswerk hatte er einen guten Riecher und riskierte die Veröffentlichung der Pippi Langstrumpf. Und  hierzu aus der Sicht Lindgrens: 
Friedrich Oetinger muss Menschenkenntnis besitzen - denn sonst könnte er nicht mit überempfindlichen, leicht erregbaren, umständlichen und schwierigen Individuen, wie es die Autoren sind, umgehen. Er muss literarisches Verständnis haben - denn sonst könnte er ein gutes Buch nicht erkennen. Und er muss ein guter Kaufmann sein - denn sonst hätte er bald keinen Verlag mehr. Friedrich Oetinger besitzt diese drei Eigenschaften, meine ich. Welch ein Glück, dass solch ein Mann an jenem Vorfrühlingstag 1949 zu mir kam. 
Und Oetinger hatte sich nicht getäuscht. Noch heute zählt er zu einem bedeutenden Kinder- und Jugendbuchverlag. Und als klein kann man ihn nun wahrlich nicht mehr bezeichnen.

Das Werk Pippi Langstrumpf wurde von vielen Literaturwissenschaftlern, Pädagogen, Lehrern und Eltern belächelt und abgelehnt. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Diese verhalten sich oft, als wären sie die Päpste der Literatur.
Viele Erwachsene machten sich Sorgen, dass die Kinder Pippi nachahmen würden. Doch wer Pippi Langstrumpf verbieten wollte, der sollte auch Märchen verbieten. Kein Kind der Welt ahmt den Figuren aus dem bösen Märchen nach ...
Im >Trostbuch<, wie Lindgren die >>Brüder Löwenherz<< nennt, wird er jedoch zur >>recht gefährlichen Spielsache für junge Menschen<<. Als am gefährlichsten wird freilich Astrid Lindgren empfunden und das ist sicher richtig. Denn hier ist eine Frau, die unbeirrt zuerst an die Kinder denkt, für die sie schreibt, und die genau weiß, was die Kinder brauchen und >>dass ich die Kinder auf meiner Seite habe. Aber alle anderen?<<Allen anderen ist zu raten, es wie die Kinder zu machen, Bücher selbst zu lesen und sich so wenig wie die Kinder eine Meinung aufreden zu lassen. 
In dem Buch Brüder Löwenherz thematisiert die Autorin ein Tabuthema und zwar den Tod. Und wieder regt sich die halbe Welt darüber auf, dass der Tod in den Kinderbüchern nichts zu suchen habe ... In dieser Geschichte verarbeitet Lindgren ein wenig den Tod ihres frühverstorbenen Sohnes ...

Astrid Lindgren wurde mit Vorstellungen konfrontiert, dass z. B. eine „freie Erziehung“ den Kindern schaden könnte. Sie, selbst Mutter von zwei Kindern, konnte diese Sorgen aus eigener Erfahrung nun nicht bestätigen. Sie habe ihre Kinder frei erzogen und trotzdem hätten sie Pippis Lebensstil nicht nachgeahmt. Kinder würden Bücher anders lesen als Erwachsene, für die hauptsächlich alles vernünftig, logisch, und gut durchdacht sein müsse. Es seien eher ganz andere Missstände, die die Kinder in Wirklichkeit negativ beeinflussen würden, Missstände, über die sich niemand aufregen würde, wie z. B. starre Regeln, permanente Reglementierungen und Gewalt im TV.

Die Achtung vor dem Kind sei genauso wichtig wie die Achtung vor dem Erwachsenen.
Behandelt eure Kinder mit ungefähr der gleichen Rücksicht, die ihr wohl oder übel euren erwachsenen Mitmenschen zeigt. Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die Manieren von allein. 
Lindgren vermutet hinter jedem Diktator das mal einst gewesene Kind, das z. B. aus einer Gesellschaft kommt, die körperliche und seelische Züchtigungen in der Erziehung verherrlicht hat.

1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis. Sie sprach sich gegen jede Form von Gewalt aus, äußerte pazifistische Ambitionen. Auch die autoritäre Erziehung lehnt sie kategorisch ab. Lindgren setzt sich für den Weltfrieden ein, kommuniziert via Briefkontakt auch mit Politikern, z.B. mit Gorbatschow, indem beiden das Hauptanliegen ist, die   Kinder politisch in den Mittelpunkt zu stellen.
An den Frieden denken heißt an die Kinder denken. Niemand hat das Recht, auf internationaler Ebene so zu handeln, dass die Kinder, wo sie auch leben, der Zukunft beraubt und Opfer der unbedachten Politik der Erwachsenen werden. (Aus einem Brief Gorbatschows an Astrid Lindgren)
Es seien nicht die Kinderbücher, nicht die antiautoritäre Erziehung, die die Kinder verderben würden:
Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt? 
Astrid Lindgren war ihrer Zeit um einiges voraus. Ich denke dabei an die 1968er Studentenrevolte, in der sich die jungen Intellektuellen für eine bessere Welt eingesetzt haben. Eine Welt, die frei von Kriegen ist. Auch forderten sie eine gewaltfreie Erziehung …

Lindgren hat den Kampf schließlich als Kinderbuchautorin international gewonnen. Die Bücher wurden in vielen Sprachen übersetzt. Man konfrontierte sie mit der Frage, ob sie sich nun als eine erfolgreiche Autorin wie eine Heilige fühlen würde? Die Frage fand ich schon recht merkwürdig, vor allem den Begriff >Heilige< fand ich unpassend gewählt. Umso mehr gefällt mir die Antwort dazu: 
Nein, warum sollte ich das tun. Ich habe nicht das Gefühl, über einem einzigen Menschen zu stehen. Was du da anscheinend sagen willst, geht mich nichts an. Das alles ist doch nur Eitelkeit und vergebliche Liebesmühe. Wir sind doch alle gleich und alle sind kleine süße Kinder gewesen, die erwachsen geworden sind und sterben werden. Was hat man da schon davon, in über 50 Sprachen übersetzt zu sein? Aber wenn >>the big bang<< kommt und kein Mensch mehr weiß, dass es einmal jemanden wie zum Beispiel Mozart gegeben hat, darüber kann man schon traurig sein. 
Mein Fazit?

Dieses Werk-Porträt habe ich ein wenig wie eine Astrid-Lindgren-Bibel erlebt. Ich werde sie sicher, wenn ich ihre Bücher neu gelesen habe, immer mal wieder herauspacken und mir die Buchgespräche vornehmen und diese mit meinen Leseerfahrungen vergleichen.

Und es gibt sogar einige Bücher, die ich gar nicht gekannt habe, wie z.B. das Märchen von Pomperipossa in Monismanien, die Kati-Werke oder Ronjas Räubertochter. Ronjas Räubertochter kenne ich nur vom Hörensagen, ist erst in den 1980er Jahren hier in Deutschland erschienen. 1980 hatte ich mit Lindgren längst abgeschlossen. Welcher Jugendliche liest noch Kinderbücher? Aber im fortgeschrittenen Alter kann das Interesse neu entfacht werden.

In dem Werk-Porträt erfährt man auch die Entstehungsgeschichten, wie z.B. der von Pippi Langstrumpf. Pippi Langstrumpf feiert dieses Jahr ihren 71. Geburtstag. Wer erfand die Pippi Langstrumpf?
Die Tochter Lindgrens lag sehr krank im Bett, mit hohem Fieber, im Delirium bat sie ihre Mutter, eine Geschichte über Pippi Langstrumpf zu erzählen. Das hat mir schon sehr imponiert.

Diskutiert werden noch jede Menge anderer Fragen und Themen, z.B. auch über die kritische Haltung von Nutztieren … Auch den Tieren gibt Lindgren ihre Stimme.

Des Weiteren findet man neben Mankell noch andere bekannte AutorInnen, die selber mit den Lindgrenbüchern groß geworden sind. Und jede Menge Interviews und viele, viele Fotos sind in dem Buch enthalten. Das macht das Ganze noch ein wenig lebendiger.

Nun habe ich aber genug geschrieben. Ich möchte nicht mehr verraten und verweise auf das Buch, das von mir zehn von zehn Punkten erhält.

In meinem Regal befinden sich noch drei ungelesene Autobiografien, werde demnach noch viel Gelegenheit haben, mehr über Lindgrens Leben zu berichten, weshalb ich mich in dieser Buchbesprechung mehr auf die Werke bezogen habe. Das Buch heißt im Untertitel nicht umsonst Ein Werkporträt. Leserinnen und Leser, die sich mehr für das Leben Lindgrens interessieren, und die Kinderbücher eher zweitrangig betrachten, werden hier auf jeden Fall auch fündig werden. Ansonsten rate ich zu echten Auto/Biografien.
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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


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