Sonntag, 7. Juli 2019

Prousts Abhängigkeit

Seite 173-183

Auf den folgenden zehn Seiten gibt es nicht besonders viel, was ich aufschreiben möchte, trotz der vielen intellektuellen Gespräche. Denn es gibt keine Kunst, mit der der vielbegabte junge Marcel nicht zu tun bekommt. Musik, Literatur, Malerei, Architektur, Philosophie etc. Überall hat er seine Partner*innen, mit denen er sich auszutauschen weiß. 

Nur leider kann ich nicht so wirklich folgen, wenn man die Hintergründe nicht kennt. Vor allem in der Literatur bekommt man es mit recht vielen Literaten zu tun. Darunter befinden sich Erzählungen verschiedener Schreiber, sie mir aber alle fremd sind. Anne wird es genauso ergehen. Später werde ich mich mit ihr noch austauschen.

Mitunter erfährt man auf diesen Seiten auch etwas zu Prousts Vorlieben in der Musik. Er mag deutsche Komponisten wie Bach, Wagner und Beethoven, während sein virtuoser Freund Hahn Beethoven eher langweilig findet. Prousts Gedanken zur Musik, die er mit Mademoiselle Suzette teilt, sind folgende:
(Es ist) das Wesen der Musik, (das) in uns jene geheimnisvolle (und für die Literatur wie ganz allgemein für alle endlichen Ausdrucksformen, die sich entweder der Worte und folglich der Ideen, also determinierter Dinge, oder determinierter Gegenstände – die Malerei, die Skulptur, bedienen, nicht darstellbare) Tiefe der Seele zum Klingen zu bringen, die dort beginnt, wo das Endliche und alle Künste, die das Endliche zum Gegenstand haben, enden, wo auch die Wissenschaft endet, und die man deswegen religiös nennen kann. (173)

Wow, sind das nicht schöne Betrachtungen? Dasselbe erlebe ich auch, wenn ich selbst musiziere, aber auch wenn ich Musik höre. Mit der Musik betritt man Spähren, die weder mit Worten noch mit wissenschaftlichen Theorien zu ergründen sind.

Proust sieht das Göttliche nicht nur in der Natur, siehe die letzten Briefe, sondern auch in der Musik.
Er gründet zusammen mit anderen Intellektuellen eine >>Academie des canaques<<, einen Zusammenschluss von Freunden. Hier war Proust, 24 Jahre alt, Sekretär auf Lebenszeit.

An Reynaldo Hahn
Januar, 1895

Ich hatte in der letzten Besprechung vergessen zu erwähnen, dass Reynaldo Hahn nach Prousts Mutter die wichtigste Person seines Lebens gewesen sein soll.

Proust liegt im Bett und liest wie berauscht die Essays des amerikanischen Schriftstellers Emerson. Er muss ein paar Verse an Reynaldo geschrieben haben, die er Mademoiselle Lemaire zu lesen gegeben habe, die ihr gefallen hätten. Er scheint immer eine Bestätigung zu suchen, reicht gerne seine geschriebenen Texte herum, selbst wenn sie persönlich sind.
Ich habe ihr geantwortet, dass man immer inspiriert sei, wenn man über das spreche, was man liebt. Eigentlich sollte man nie von etwas anderem sprechen.

Ich kann diesen Gedanken sehr gut nachvollziehen, denn wenn man über das spricht, was man liebt, dann weiß man auch, worüber man spricht.

Und wieder gibt er am Ende des Briefes an, dass er Reynaldos Pony sei. Dabei muss ich immer so schmunzeln, weil ich das Pony mit Kindlichkeit verbinde. Eine sog. Verniedlichung. Und dies bei einem voll ausgewachsenen Mann. 

Mai 1895

Erneut ein Brief an Reynaldo Hahn, in dem man erfährt, dass Proust sich mitten in einer Zulassungsprüfung für eine der drei vakanten und unbezahlten Stelle einer Bibliothek namens Mazarine befindet. Wie man sieht, schlägt er beruflich den Weg ein, den er sich vorgestellt hatte. Da dies eine unbezahlte Stelle auf Ehrenamt ist, stellt sich mir die Frage, womit Proust seinen Unterhalt verdienen wird? Vielleicht finden wir in den späteren Briefen darauf eine Antwort aber ich vermute, dass er sich mit seinen Novellen etwas Geld verdient hat. Mitten in der Prüfung verlässt er die Bibliothek, um seinem Freund zu telegrafieren, und riskiert damit durch die Prüfung zu fallen. Nun, es zeigt, wie sehr er seelisch von Reynaldo schon abhängig ist.
Ich werde mir Ermahnungen einhandeln, da ich mich aus der Mazarine entfernt habe, um Ihnen telegraphieren zu können, aber ich lebe nicht mehr, ich bin untröstlich, ich sterbe, wenn ich daran denke, dass Sie vielleicht verärgert sind. (181)

Sind die beiden schon ein Paar? Die förmliche Anrede Sie ist hier noch gebräuchlich, obwohl mir bewusst ist, dass man die Homoexualität zu der damaligen Zeit eher im Geheimen auslebt. 

Austausch mit Anne
Wir haben beide bewundert, wie groß Prousts intellektueller Kreis ist. Es ist schwierig, heutzutage Leute dieser Art zu finden. Das liegt aber auch daran, dass wir beruflich sehr eingespannt sind, und wenig Zeit haben, dieses proustische Salon-Leben wenigstens in Ansätzen zu führen. Prousts Kreise waren beruflich und finanziell ungebunden und hatten alle Zeit der Welt, Soireen, Matineen etc. aufzusuchen. Frauen dieser Gesellschaft mussten nicht mal ihre Kinder erziehen, das übernahmen geschulte Kinderfrauen; und der Haushalt wurde von Dienstmädchen geführt. Ich erwähnte dabei auch Thomas Mann und seine Buddenbrooks. Auch hier war es üblich, kulturelles Leben wie z. B. Literatur, Musik u. v. m. mit anderen zu teilen. Heutzutage ist es sehr schwer, Menschen zu treffen, mit denen man einen intellektuellen Austausch führen kann, ausgenommen sind die Bücherforen. Aber selbst Bücherforen sind sehr begrenzt, da es meist nur ein verschriftlichter Austausch ist. Viele Schriftsteller*innen trifft man auch in sozialen Netzwerken, aber sie sind gar nicht darauf ausgelegt, sich mit ihren Leser*innen zu befassen. Sie suchen lediglich Leute, die ihre Bücher bewerben, sie mit Bestnoten verehen, um an bessere Verkaufszahlen zu kommen. Wenigstens konnten wir über das Internet ein paar Freundschaften knüpfen, die wie wir an einem Austausch interessiert sind. Daraus sind schon interessante Freundschaften entstanden.

Anne und ich kennen uns auch schon seit zehn Jahren, und haben uns glücklicherweise in einem Literaturforum kennengelernt, in dem sie noch heute Moderatorin ist. Leider wohnen viele dieser Freundinnen sehr weit weg, was eine Begegnung erschwert. Proust hatte sie alle vor seiner Türe. Wie ginge es ihm, wäre er heute am Leben?

Marcel Proust ist zudem ein offener Mensch, was den Zugang zu Kontakten seiner Art zusätzlich erleichtert.

Ich bin sehr froh, mit Anne diese Briefe lesen zu dürfen. Das macht gemeinsam viel mehr Spaß, als alleine. Auch wenn wir beide nicht alles zurückverfolgen können, weil uns die Materialien dazu fehlen, kommen wir trotzdem immer ins Gespräch. Und wenn es nur die guten Gedanken sind, die Weisheit, die Proust hinterlegt, und die ich herausschreiben möchte, da mich diese sehr glücklich stimmen.
 
Meine Gedanken
Ich habe nun noch etwas im Netz recherchiert, ob es einen Buchband gibt, in dem Prousts Novellen abgedruckt sind. Seine Briefe weisen auf seine kürzeren literarischen Texte hin, die mich neugierig stimmen. Aber leider bin ich nicht fündig geworden. Zu gern hätte ich gewusst, was Proust an seine Liebhaber geschrieben hat, oder welchen Inhalt seine Essys hatten. 

Auf der französischen Amazonseite konnte ich einige Werke finden. Da ich zeitnah eine Reise nach Paris plane, um auf Prousts Spuren zu wandeln, werde ich mir dort seine Bücher kaufen, die hier nicht aufgelegt sind. 

Und schon wieder kommt die Lust in mir auf, die sieben Bände der Recherche erneut zu lesen, und habe bei Amazon einen recht interessanten Fund gemacht. Die siebenbändige Ausgabe gibt es mittlerweile als Graphic Novele. Ich habe mir die Bücher angeschaut und die Graphiken sind wunderschön, sodass ich gestern im Buchhandel angerufen habe, und habe mir alle sieben Bände, 2010 im Knesebeck – Verlag erschienen, bestellt. Am Dienstag kann ich die Bände abholen und ich freue mich schon jetzt riesig darauf. Ich habe schon mal das Cover des ersten Bandes hierreingestellt. Hier ein Link, der zu dem Verlag führt, und man sich alle Bände anschauen kann. Bitte dort die Bände herunterscrollen.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2019: 20
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