Sonntag, 14. Juli 2019

Proust und die Korrespondenz mit Maria Hahn

Seite 183 – 194   

August 1895, 24 Jahre

Auf den folgenden Seiten fand ich die Konversation mit Reynaldos Schwester Maria Hahn recht spannend. Proust befindet sich mit Reynaldo in der Normandie. Von schlaflosen Nächten geplagt schreibt er Maria.

Er bezeichnet Maria als die intelligenteste Frau, die er kennen würde. Er hat ihr seine Novelle, La morte de Baldassare Sylvande … zugeschickt mit der Bitte um eine (konstruktive?) Kritik. Er scheint sehr viel Wert auf Marias Meinung zu legen. Aber scheinbar bleibt eine Antwort aus, was Proust sichtlich irritiert:
Ich weiß nicht mehr, wie ich es mit Baldassare machen soll, denn ich muss ihn jetzt an eine Zeitschrift schicken und werde also Ihre Anmerkung nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Meinung ist aber so ungefähr die einzige, die mir wichtig ist, und wenn man dann, sobald die Sache in dem Band erschienen ist, darüber redet oder schreibt, wird mich das sehr viel weniger interessieren als die Meinung der intelligentesten aller Frauen. Ich weiß also nicht mehr, wie ich es anstellen soll. Wenn es nur einige Zeilen sind, können Sie mir Ihre Beobachtungen abschreiben … Auf jeden Fall möchte ich Sie darum bitten, den Baldassare an Madame Proust (…) zu schicken, die ihn an den Direktor der besagten Zeitschriften weitersenden wird. (183)

Über folgende Textstelle musste ich so lachen, denn Proust ist nie an Worten verlegen. Weiter schreibt er:
(…) Sie sind mit all unseren Eindrücken verbunden, o meine Schwester Maria, Vertraute meiner Gedanken, Leuchtfeuer der umherirrenden Tristesse, Beschützerin der Schwachen, Pflegerin der Kranken, Quell´der Güte, Würze des Geistes, aufblühende Rose, beherzte Sanftmut, Brise über dem Meer, Lied der wackeren Ruderer, zartes Kräuseln der Wellen, Glorie des Morgens, Duft der Freundschaft, Seele der Abende, die Sie (freundliches Gestirn) mit Ihren Feuern erhellen, (…) mit Ihrem Lachen beschwingen, das abwechselnd Echo des Geistes und seine Stimme ist, Abende, die sie Ihren Kleidern einen moralischen Reiz verleihen, Bescheidenheit oder Adel, literarische Eigenschaften, Kürze, Schleier, geworfen über ein Zuviel an Glanz … (184)

Puh, Proust kann einfach keinen Punkt setzen. Gerne hätte ich den Rest dieses Briefes noch abgeschrieben, aber da fehlt es mir an Geduld, auch wenn ich diesen Marcel stark bewundere, wie fantasievoll er seine Gedanken niederzulegen weiß. Und wie mutig, dass er so viel Persönliches von sich preisgibt. Mutig, dass er Menschen schreibt, was er von ihnen hält. Hier in seinen Briefen sind es meist wohlwollende Worte. Obwohl ich mich immer wieder frage, ob er den Menschen zu sehr Honig um den Mund schmiert.

Die Novelle Baldassare hätte ich gerne selbst auch gelesen, weshalb ich schon letztes Wochenende nach ihr im Netz erfolglos recherchiert hatte.

Einen Brief später schreibt Proust Maria wieder jede Menge Schmeicheleien.
(…) Aber da wir im Leben alle gehalten sind, ungleich bedeutende Wandlungen mit unserer Aufmerksamkeit zu bedenken, wäre dieser Wandel es vielleicht nicht wert gewesen, dass ich Sie mit einem Brief belästige und ihm so viel Beachtung schenke, wenn ich darin nicht sogleich das gemeinsame Werk dreier Zuträger entdeckt hätte, die für mich des größten Interesses würdig sind, ich meine Ihre Güte, Ihre Klugheit, die sich in Takt, Gespür, Feinfühligkeit usw. äußert, soweit Ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Sie werden das gewiss abstreiten, denn Personen, die Gutes tun und wissen, wie man es anstellt, wirken im Verborgenen. (Anm. d. Verf.) Auch ich, wenn ich es wagen darf, mich ein kleinwenig mit Ihnen zu vergleichen, bereite im Verborgenen, im Stillen die Bahnen jener, die ich liebe, zerstreue hier Bedenken, säe dort von langer Hand ein Gefühl, der Sympathie aus, bin über alle Maßen glücklich, wenn ich es in voller Blüte sehe und dabei meine Fäden, die ich immer fest in der Hand halte, unsichtbar bleiben. (185)

Den letzten Satz finde ich noch besonders nachdenkenswert. Proust, der die Fäden in der Hand hält, der seine Mitmenschen führt und lenkt, als seien sie  Marionetten. Das bedeutet für mich, er manipuliert auch seine Mitmenschen, was ich schon länger im Stillen für mich gedacht hatte, nur noch nicht ausgesprochen habe, da ich noch nach Beweisen suchte. 

Auf den weiteren Seiten erfährt man etwas über Prousts berufliche Entwicklung. Darüber schreibt er im März 1896 um Rat bittend an Reynaldo.

Er lässt fragen, wo er Monsieur Neveux, Bibliothekar an der Manzarine Bibliothek, treffen soll. Denn Proust hat sein Lizenziat in französischer Literatur am 27.03.1895 erhalten. Proust hätte eine Anstellung im Unterrichtsministerium bekommen, wollte sich dem aber entziehen, da dies eher eine Beamtenlaufbahn, langweilige Bürotätigkeiten mit sich bringen würden und mit Reymonds Hilfe lieber an einer Kunstschule, an der Ecole des Beaux-Arts, unterrichten möchte. Doch aus der Sicht seiner Eltern wäre er für diese Arbeit überqualifiziert. Nun, so bleibt es noch offen, wie sich Prousts beruflicher Werdegang weiter entwickeln wird. Aber er wird sich durchsetzen können. Er hat es schon sehr weit gebracht, einen Weg einzuschlagen entgegen der elterlichen Erwartungen, auch wenn man noch nicht mit Bestimmtheit sagen kann, welche Institution er beruflich nun letzten Endes begleiten wird. 

Des Weiteren erfährt man aus diesem Brief, dass Proust seit dem Sommer 1895 an einem Roman Jean Santeuil schreibt. Ich vermute, dass dies der Roman ist, in dem er über seinen Freund Reynaldo schrieb, den er in die fiktive Figur des Jean Santeuil gepackt hat.

Meine Meinung
Gestern wusste ich noch nicht, ob ich über diese zehn Seiten etwas schreiben wollte, dann hatte ich mich doch dafür entschieden, weil ich Reynaldos Schwester Maria von ihrer Persönlichkeit her so interessant fand, die ich hier unbedingt festhalten möchte. Wer ist Reynaldos Schwester? Habe verzweifelt im Netz nach einem Foto und nach weiteren Daten recherchiert, konnte selbst im französischsprachigen Wikipedia nicht fündig werden. Daraufhin habe ich mich heute Morgen mit Anne über WhatsApp ausgetauscht, da ich auf dem Sprung war und ich nicht viel Zeit hatte. Und ehe ich mich versah, war es Anne, die eine Fotografie im französischsprachigen Netz hat finden können. Wow, Anne hat ein Goldhändchen. Sie ist dafür bekannt, dass sie das findet, woran andere scheitern. Ich habe mich so darüber gefreut. Später werde ich mit ihr telefonieren, da wir uns noch über die Briefe austauschen wollten.

Nochmals kurz ein paar Informationen zu den Hahns. Woher kommen sie? Der Name Reynaldo klingt südamerikanisch und der Familienname Hahn deutsch.

Aus Wikipedia geht hervor, dass die Familie Hahn tatsächlich aus Südamerika, Venezuela, stammt. Die Mutter, Elena María de Echenaguciawar spanisch-baskischer Abstammung. Der Vater, Carlos Hahn, war deutsch-jüdischer Kaufmann, Ingenieur und Erfinder und kam aus Hamburg. Der Vater wanderte nach Südamerika aus, um dort sein Glück zu machen. Hier lernte er seine Frau kennen, und beide bekamen zehn Kinder. Fünf Jungen und fünf Mädchen. Reynaldo war der Jüngste unter seinen Geschwistern. Aus politischen Gründen siedelte die Familie 1878 nach Paris um. Hier war Reynaldo fünf Jahre alt.

1940 verließ Reynaldo wegen der Judenverfolgung Paris, kehrte nach dem Krieg wieder zurück. 

Im zweiten Band aus Proust Briefen geht hervor, dass Maria Hahn 1864 geboren wurde und starb 1948. Sie wurde 84 Jahre alt. Auch sie blieb bis zu Prousts Tod, 1922, mit ihm freundschaftlich verbunden. Weitere Details zu Maria sind dem Buch zu entnehmen. 

Es gibt ein paar Unterschiede zwischen Wikipedia und dem Briefband. Wikipedia schreibt, dass Reynaldo fünf Schwestern hatte, im Buchband sind es aber nur vier. 

Am 28.01.1947 starb Reynaldo mit 73 Jahren. Er wurde auf dem Pariser Friedhof Pére Lachaise begraben.

Telefonischer Austausch mit Anne
Auch Anne bewundert Prousts Sprache, wie versiert und fantasievoll er sich auszudrücken weiß. Mutig zu sein, sein Innerstes herauszukehren, um Menschen immer zu sagen, welche Meinung er von ihnen hat, hatte Anne verglichen zu mir nicht mit Mut in Verbindung gesetzt, sondern dass er nicht anders konnte, als sich zu zeigen wie er war, und seine Mitmenschen ihn nur als offenherzig kannten.

Dass er den Menschen so sehr schmeichelt, das fand auch Anne, vor allem der Maria Hahn gegenüber, mit wie vielen Metaphern seine Briefe ihr gegenüber bestückt sind, war einerseits sehr bewundernswert, andererseits wissen wir nicht, ob diese Briefe nicht auch humoristisch zu verstehen sind? Wie war Prousts Humor? Da Proust eine hohe Meinung von Maria hatte, stellte ich mir die Frage, ob sie nach so vielen Komplimenten überhaupt in der Lage ist, Prousts literarische Texte sachlich in Augenschein zu nehmen? Da Maria auf dem Foto eine sehr resolute Ausstrahlung versprüht, als eine gestandene Dame, so konnten wir es uns beide trotzdem gut vorstellen, dass sie dazu durchaus fähig ist.

Anne und ich haben nun beide fast zweihundert Seiten geschafft. Es macht uns noch immer Freude, die Briefe zu lesen.

Die nächsten Briefe, von Seite 194 - 207.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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