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Dienstag, 15. Januar 2019

Dörte Hansen / Mittagsstunde (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch, das mich nicht mehr losgelassen hat. Auch wenn ich anfangs etwas Mühe hatte, reinzukommen, habe ich es trotzdem von der ersten bis zur letzten Seite genossen. Eine versierte, literarische Sprache, eine differenzierte Figurenbeschreibung, ein interessantes norddeutsches Familienporträt.

Dadurch, dass wir das Buch im Bücherforum besprechen, werde ich hier nur die wichtigsten Fakten beschreiben. Am Ende der Besprechung verlinke ich meine Seite mit der auf Whatchareadin. Ich habe dort ein paar schöne Zitate hinterlassen, und werde morgen Abend mich weiter an der Diskussion beteiligen. 

Hier geht es zum Klappentext, zur Vita der Autorin, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Die Handlung spielt in Brinkebüll, eine kleine Ortschaft im Norden Deutschlands.
Auf den ersten Seiten lernt man Marret Feddersen kennen, eine merkwürdige Figur, die überall in der Ortschaft tagtäglich den Untergang preist. Doch die Apokalypse lässt bis dato noch auf sich warten ;-). Marret scheint intellektuell ein wenig retardiert zu sein, hört permanent Schlagerlieder, die nicht nur von einer heilen Liebeswelt singen … Marret stammt aus einer dreiköpfigen Familie. Der angebliche Vater, Sönke Kröger, hat noch vor Marrets Geburt in die Familie Feddersen hineingeheiratet. Sönke besitzt eine Gaststätte und ist noch als Landwirt tätig. Ella Feddersen, Marrets Mutter, ist eine sehr stille und stark introvertierte Figur, die Probleme innerhalb der Familie innerlich eher aushält, als dass sie sie anspricht. Als Sönke im Krieg war, musste sie ihren Mann auf dem Feld und in der Kneipe ersetzen. Als der Krieg vorbei war und Sönke nichts hat von sich hören lassen, rechnete Ella nicht mehr mit seiner Rückkehr …  Marret ist ein Nachkriegskind …

Eine weitere wichtige Figur ist Ingwer Feddersen, der uneheliche Sohn von Marret. die damals 17-jährige Marret wollte das Kind nicht, und so versuchte sie es durch verschiedene Selbstverletzungen abzutreiben …

Ingwer wurde trotzdem geboren und wuchs bei Sönke und Ella auf. Marret kümmerte sich nur wenig um ihr Kind.

Als Ingwer schulpflichtig wurde, entpuppte er sich zum Klassenbesten, sodass er nach der Grundschule das Gymnasium außerhalb von Brinkebüll besuchte. Sönke hatte eigentlich mit ihm andere Pläne. Er wollte, dass Ingwer beruflich in seine Fußstapfen tritt. Durch den weiteren Bildungsweg über Studium und Promotion entfremdeten sich Sönke und Ingwer immer mehr voneinander. Seinen Wohnsitz verlegte Ingwer nach Kiel, etwa 100 Kilometer von Brinkebüll entfernt, wo er an der Universität eine Dozentenstelle innehat ... Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt Ingwer in einer Dreier-WG ... Eine feste Bindung hat er nicht, eine klassische Ehe als Institution lehnte er ab. Es ist für mich noch nicht ganz klar, ob die Mitglieder in dieser Dreier-WG, zusammengesetzt aus Ingwer, Claudius und Ragnhild, ihr sexuelles Liebespotential in ihrer Dreiecksbeziehung entfalten.

Als promovierter Landvermesser kehrt Ingwer beruflich nach vielen Jahren wieder nach Brinkebüll zurück und ist erstaunt, wie sehr sein Heimatdorf sich verändert hat. Es sind kaum noch Landwirte zu sehen. Viele haben Land und Hof verkauft … Brinkebüll wird modernisiert …

Sönke und Ella, 90 Jahre alt, sind mittlerweile alte Leute, die Unterstützung in der Pflege und im Haushalt benötigen ...

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Besonders abstoßend habe ich den eher selbstgerechten Dorfschullehrer namens Steensen erlebt, als er seine Schüler geschlagen hat, wenn sie nicht pariert haben. Vom Schulamt wurde durch die 1968er Bewegung die antiautoritäre Erziehung an den Schulen vorgeschrieben, an die sich Steensen bis zu seiner Pensionierung nicht halten wollte. Auch wenn er gerecht gewirkt hat, reicht mir das nicht ... 

Welche Szenen haben mir besonders gut gefallen? Drei Szenen
1) Gefallen hat mir, dass Marret von der Gesellschaft und von ihrer Familie wegen der unehelichen Schwangerschaft nicht verstoßen wurde. Marret selbst hatte allerdings keine Ahnung, wie das Kind aus ihrem Körper geboren werden soll. Früher sprach man nicht über die Sexualität, auch nicht über Verhütung und nicht über die Geburt eines Neugeborenen. Ella hatte auch nicht den Mut, Marret aufzuklären. Aus der Schulbibliothek lieh sie sich den Atlas über die Anatomie des menschlichen Körpers. Mit Hilfe dieses Atlas` half sie ihrer Tochter, die bevorstehende Geburt verständlich zu machen ... Wie Marret diese Informationen aufgefasst hat, ist dem Buch zu entnehmen. Bücher können viel, aber doch nicht alles ... 

2) Wahnsinnig angenehm fand ich, als Sönke den kleinen schreienden Säugling Ingwer, der erst kaum zu bändigen war, ihn als kleines Bündel auf seiner Männerbrust in seiner Jacke gewärmt hat und ihn so überall hin mitgetragen hat. Sönke wirkte vom Charakter her sehr spröde und trocken, dass ich ihm diese Form von Liebe niemals zugetraut hätte, wo doch die Hebamme den Tipp gegeben hatte, das Kind einfach schreien zu lassen.

3) Gefallen haben mir auch die Szenen, in denen Ingwer Sönke und Ella in Brinkebüll gepflegt hat, als er sich beruflich dafür für ein Jahr eine Auszeit nimmt, um sich um die alten Eltern/Großeltern zu kümmern. Ella entwickelte schleichend eine Demenz, während Sönke körperlich stark geschwächt und pflegebedürftig ist.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Ella Feddersen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Ragnhild Dieffenbach, Dipl. Ingenieurin, die, als Ingwer als Endvierziger in eine Midlife-Crisis gerät, kommt sie ihm mit naiven psychologischen Theorien, in der er sich nicht verstanden gefühlt hat. Ich vermisste bei ihr die Empathie und Ingwer sicher auch.

Meine Identifikationsfigur
Ingwer Feddersen.

Cover und Buchtitel 
Vosicht Spoiler
Das Cover hat mir sehr gut gefallen. Und den Titel Mittagsstunde, was darunter gemeint ist, wird später auf verschiedenen Seiten deutlich. Vor der Modernisation von Brünkebüll wurde die Mittagsstunde als Ruhezeit zelebriert, und nach der Modernisation wurden diese Ruhezeiten aufgelöst, als sich mit ihr auch ganz Brinkebüll aufgelöst hat. Die Städter zogen aufs Land, um die Natur zu erleben, und die jungen Leute zogen vom Land in die Stadt, weil für sie der Beruf als Landwirt nicht mehr lukrativ genug war.

Zum Schreibkonzept
Die Zeiten, in denen die Handlung sich abspielt, sind nicht chronologisch aufgebaut. Sie pendelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Marret muss Ende der 1940er Jahre geboren worden sein, Ingwer kam Anfang bis Mitte der 1960er Jahre auf die Welt.

Meine Meinung
Wie ich anfangs schon geschrieben habe, hat mir das Buch sehr zugesagt. Die Lebensweise der Dorfbewohner*innen war so prägnant, dass mich das tief berührt hat. Die Autorin hat es geschafft, die Figuren so zu beschreiben, dass es für mich möglich wurde, in das Innenleben dieser Menschen zu schauen, das voller Abgründe ist. Auf mich wirkten all diese Menschen innerlich sehr einsam, nur jeder auf seine eigene Weise. Probleme wurden nicht angesprochen. Es war üblich, sie zu ertragen. Jede Figur wirkte auf mich wie eine einsame Insel. Daher auch ein sehr nachdenkenswertes Buch. Aber ob die Themen wirklich so spezifisch sind, dass man sie nur in Brinkebüll finden kann, das glaube ich eher nicht. Kürzlich hatte ich zwei italienische Autoren gelesen, auch darin ging es um italienische Dörfer, um Landflucht, um Modernisierung dieser Dörfer, und die Italiener waren dort ähnlich nach innen gekehrt wie die Menschen aus dem hohen Norden von Deutschland. Auch sie konnten nicht offen über ihre Probleme reden ... 

Mein Fazit
Eine faszinierte und sehr lesenswerte Familienbiografie mit ihren Besonderheiten an Lebensweisen in einer Dorfgemeinschaft.  

Klare Leseempfehlung.

Weitere Information zu dem Buch
Vielen herzlichen Dank an den Penguin Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Ein herzliches Dankeschön auch an die Moderator*innen des Bücherforums Whatchareadin für das Engagement.

Hier geht es zu der Leserunde.

________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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Sonntag, 2. Dezember 2018

Paolo Cognetti / Acht Berge (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch über die Natur, über eine besondere Freundschaft zweier Jungen, über eine interessante Vater-Sohn-Beziehung und über die politische Lage Italiens.

Gefreut habe ich mich zudem, dass ich tatsächlich eine Antwort zu Ferrantes Buch habe finden können, wo ich erst dachte, dass dies nur auf dem Umschlag steht, um die Leser*innen anzulocken. 

Daher möchte ich am Ende der Besprechung etwas über dieses Buch diskutieren, über die Antwort auf Ferrantes Werk, weshalb ich gezwungen sein werde, ein paar Details mehr anzubringen, bin aber trotzdem bemüht, nicht alles zu verraten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung wird aus der Ich-Perspektive des Jungen namens Pietro Guasti erzählt. Seine Eltern, die aus dem ländlichen Veneto kommen, sind mit Anfang dreißig in die Großstadt Mailand gezogen. Veneto scheint wie ausgestorben zu sein, als hätten die Bewohner Landflucht betrieben, da die Gegend für Arbeitsplätze nicht mehr lukrativ genug war und die schlechte Infrastruktur die Wirtschaft noch weiter belastet hat. Erst viele Jahre später zog das Bergdorf durch attraktive Umbaumaßnahmen jede Menge Touristen an. Es gab kaum noch Einheimische.

Pietros Vater ist eine Kriegswaise und von Beruf studierter Chemiker. Die Mutter ist gelernte Krankenschwester, in Mailand allerdings ist sie in einem sozialen Brennpunkt als Familienhelferin tätig.

Pietro, Einzelkind, wurde Anfang der 1970er Jahre in Mailand geboren.

Pietros Eltern fühlten sich in dem stickigen Mailand nicht wirklich wohl und vermissten ihre Berge in den Dolomiten. Daher verbrachte die Kleinfamilie die Ferien mehrmals im Jahr in dem kleinen Bergdorf Grana.

Pietros Vater war Einzelgänger. Er fühlte sich wohl in der Natur, war immer froh, wenn er aus der staubigen Großstadt flüchten konnte. Zusammen mit seinem Sohn ging er in die Berge wandern und klettern.

Das Bergdorf Grana wirkte wie eine Geisterstadt, verlassen und einsam, viele heruntergekommene Häuser,  nur noch wenige Menschen sind geblieben.

Pietro lernte in Grana einen gleichaltrigen Jungen kennen, Bruno Guglielmina, der auf der Weide Kühe hütete. Es war schwierig, sich Bruno zu nähern. Bruno war wie Pietros Vater Einzelgänger und schien keine Freunde zu haben. Bruno hatte mit der Schule abgebrochen ... nun ist es Pietros Mutter, die es schafft, dass die beiden Jungen freundschaftlich zueinanderfinden. Allmählich fasst Bruno Vertrauen zu Pietro und dessen Familie …

Durch Pietros Mutter Einfluss gelingt es ihr, dass Bruno wieder zurück in die Schule geht und wenigstens einen Hauptschulabschluss erwirbt … Später setzte sich die Mutter noch dafür ein, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er dort mit den höheren Schulen fortsetzen konnte… Das stieß nicht nur bei Pietro auf Widerstand, denn welches Recht hatten seine Eltern, Bruno von seinem Zuhause wegzuholen, wenn er doch glücklich war mit seinem Leben als Kuhhirten …

Je älter Pietro wurde, desto kritischer ging er mit der Lebensweise seines Vaters um. Ständig hinterfragte er den Charakter und das Verhalten seines Vaters. Nach der Schule verließ Pietro das Elternhaus, denn er ertrug seinen Vater nicht mehr, der aus seiner Sicht nur auf seine Bedürfnisse bedacht war und völlig unprofessionell wirkte, wenn es sich z. B. um das Bergsteigen drehte. Jahre später erfuhr Pietro, dass sein Vater Bruno mit in die Berge genommen hatte ...

Pietro geht seinen eigenen Weg, bricht mit der Uni ab, um sich auf eine längere Asienreise zu begeben, um die Himalaja zu besichtigen. Zehn Jahre lang hatte er keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Als sein Vater schließlich früh an Herzversagen stirbt, reist Pietro wieder in die Heimat zurück. Durch seine Mutter erfährt er, dass der Vater immer um seinen Sohn besorgt war, und der Stress auf der Arbeit zermürbte ihn letztendlich. Um den Tod des Vaters besser verarbeiten zu können, begibt sich Pietro in den Bergen in seine Fussstapfen ... 

Nach zehn Jahren entsteht ein neuer Kontakt zu Bruno, der inzwischen eine Maurerlehre absolviert hatte, und dennoch die Absicht verfolgt, sich beruflich zu verändern, um einen ganz anderen Bereich zu betreten, der ihm trotzdem vertraut war.

Die beiden Jungen, die zu Männern herangereift waren, kommen sich nach so vielen Jahren über den verstorbenen Freund und Vater wieder näher und setzen ihre außergewöhnliche Freundschaft fort.

Pietro tritt ein Erbe seines Vaters an. In den Bergen hatte er ein Grundstück mit einer alten Ruine geerbt, auf dem für ihn ein Haus hätte entstehen sollen. Das hat der Vater aber nicht mehr geschafft, und nun fühlt sich Bruno verantwortlich, dieses Haus für Pietro zu bauen. Pietro schließt sich Bruno an, packt am Hausbau mit an und so kommen sich die beiden Freunde durch dieses gemeisame Handwerk näher.

Ein intensiver Austausch über den verstorbenen Vater findet statt. Durch Brunos Schilderungen bekam Pietro ein ganz anderes Bild von seinem Vater. Während Pietro seinen Vater abgewertet hatte, wertete Bruno ihn wieder auf. Negative Charaktereigenschaften kamen von Pietro, die positiven von Bruno. Bruno schien Pietros Vater besser zu kennen als der eigene Sohn, vielleicht, weil sie beide seelisch verwandt waren; aber auch, weil sie in ihrer Biografie Gemeinsamkeiten aufzuweisen hatten …

Bruno setzte seine beruflichen Pläne um, und machte sich zusammen mit seiner Partnerin, die er durch Pietro kennengelernt hatte, in der Landwirtschaft selbstständig. Leider scheiterten seine Pläne, obwohl er und seine Partnerin Lara über Jahre Tag und Nacht geschuftet haben. Lara verlässt ihn mit der gemeinsamen Tochter, weil sie ihn für dieses entsetzliche Desaster verantwortlich macht. Bruno war gezwungen, Insolvenz anzumelden … Bruno war nicht bereit, rechtzeitig alle Zelte abzubrechen, um woanders einen Neustart zu wagen. Bruno hat diesen beruflichen Verlust und den Verlust seiner kleinen Familie nur sehr schwer verkraftet und zog sich als Konsequenz noch weiter von der Außenwelt zurück. Auch mit Pietro war er nicht bereit, über seinen inneren Schmerz zu sprechen, und zog wie ein Eremit ein Leben in den Bergen vor. 

Zum Schreibkonzept
Zwei schöne Zitate sind auf den ersten beiden Seiten namhafter Autoren zu lesen. Auf den folgenden Seiten findet eine kleine Einleitung zu der Familiengeschichte Guasti statt. Der Roman ist auf 245 Seiten in drei Teilen und zwölf Kapiteln gegliedert.
Es ist ein ruhiger und dadurch auch ein sehr angenehmer Schreibstil.

Cover und Buchtitel  
Ich wollte gerne das italienische Cover oben mitabbilden, war aber nicht nötig, da der deutsche Verlag das italienische Cover übernommen hat.
Der Buchtitel: Zu Beginn des Romans dachte ich erst, dass diese acht Berge die Berge der Dolomiten darstellen würden. Ich habe mich aber geirrt. Sie führen in eine völlig andere Richtung, raus aus Veneto, raus aus Italien, raus aus Europa.

Meine Identifikationsfigur
Bruno war meine Identitfikationsfigur.

Was ist die Antwort auf Ferrantes Werk?
Die Antwort ist für mich eine politische. Als Pietro nach zehn Jahren wieder nach Italien zurückgekehrt war, war er verwundert, wie sehr seine Heimat heruntergewirtschaftet wurde. Er hat sein Land fast nicht wiedererkannt. Selbst sein studierter Vater bangte zu Lebezeiten um seine Anstellung als Chemiker in einer Fabrik, die über zehntausend Arbeiter beschäftigt hat, und auch sie alle besorgt um ihren Arbeitsplatz waren. Politische Unruhen und viele Arbeiterstreiks dominierten das Land. Nun war nicht nur der Süden Italiens von der krankhaften Wirtschaftskrise befallen, auch im Norden schlug sie wie ein Krebsgeschwür um sich ... 

Und im Fall Bruno? Ja, Bruno hat es schulisch nicht weit gebracht, und wenn Pietros Mutter nicht gewesen wäre, hätte er nicht einmal einen Schulabschluss geschafft. Solche schulischen Lebensläufe findet man auch bei uns in Deutschland, aber sie sind sowohl hier als auch dort nicht die Regel. Schulschwänzer findet man überall auf der Welt.
Biografisch gesehen besaß Bruno zwar einen Vater, aber dieser Vater war kaum für seinen Sohn da. Der Vater verließ eines Tages Sohn und Frau, weil die Frau ihn nicht mehr etrug. Brunos Mutter war eine wortkarge Person, die sich tatkräftig um ihre Wirtschaft gekümmert hat. Über Probleme wurde in dieser Familie nicht gesprochen, man ertrug sie größtenteils jeder für sich stillschweigend ... Pietros Vater war für Bruno ein Vatersubstitut. Der Junge hat in diesem Mann alles gefunden, was er an seinem Vater vermisst hatte. Deshalb betrachte ich Bruno symbolisch als eine Halbwaise. Sicher hatte Bruno seinen Freund Pietro um seinen Vater bewundert, auch, dass er in der Welt herumkam. Das hätte Bruno auch haben können, zusammen mit Pietro, aber er traute sich das nicht zu. Es fehlte ihm an Selbstbewusstsein, und so hielt er an alt Vertrautem fest ... Und gescheitert ist Bruno am Ende trotzdem. Wer es besser wusste, suchte mutig woanders einen Weg, um die Existenz zu bestreiten, wie es Pietros Familie und viele andere Menschen getan haben.

Zur aktuellen politischen Lage
Die italienische Regierung schafft es durch tiefverwurzelte Mafiöse Strukturen nicht, aus der Korruption rauszukommen. Lange, lange Zeit waren auch in Italien die Südländer*innen die Bösen, nun muss auch der Norden zusehen, wo er bleibt. Die Regierung spaltet Nord und Süd. Der Norden Italiens muss höhere Steuern bezahlen, um den Süden zu unterstützen. Das Geld kommt aber nicht an, wo es eigentlich hin soll ...  Außerdem verlassen viele Akademiker*innen derzeit das Land, denn selbst mit einem abgeschlossenen Studium ist es schwer für einen jungen Menschen, in Italien Fuß zu fassen ... 

Die Mieten sind überteuert, und die Gehälter reichen nicht aus, sich ein eigenes Leben aufzubauen, und so bleiben viele junge Leute erstmal bei den Eltern wohnen, bis sie heiraten oder andere Lösungen, die ins Ausland führen, gefunden haben. Hier in Deutschland heißt es, die erwachsenen Kinder würden im Hotel Mama wohnen bleiben; ein Vorurteil, das nicht mehr aus den Köpfen zu bekommen ist. Ohne den Familienverband ist ein Leben in Italien nach wie vor sehr schwer aufrechtzuerhalten. Das Vertrauen zu den Politkern ist schon längst ausgespielt. Aber sie wählen diese Politiker, weil es keine anderen gibt. Viele verweigern die Wahl, gehen nicht mal mehr an die Wahlurne.

Bruno und seine Partnerin haben gerackert und geschuftet und sind trotzdem auf keinen grünen Zweig gekommen.

Derzeit haben die Italiener*innen rechts gewählt, mit der Hoffnung, dass die neue Regierung Arbeitsplätze schafft. Aber tief in ihnen drin, wissen sie, dass sich nichts an dieser maroden Regierung ändern wird, auch wenn die Gesichter im Parlament durch Versagen der Regierung ständig zu wechseln scheinen.

Elena Ferrante hat die Politik in ihrem Buch völlig ausgeblendet. Ich habe nur den ersten Band gelesen, den ich dermaßen einseitig und üerfrachtet mit destruktiven Bildern und Szenen erlebt habe, dass ich die Folgebände boykottieren musste. Ich habe mich gewundert, dass viele studierte Leser*innen hierzulande dieses Werk so hochgelobt haben. Mir fehlt dafür jegliches Verständnis. Ein Buch voller Klischees, voller Vorurteile; weshalb finden es die Leser*innen in Deutschland gut? Würde man über Deutschland ein dermaßen einseitiges destruktives Bild abwerfen, da würde jeder Deutsche protestieren. Warum also so unkritisch Ferrante lesen? Ich kenne in Italien so viele Italiener*innen, die ehrlich und hart ihren Unterhalt bestreiten müssen und sie trotz der Armut ihre Kinder dennoch auf die höhere Schule schicken. Es sind viele freundliche und kinderliebende Menschen, die es nicht verdient haben, in der Literatur so abgedroschen zu werden. Keiner würde das eigene Kind aus dem Fenster werfen, wie Ferrante versucht, es uns glaubhaft zu machen. Böse Menschen gibt es überall auf der Welt, aber überall auf der Welt gibt es auch gute. Die Guten musste ich bei Ferrante mit der Lupe suchen und konnte auch mit der Lupe nicht wirklich fündig werden.

Und wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, Cognettis und Ferrantes Werk, so hat Cognetti schlechter in der Punktevergabe abgeschnitten als Ferrante. Das gibt mir zu denken ... 

Mein Fazit
Ich selbst fand das Buch richtig toll und freue mich dadurch, Paolo Cognetti kennengelernt zu haben; ein italienscher Autor, der sich wunderbar für mein Italien-Leseprojekt eignet. Ein Buch ohne Klischees und völlig frei von Stereotypen. Ich bin dankbar, dass Cognetti dieses Buch geschrieben hat.

Ich freue mich sehr, dass das Bloggerportal mir Cognettis Debüt Sofia zum Rezensieren hat zukommen lassen.

Externe Rezension zum Buch
Meine Freundin Sabine St. hat auf Buchrevier eine interessante Rezension von Tobias Nazemi gefunden, die ich unbedingt mit meinem Blog verlinken möchte. Auf der Seite ist auch ein interessantes Interview mit Cognettis Acht Berge. Der Rezensent nimmt auch Stellung zu Ferrantes Werk.


Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten

________________
Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen,
um vorwärts zu kommen.
(Paolo Cognetti)

Gelesene Bücher 2018: 52
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Montag, 26. November 2018

Inger-Maria Mahlke / Archipel (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Nach 324 Seiten musste ich das Buch definitiv abbrechen. Ich habe mich das ganze Wochenende damit gequält. Und heute ist mein freier Tag und möchte ihn mit spannenderen Inhalten ausfüllen.

Aber keine Sorge, meine beiden Lesepartnerinnen Tina und Sabine St. gefällt das Buch recht gut. Die Geschmäcker dürfen auch gerne unterschiedlich bleiben. Da ich am Wochenende meine ganze Zeit dem Buch geopfert habe, werde ich daher meine inhaltliche Buchbesprechung kurzhalten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Man bekommt es hier mit einer spanischen Familie mehrerer Generationen zu tun, die auf den kanarischen Inseln lebt. Zu Beginn des Romans lernen wir drei Generationen kennen. Das jüngste Glied dieser Familie ist Rosa Bernadotte Baute, Anfang zwanzig, hatte ein Studium begonnen, ist aber an einer Arbeit Was von meinem Vater übrig blieb gescheitert. Sie arbeitet nun in einem Seniorenheim Asyl der barmherzigen Schwestern für in Not gefallene Alte, in dem ihr Großvater Julio Baute, 95 Jahre alt, als Portier tätig ist. Der Großvater ist gleichzeitig Bewohner dieses Heimes.

Julio Baute ist der Vater von Ana Baute, die 52 Jahre alt ist und Mutter von Rosa. Sie ist politisch aktiv, und steht eher auf der konservativen Seite. Auch sie hat ein Studium absolviert und ist Verwaltungswissenschaftlerin. Eine ganz andere Richtung als die von Rosa und ihrem Mann Felipe.

Felipe Bernadotte, 53 Jahre alt, ist mit Ana verheiratet und der Vater von Rosa. Er kommt aus einer adligen Familie. Felipe hatte auch studiert, hatte aber sein Studium aus politischen Gründen abbrechen müssen. Felipe war politisch eher links orientiert. Nach dem Abbruch seines Studiums verbrachte er seine Zeit vormittags als ein einfacher Bauer, und nachmittags geht er hauptsächlich in einen Klub und lässt sich in der dazugehörigen Bibliothek mit Alkohol berieseln.

In der Familie ist auch eine Haushaltskraft namens Eulalia tätig, die Felipe mit in die Ehe gebracht hat. In dem Roman wird auch Eulalias Herkunft beleuchtet.

Es scheint hier in der Familie jede Menge Probleme zu geben, die allerdings nicht angegangen werden. Man spricht nicht darüber, man hält sie im Stillen aus. Dass Felipe am Nichtstun leidet und die Langeweile mit Alkohol kompensiert, wird an verschiedenen Stellen deutlich. Außerdem scheint er sich als Versager zu sehen, dass er den Erwartungen seines adligen Standes nicht zu erfüllen weiß.

Sein adliger Name Bernadotte war sein eigentliches Problem, mit dem er kritisch umgegangen ist. Eine familiäre Belastung, die weit in die Franco – Diktatur zu reichen scheint ... Felipe wollte kein Bernadotte mehr sein, und beschloss, nur noch einfache Gartenarbeiten zu verrichten, da er sich politisch als gescheitert betrachtet… Felipe zählte sich zu den letzten Konquistadoren, spanische Eroberer südamerikanischer Kolonien ...

Die Handlung beginnt im Jahre 2015 und endet 1919.

Zum Schreibkonzept
Dieses Schreibkonzept hat mir eigentlich gefallen. Obwohl es anstrengend war, die Handlungen von hinten nach vorne zu lesen. Der Roman besteht aus 17 Kapiteln und vereinzelt aus Unterkapiteln. Aber vieles, was die Autorin thematisch aufreißt, bleibt unvollständig und unaufgeklärt. Am Ende des Buches befindet sich ein Glossar, mit dem man nicht wirklich etwas anzufangen weiß. Außerdem werden viele spanische Sätze nicht übersetzt. 

Cover und Buchtitel?
Damit hat sich Sabine St. befasst, die gleich zu Beginn gegoogelt hat, was die Autorin mit dem Buchtitel Archipel gemeint haben könnte. Ich hatte eher gehofft, die Autorin gibt zu ihrem Titel einen Hinweis. Auf jeden Fall habe ich Archipel als eine Inselgruppe Spaniens aufgefasst, siehe Näheres dazu auch auf Wikipedia.

Meine Identifikationsfigur
Keine

Meine Meinung
Ich konnte nach 324 Seiten nicht mehr weiterlesen, da ich völlig an den Erwartungen, was ich hoffte, was mir das Buch bieten sollte, rundum gescheitert bin. Auch habe ich mich zu stark vom Klappentext verleiten lassen. Die Figuren waren mir zu flach, und die historischen und politischen Zusammenhänge nicht ausreichend genug zusammengefügt. Immer mal wieder kurz angerissen, mehr ist aber nicht passiert. Dadurch, dass das Buch von hinten nach vorne gelesen wird, war ich sicher, mehr von dem Franco-Regime zu lesen zu bekommen, sobald ich in diese Epoche eindringen würde. Doch nach 324 Seiten, als ich auch die 1970er Jahre hinter mich gebracht habe, hat sich inhaltlich nichts an der politischen Beschreibung verändert, sodass ich nun nicht anders konnte, als das Buch abzubrechen.

Wo waren Franco und sein Regime? Immerhin regierte er von 1939 bis 1977. Der Klappentext hat mehr versprochen, als dass er einhalten konnte. Wie kann man über eine Zeit schreiben, ohne die Politik mit zuberücksichtigen? Franco war nicht irgendein Politiker. Er war ein Diktator Spaniens. Er kann nicht einfach an den Menschen vorbei gelebt haben, die stark unter seinem Regime gelitten haben mussten ... Immerhin war er noch lange an der  Macht, als bei uns der Zweite Weltkrieg längst vorbei war. Politische Andeutungen? Ist mir definitiv zu wenig gewesen. 

Außerdem wurden viele Konflikte der Protagonist*innen nur angerissen und dafür hat sich die Autorin mit vielen Details aus dem Alltag ausgelassen …

Aber das waren nicht die alleinigen Gründe; zudem waren mir die Figuren zu distanziert dargestellt. Ich habe mich des Öfteren gefragt, ob die Figuren eine Psyche haben? Außerdem nimmt man wenig Anteil an ihren Gedanken und an ihren Gefühlen. Sie werden größtenteils von der Autorin beschrieben und gelenkt. (Ich meine das nicht naiv, ich meine das literarisch. Figuren so zu beschreiben, als wären sie eigenständig und dadurch lebendig, ist für mich eine literarische Kunst, wem das gelingt). Mir kommt die Autorin wie die Mutter ihrer Figuren vor, die sie zur besseren Koordinierung an der langen Leine hält und ihnen nicht zutraut, für sich selbst zu sprechen.

Sabine und Tina sind der Meinung, dass die Autorin die Gefühle den Lerser*innen überlässt. Ich glaube eher, dass die Autorin Gefühle nicht so leicht auszudrücken weiß. Um das herauszubekommen, müsste man ein weiteres Buch von der Autorin lesen, um ihren Schreibstil besser unter die Lupe zu nehmen, und um die Bücher miteinander zu vergleichen.

Tinas und Sabines Meinung
Beide finden den Schreibstil gut aber sie konnten auch meinen Abbruch nachvollziehen. Tina meinte, dass auch ihre Buchhändlerin von diesem Familienroman nicht wirklich begeistert gewesen wäre. Auch sie könne den Buchpreis nicht richtig nachvollziehen, denn es hätte in dieser Shortliste auch noch andere gegeben, die ihn verdient hätten. Tina hätte sich auch mehr politische Hintergründe gewünscht, während Sabine für die Politik Spaniens nicht so viel Interesse hat aufbringen können.

Wenn Tina und Sabine mit dem Buch durch sind, werde ich Tinas Buchbesprechung mit meiner verlinken, in der sicher auch Sabines Eindrücke festgehalten werden. Sabine hat keinen Blog.

Ich bin mal gespannt, was ich auf den letzten hundert Seiten verpasst haben könnte. Aber das, was mir fehlt, kann ich später bei Tina nachlesen und mich zusätzlich mit Sabine verbal austauschen.  

Mein Fazit?
Für mich ist dies ein Buch für Literaturwissenschaftler*innen, Literaturkritiker*innen, für Deutschlehrer*innen und für die Vielleser*innen, die für ein Buch dieser Art jede Menge Zeit und Geduld aufbringen können.

Ich habe mir die Bewertung auf Amazon angeschaut. Dieses Buch wurde im Durchschnitt mit nur 2,5 Sternen votiert. Ich vergebe keine Punkte. Ich bin nicht in der Lage, dieses Buch zu bewerten …

Meine abschließende Frage: Wie hat es dieser Roman zu einem Buchpreis geschafft?

Hier geht es zu Tinas Buchbesprechung.

Wie man an Tinas Buchbesprechung sehen kann, hat jede Leser*in unterschiedliche Erwartungen. Meine politischen Erwartungen haben sich definitiv nicht erfüllt. Politische Andeutungen? War mir zu wenig. Zu viele Alltagsbeschreibungen, zu wenig politsche Fakten.

In den Köpfen und in der Psyche der Menschen passiert in einer Diktatur wesentlich mehr, als die Autorin hat deutlich machen können. Der gesamte Lebensalltag wird in einer restriktiven  und repressiven Politik in Beschlag genommen. 

Viele wissen nicht, wie sich eine Diktatur anfühlt ...

Und die Figuren? Waren mir alle viel zu seelenlos ... 

Mahlke hat bei mir ausgespielt. Hätte ich vorher Tinas Buchbesprechung gelesen, dann wäre meine Entscheidung gefallen. Mein Geld hätte ich mir für dieses Buch sparen können. Habe mich echt betrogen gefühlt. Und noch die kosbare FREIZEIT, die ich dafür geopfert habe. Nie wieder. In Zukunft breche ich früher ein Buch ab. Und da ist es mir ganz egal, was andere dazu denken. Dann schwimme ich eben auch gerne mal gegen den Strom. 

In der Regel mag ich ja intellektuelle Literatur. Ich lese ja sonst auch recht anspruchsvolle Bücher.

Adieu, Inger-Maria Mahlke. Das war wohl nix mit uns beiden. Ich verdiene kein Geld für das Lesen, Sie aber für das Schreiben. 
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Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2018: 51
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