Sonntag, 2. Dezember 2018

Paolo Cognetti / Acht Berge (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch über die Natur, über eine besondere Freundschaft zweier Jungen, über eine interessante Vater-Sohn-Beziehung und über die politische Lage Italiens.

Gefreut habe ich mich zudem, dass ich tatsächlich eine Antwort zu Ferrantes Buch habe finden können, wo ich erst dachte, dass dies nur auf dem Umschlag steht, um die Leser*innen anzulocken. 

Daher möchte ich am Ende der Besprechung etwas über dieses Buch diskutieren, über die Antwort auf Ferrantes Werk, weshalb ich gezwungen sein werde, ein paar Details mehr anzubringen, bin aber trotzdem bemüht, nicht alles zu verraten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung wird aus der Ich-Perspektive des Jungen namens Pietro Guasti erzählt. Seine Eltern, die aus dem ländlichen Veneto kommen, sind mit Anfang dreißig in die Großstadt Mailand gezogen. Veneto scheint wie ausgestorben zu sein, als hätten die Bewohner Landflucht betrieben, da die Gegend für Arbeitsplätze nicht mehr lukrativ genug war und die schlechte Infrastruktur die Wirtschaft noch weiter belastet hat. Erst viele Jahre später zog das Bergdorf durch attraktive Umbaumaßnahmen jede Menge Touristen an. Es gab kaum noch Einheimische.

Pietros Vater ist eine Kriegswaise und von Beruf studierter Chemiker. Die Mutter ist gelernte Krankenschwester, in Mailand allerdings ist sie in einem sozialen Brennpunkt als Familienhelferin tätig.

Pietro, Einzelkind, wurde Anfang der 1970er Jahre in Mailand geboren.

Pietros Eltern fühlten sich in dem stickigen Mailand nicht wirklich wohl und vermissten ihre Berge in den Dolomiten. Daher verbrachte die Kleinfamilie die Ferien mehrmals im Jahr in dem kleinen Bergdorf Grana.

Pietros Vater war Einzelgänger. Er fühlte sich wohl in der Natur, war immer froh, wenn er aus der staubigen Großstadt flüchten konnte. Zusammen mit seinem Sohn ging er in die Berge wandern und klettern.

Das Bergdorf Grana wirkte wie eine Geisterstadt, verlassen und einsam, viele heruntergekommene Häuser,  nur noch wenige Menschen sind geblieben.

Pietro lernte in Grana einen gleichaltrigen Jungen kennen, Bruno Guglielmina, der auf der Weide Kühe hütete. Es war schwierig, sich Bruno zu nähern. Bruno war wie Pietros Vater Einzelgänger und schien keine Freunde zu haben. Bruno hatte mit der Schule abgebrochen ... nun ist es Pietros Mutter, die es schafft, dass die beiden Jungen freundschaftlich zueinanderfinden. Allmählich fasst Bruno Vertrauen zu Pietro und dessen Familie …

Durch Pietros Mutter Einfluss gelingt es ihr, dass Bruno wieder zurück in die Schule geht und wenigstens einen Hauptschulabschluss erwirbt … Später setzte sich die Mutter noch dafür ein, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er dort mit den höheren Schulen fortsetzen konnte… Das stieß nicht nur bei Pietro auf Widerstand, denn welches Recht hatten seine Eltern, Bruno von seinem Zuhause wegzuholen, wenn er doch glücklich war mit seinem Leben als Kuhhirten …

Je älter Pietro wurde, desto kritischer ging er mit der Lebensweise seines Vaters um. Ständig hinterfragte er den Charakter und das Verhalten seines Vaters. Nach der Schule verließ Pietro das Elternhaus, denn er ertrug seinen Vater nicht mehr, der aus seiner Sicht nur auf seine Bedürfnisse bedacht war und völlig unprofessionell wirkte, wenn es sich z. B. um das Bergsteigen drehte. Jahre später erfuhr Pietro, dass sein Vater Bruno mit in die Berge genommen hatte ...

Pietro geht seinen eigenen Weg, bricht mit der Uni ab, um sich auf eine längere Asienreise zu begeben, um die Himalaja zu besichtigen. Zehn Jahre lang hatte er keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Als sein Vater schließlich früh an Herzversagen stirbt, reist Pietro wieder in die Heimat zurück. Durch seine Mutter erfährt er, dass der Vater immer um seinen Sohn besorgt war, und der Stress auf der Arbeit zermürbte ihn letztendlich. Um den Tod des Vaters besser verarbeiten zu können, begibt sich Pietro in den Bergen in seine Fussstapfen ... 

Nach zehn Jahren entsteht ein neuer Kontakt zu Bruno, der inzwischen eine Maurerlehre absolviert hatte, und dennoch die Absicht verfolgt, sich beruflich zu verändern, um einen ganz anderen Bereich zu betreten, der ihm trotzdem vertraut war.

Die beiden Jungen, die zu Männern herangereift waren, kommen sich nach so vielen Jahren über den verstorbenen Freund und Vater wieder näher und setzen ihre außergewöhnliche Freundschaft fort.

Pietro tritt ein Erbe seines Vaters an. In den Bergen hatte er ein Grundstück mit einer alten Ruine geerbt, auf dem für ihn ein Haus hätte entstehen sollen. Das hat der Vater aber nicht mehr geschafft, und nun fühlt sich Bruno verantwortlich, dieses Haus für Pietro zu bauen. Pietro schließt sich Bruno an, packt am Hausbau mit an und so kommen sich die beiden Freunde durch dieses gemeisame Handwerk näher.

Ein intensiver Austausch über den verstorbenen Vater findet statt. Durch Brunos Schilderungen bekam Pietro ein ganz anderes Bild von seinem Vater. Während Pietro seinen Vater abgewertet hatte, wertete Bruno ihn wieder auf. Negative Charaktereigenschaften kamen von Pietro, die positiven von Bruno. Bruno schien Pietros Vater besser zu kennen als der eigene Sohn, vielleicht, weil sie beide seelisch verwandt waren; aber auch, weil sie in ihrer Biografie Gemeinsamkeiten aufzuweisen hatten …

Bruno setzte seine beruflichen Pläne um, und machte sich zusammen mit seiner Partnerin, die er durch Pietro kennengelernt hatte, in der Landwirtschaft selbstständig. Leider scheiterten seine Pläne, obwohl er und seine Partnerin Lara über Jahre Tag und Nacht geschuftet haben. Lara verlässt ihn mit der gemeinsamen Tochter, weil sie ihn für dieses entsetzliche Desaster verantwortlich macht. Bruno war gezwungen, Insolvenz anzumelden … Bruno war nicht bereit, rechtzeitig alle Zelte abzubrechen, um woanders einen Neustart zu wagen. Bruno hat diesen beruflichen Verlust und den Verlust seiner kleinen Familie nur sehr schwer verkraftet und zog sich als Konsequenz noch weiter von der Außenwelt zurück. Auch mit Pietro war er nicht bereit, über seinen inneren Schmerz zu sprechen, und zog wie ein Eremit ein Leben in den Bergen vor. 

Zum Schreibkonzept
Zwei schöne Zitate sind auf den ersten beiden Seiten namhafter Autoren zu lesen. Auf den folgenden Seiten findet eine kleine Einleitung zu der Familiengeschichte Guasti statt. Der Roman ist auf 245 Seiten in drei Teilen und zwölf Kapiteln gegliedert.
Es ist ein ruhiger und dadurch auch ein sehr angenehmer Schreibstil.

Cover und Buchtitel  
Ich wollte gerne das italienische Cover oben mitabbilden, war aber nicht nötig, da der deutsche Verlag das italienische Cover übernommen hat.
Der Buchtitel: Zu Beginn des Romans dachte ich erst, dass diese acht Berge die Berge der Dolomiten darstellen würden. Ich habe mich aber geirrt. Sie führen in eine völlig andere Richtung, raus aus Veneto, raus aus Italien, raus aus Europa.

Meine Identifikationsfigur
Bruno war meine Identitfikationsfigur.

Was ist die Antwort auf Ferrantes Werk?
Die Antwort ist für mich eine politische. Als Pietro nach zehn Jahren wieder nach Italien zurückgekehrt war, war er verwundert, wie sehr seine Heimat heruntergewirtschaftet wurde. Er hat sein Land fast nicht wiedererkannt. Selbst sein studierter Vater bangte zu Lebezeiten um seine Anstellung als Chemiker in einer Fabrik, die über zehntausend Arbeiter beschäftigt hat, und auch sie alle besorgt um ihren Arbeitsplatz waren. Politische Unruhen und viele Arbeiterstreiks dominierten das Land. Nun war nicht nur der Süden Italiens von der krankhaften Wirtschaftskrise befallen, auch im Norden schlug sie wie ein Krebsgeschwür um sich ... 

Und im Fall Bruno? Ja, Bruno hat es schulisch nicht weit gebracht, und wenn Pietros Mutter nicht gewesen wäre, hätte er nicht einmal einen Schulabschluss geschafft. Solche schulischen Lebensläufe findet man auch bei uns in Deutschland, aber sie sind sowohl hier als auch dort nicht die Regel. Schulschwänzer findet man überall auf der Welt.
Biografisch gesehen besaß Bruno zwar einen Vater, aber dieser Vater war kaum für seinen Sohn da. Der Vater verließ eines Tages Sohn und Frau, weil die Frau ihn nicht mehr etrug. Brunos Mutter war eine wortkarge Person, die sich tatkräftig um ihre Wirtschaft gekümmert hat. Über Probleme wurde in dieser Familie nicht gesprochen, man ertrug sie größtenteils jeder für sich stillschweigend ... Pietros Vater war für Bruno ein Vatersubstitut. Der Junge hat in diesem Mann alles gefunden, was er an seinem Vater vermisst hatte. Deshalb betrachte ich Bruno symbolisch als eine Halbwaise. Sicher hatte Bruno seinen Freund Pietro um seinen Vater bewundert, auch, dass er in der Welt herumkam. Das hätte Bruno auch haben können, zusammen mit Pietro, aber er traute sich das nicht zu. Es fehlte ihm an Selbstbewusstsein, und so hielt er an alt Vertrautem fest ... Und gescheitert ist Bruno am Ende trotzdem. Wer es besser wusste, suchte mutig woanders einen Weg, um die Existenz zu bestreiten, wie es Pietros Familie und viele andere Menschen getan haben.

Zur aktuellen politischen Lage
Die italienische Regierung schafft es durch tiefverwurzelte Mafiöse Strukturen nicht, aus der Korruption rauszukommen. Lange, lange Zeit waren auch in Italien die Südländer*innen die Bösen, nun muss auch der Norden zusehen, wo er bleibt. Die Regierung spaltet Nord und Süd. Der Norden Italiens muss höhere Steuern bezahlen, um den Süden zu unterstützen. Das Geld kommt aber nicht an, wo es eigentlich hin soll ...  Außerdem verlassen viele Akademiker*innen derzeit das Land, denn selbst mit einem abgeschlossenen Studium ist es schwer für einen jungen Menschen, in Italien Fuß zu fassen ... 

Die Mieten sind überteuert, und die Gehälter reichen nicht aus, sich ein eigenes Leben aufzubauen, und so bleiben viele junge Leute erstmal bei den Eltern wohnen, bis sie heiraten oder andere Lösungen, die ins Ausland führen, gefunden haben. Hier in Deutschland heißt es, die erwachsenen Kinder würden im Hotel Mama wohnen bleiben; ein Vorurteil, das nicht mehr aus den Köpfen zu bekommen ist. Ohne den Familienverband ist ein Leben in Italien nach wie vor sehr schwer aufrechtzuerhalten. Das Vertrauen zu den Politkern ist schon längst ausgespielt. Aber sie wählen diese Politiker, weil es keine anderen gibt. Viele verweigern die Wahl, gehen nicht mal mehr an die Wahlurne.

Bruno und seine Partnerin haben gerackert und geschuftet und sind trotzdem auf keinen grünen Zweig gekommen.

Derzeit haben die Italiener*innen rechts gewählt, mit der Hoffnung, dass die neue Regierung Arbeitsplätze schafft. Aber tief in ihnen drin, wissen sie, dass sich nichts an dieser maroden Regierung ändern wird, auch wenn die Gesichter im Parlament durch Versagen der Regierung ständig zu wechseln scheinen.

Elena Ferrante hat die Politik in ihrem Buch völlig ausgeblendet. Ich habe nur den ersten Band gelesen, den ich dermaßen einseitig und üerfrachtet mit destruktiven Bildern und Szenen erlebt habe, dass ich die Folgebände boykottieren musste. Ich habe mich gewundert, dass viele studierte Leser*innen hierzulande dieses Werk so hochgelobt haben. Mir fehlt dafür jegliches Verständnis. Ein Buch voller Klischees, voller Vorurteile; weshalb finden es die Leser*innen in Deutschland gut? Würde man über Deutschland ein dermaßen einseitiges destruktives Bild abwerfen, da würde jeder Deutsche protestieren. Warum also so unkritisch Ferrante lesen? Ich kenne in Italien so viele Italiener*innen, die ehrlich und hart ihren Unterhalt bestreiten müssen und sie trotz der Armut ihre Kinder dennoch auf die höhere Schule schicken. Es sind viele freundliche und kinderliebende Menschen, die es nicht verdient haben, in der Literatur so abgedroschen zu werden. Keiner würde das eigene Kind aus dem Fenster werfen, wie Ferrante versucht, es uns glaubhaft zu machen. Böse Menschen gibt es überall auf der Welt, aber überall auf der Welt gibt es auch gute. Die Guten musste ich bei Ferrante mit der Lupe suchen und konnte auch mit der Lupe nicht wirklich fündig werden.

Und wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, Cognettis und Ferrantes Werk, so hat Cognetti schlechter in der Punktevergabe abgeschnitten als Ferrante. Das gibt mir zu denken ... 

Mein Fazit
Ich selbst fand das Buch richtig toll und freue mich dadurch, Paolo Cognetti kennengelernt zu haben; ein italienscher Autor, der sich wunderbar für mein Italien-Leseprojekt eignet. Ein Buch ohne Klischees und völlig frei von Stereotypen. Ich bin dankbar, dass Cognetti dieses Buch geschrieben hat.

Ich freue mich sehr, dass das Bloggerportal mir Cognettis Debüt Sofia zum Rezensieren hat zukommen lassen.

Externe Rezension zum Buch
Meine Freundin Sabine St. hat auf Buchrevier eine interessante Rezension von Tobias Nazemi gefunden, die ich unbedingt mit meinem Blog verlinken möchte. Auf der Seite ist auch ein interessantes Interview mit Cognettis Acht Berge. Der Rezensent nimmt auch Stellung zu Ferrantes Werk.


Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten

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Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen,
um vorwärts zu kommen.
(Paolo Cognetti)

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