Mittwoch, 21. Oktober 2015

Francesca Marciano / Stimmen aus Glas (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich fühle mich so richtig hin- und hergerissen von dem Buch. Man hat es hier mit mehreren Nationalitäten zu tun, die teilweise recht klischeehaft beschrieben werden …
Das führt bei mir gleich zu einem Abzug von zwei vollen Punkten …

Andererseits ist der Schreibstil recht interessant und fantasievoll. Es sind nur die Gedanken der italienischen Autorin, die mir oftmals zu einfach sind und mir nicht behagen. Ist mir zu wenig reflektiert, was die Herkunft von Menschen betrifft, die sie in Rassen einteilt. Man weiß doch heute, dass der Mensch mehr als nur das Produkt seiner Erbmasse ist und dass der Begriff Rasse heutzutage, zumindest hier in Deutschland, in der Zuteilung von Menschengruppen kaum noch Verwendung findet, wegen der diskriminierenden und stereotypen Art, mit denen man Menschen dummerweise festlegt. Ich würde eher von verschiedenen Ethnien sprechen ... Kulturverständnis wie z.B. die Aneignung einer Muttersprache, u.a.m. ist keinesfalls genetisch bestimmt und angeboren. Das Erlernen dieser kann über leibliche Eltern geschehen, oder aber auch über Adoptiveltern einer anderen Muttersprache.


Das wird nicht per se über die Genetik gesteuert, nur weil jemand eine dunkle Hautfarbe hat, oder helle Haare, oder einen fremdländischen Namen trägt ... Auch die Identität ist keine genetische Angelegenheit.

Oftmals sind mir die Dialoge zu sentimental, gerade zum Ende hin, das mir auch nicht gefallen hat. Stichwort: Schuldgefühle.
Auch die Reise nach Afghanistan fand ich trotz der absolvierten Kurse in London wenig professionell und wenig vorbereitet. Stichwort: Plastikgeld/Bargeld.

Gefallen hat mir, wie die Autorin über Afghanistan schreibt. Sehr authentisch  geschrieben. Es ist ihr gelungen, die Problematik der afghanischen Frauen aufzugreifen, über deren Unfreiheiten zu sprechen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: die zurückhaltende, in einer Lebenskrise befangene Maria Galante aus Mailand und die extrovertierte Imogen Glass aus London. Ein gefährlicher Auftrag führt die beiden zusammen nach Afghanistan: Sie sollen zwangsverheiratete Frauen in den abgelegenen Dörfern porträtieren. Der Weg dorthin führt durch ein zerrissenes Land, das den Militärs, Söldnern und Waffenhändlern wehrlos ausgeliefert scheint.
Vieles, was sie über Afghanistan schreibt, vor allem über die Lebensweise der jungen und alten Frauen, ist mir nicht neu. Alle Länder der westlichen Welt setzen sich damit auseinander. Aber auch die Stellung, die afghanische Männer über westliche Frauen beziehen, fand ich äußerst interessant. Beide Seiten haben allerdings der anderen Kultur gegenüber eine etwas arrogante Haltung gezeigt.

Maria habe ich als eine recht empathische Fotojournalistin erlebt, die sich wunderbar mit ihrer Kollegin Imo ergänzt hat.
Maria verhielt sich den Frauen gegenüber eher vorsichtig und zurückhaltend, Imo war eher fordernd. Beide Energien empfand ich ergänzend sehr wichtig …

Und hier ein sehr schönes Zitat. Zeigt ein wenig die Kaltblütigkeit der JournalistInnen: Maria berichtet über ihre Erfahrungen mit Menschen anderer Kulturkreise, die alle recht problembehaftet sind.
Ich mache Reportagen über albanische Immigranten, Aidsopfer in Afrika, Transsexuelle in Indien, streikende Fabrikarbeiter, aber es waren alles traurige Geschichten, bei denen ich mir wie ein Dieb vorkam, der den Kummer der Leute ausnutzt und wie ein Geier die richtige Sekunde abwartet, um auf den Auslöser zu drücken. 
Diese Hemmnis, den Fotoapparat wie ein Schießgewehr zu nutzen, macht sich über das ganze Buch breit.

Maria und Imo begeben sich in die Gesellschaft mehrerer afghanischer Frauen, die sich sehr ängstlich gegenüber den beiden westlichen Damen zeigen. Imo führt das Interview und Maria sollte Fotos machen, ohne die Frauen darauf vorzubereiten. Das ist aus meiner Sicht typischer Journalismus. Als Maria die Kamera aus ihrer Handtasche zückt, lehnen sich die Frauen dagegen auf. Sie haben Angst, in die Zeitung zu kommen und von ihren Ehemännern anschließend verprügelt zu werden.

Es geht um ein junges Mädchen, das mit einem Mann, der dreimal so alt war wie es selbst, zwangsverheiratet werden sollte. Das Mädchen zeigte Widerstand, wollte sich mit dem Feuer suizidieren und liegt nun mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus. Die Mutter des Mädchens gibt an, dass ein Mädchen sich erst den Wünschen des Vaters und später den Wünschen des Ehemannes zu fügen habe. Ansonsten drohe Mord.

Imo und Maria besuchen das Mädchen im Krankenhaus. Die Frauen dort waren aufgebracht, als Maria versuchte, das Mädchen zu fotografieren. Man habe nicht das Recht, sich in ein Krankenhaus zu schleichen, um ein Foto zu machen, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Beide Frauen, Maria und Imo, stehen unter Druck. Es müssen Fotos her, egal wie. Das allein verlangt schon die Presse, für die sie arbeiten.
Ich war wütend auf Imo, noch mehr als auf mich. Gewiss, aus rein professioneller Sicht hatte ich gleich bei meinem ersten Einsatz versagt-und das tat weh; andererseits aber verdross es mich, dass sie so tat, als wüsste sie nicht, welch ein räuberischer Akt es gewesen wäre, ein Foto von der Mutter des Mädchens zu machen.In früheren Zeiten war ich mit anderen Journalisten schon in ähnliche Schwierigkeiten geraten. Ich hatte mich mit meiner Kamera in schmerzliche Situationen drängen müssen-in Krankenhäusern, Elendsquartieren, in Slums-und hatte draufgehalten, ungeachtet der Wut derer, die ich ablichtete. Hatte ich mich damals schon so gefühlt, als richtete ich eine Waffe auf sie, so konnte ich es diesmal nicht ertragen, wieder der rücksichtslose Scharfschütze zu sein. 
Teilweise respektlos verliefen diese journalistischen Sitzungen ab, die Ärger verursachten. Maria schlägt vor:
Es ist besser, wir stellen uns erst vor. Wir können nicht einfach so reinmarschiert kommen und Fotos machen. Das ist ja wie ein Überfall, (…). Außerdem hat das arme Mädchen wirklich gelitten, glaube ich.
Sie versuchen den Frauen klar zu machen, wie wichtig es sei, weltweit auf ihre Problematik aufmerksam zu machen, damit sie eines Tages mehr Freiheit erlangen können.

Diesen Gedanken finde ich ein wenig naiv, denn die Westlerinnen kommen, um den Frauen zu sagen, wie man ein richtiges Leben führt.

Ich halte nun noch zwei Gedanken fest, und zwar, wie die Männer, in diesem Fall ist es Malik, der stellvertretend für alle Männer seines Landes spricht, westliche Frauen in ihrer Lebensweise einschätzen:
Malik sagt, dass die Westler glauben, ihre Kultur sei der unseren überlegen, weil die Frauen keinen Schleier zu tragen brauchen. Er sagt, was ihr Westler nicht versteht, ist, dass muslimische Frauen sich freiwillig verschleiern, weil bei uns das Äußere einer Frau nichts mit ihrem Platz in der Gesellschaft zu tun haben sollte. (…) In unserer Kultur hat eine Frau, je mehr sie altert, desto mehr Weisheit, Autorität und Macht in der Familie. Im Westen dagegen ist eine Frau, die ihre Schönheit verloren hat, wertlos und hat keinen Platz in der Gesellschaft. (…) Bei euch liegt der Wert einer Frau nur in ihrer Erscheinung, bei uns dagegen liegt er eher in ihrer Seele und in ihrem Herzen. Dem Koran zufolge gehört die Schönheit einer Frau allein ihrem Ehemann, und sie ist ein Geschenk, das nur für seine Augen bestimmt ist, während sie im Westen wie eine Ware ist, etwas, mit dem man handelt und das man ausstellt wie auf dem Markt.  
Imos Reaktion:
Also, erstens, wir haben die Wahl und es ist nicht wahr, dass im Westen der Wert einer Frau nur in ihrer Schönheit liegt, (…). Unsere Frauen haben einen Platz in der Regierung, lehren an Hochschulen, sind Richterinnen, Staatsanwältinnen. (…) Und sie sind Reporterinnen, wie Maria und ich. Mit anderen Worten, Frauen tragen dazu bei, die Geschicke des Landes zu lenken. 
Das Argument, die Schönheit verheirateter Frauen gehöre nur ihren Männern, klingt in meinen Ohren recht hohl. Was ist mit hübschen Männern? Na, nun her mit den Schleiern auch für die Männer ...


Mein Fazit?

Die Frauen in diesen streng patriarchalisch geführten Ländern müssen psychosozial, politisch, familiär und gesellschaftlich … eine Menge bewältigen. Nicht jede Frau hat die Kraft, sich dem zu widersetzen, mit dem sie ihr Leben existentiell gefährden würde. Frauen aus der westlichen Welt können nur froh sein, dass es ihnen in ihrer relativ autonomen Lebensweise verhältnismäßig gut geht. Es gab genug Vorreiterinnen, die nicht nur für sich selbst, sondern hauptsächlich auch für die Frauen der Nachwelt den Kampf um mehr Frauenrechte geführt haben. Ich fordere mehr Respekt auf beiden Seiten. Ich fordere für die muslimischen Frauen, die nicht die Kraft haben, sich für ein besseres System einzusetzen, mehr Toleranz und Empathie und man sollte aufhören, sie mit der Arroganz der westlichen Welt noch weiter seelisch zu kränken und sie symbolisch zu verstoßen. Wir sollten aufhören, sie als rückständig zu betrachten. Sie haben es in ihrer von Männern dominierten Welt schon schwer genug. Ich fordere eine Solidarität mit allen Frauen, mit oder ohne Kopftuch, denn die westliche Frau  kann gar nicht wissen, wie sie sich selbst, wäre sie in ein solches System hineingeboren, verhalten würde.

Solidarität mit allen muslimischen Männern, die ebenso unter diesem Regime leiden, und die versuchen, es ihren Frauen wenigstens innerhalb ihrer gegründeten Familie leicht zu machen. Und deshalb bin ich gegen Verallgemeinerungen. 

Was wissen wir schon von den inneren Erfahrungen muslimischer Frauen und deren Männern? Was wissen wir überhaupt von den inneren Erfahrungen eines Menschen, der uns gegenüber steht?

Das Buch erhält von mir sieben von zehn Punkten.

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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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