Montag, 31. Dezember 2018

Vera Buck / Das Buch der vergessenen Artisten (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Was für ein tolles Buch. Ich habe es fast gefressen, weil es mich von der ersten bis zur letzten Seite so gezogen hat. Ich fand die Thematik total spannend und brisant. Ein Schmöker? Nein, für mich war es ein historischer Roman über Zirkusartist*innen im Nationalsozialismus, über die die Autorin wahnsinnig gut recherchiert hat.

Dadurch, dass das Buch im Bücherforum von Whatchareadin besprochen wird, werde ich mich hier kurzhalten. Hier auf meinem Blog möchte ich wirklich nicht zu viel verraten, auch, weil ich jeder Leser*in denselben Lesegenuss gönnen möchte, den ich auch hatte. Wem aber meine Besprechung zu oberflächlich ist, diese verweise ich auf die Buchdiskussion auf Whatchareadin.

Hier geht es zur Leserunde.

Hier geht es zum Klappentext, Autorinporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Zu Beginn der Geschichte bekommt man es mit der Kindheit von Mathis Bohnsack zu tun, der 1887 in Langweiler zur Welt gekommen ist. Er kommt aus einer Bauernfamilie, in der 13 Jungen geboren wurden, wovon Mathis der Jüngste unter ihnen ist. Er ist nicht nur das jüngste, sondern auch das schwächste Kind. Mathis erkrankte an der Kinderlähmung und lahmt dadurch mit einem Bein. Auf dem Feld ist er nicht zu gebrauchen und hilft stattdessen der Mutter im Haushalt. In dieser Familie geht es durch die vielen Männer recht rau zu … Unter den Geschwistern herrscht auch viel Neid, da die älteren Brüder auf dem Feld hart arbeiten müssen, während Mathis durch seine Behinderung eher geschont wird.

Eines Tages zieht für zwei Tage ein Zirkus in dieses langweilige Kaff ein, das den Namen Langweiler verdient hat. Mathis, mittlerweile 15 Jahre alt, verbringt dort während dieser Frist die meiste Zeit. Das zieht noch mehr Neid bei den Brüdern an, da sie während der gesamten Artistenzeit bis spät abends auf dem Feld arbeiten mussten. Aus Rache verhauen sie Mathis, während der Vater dabei zuschaut und auch er danach auf den Jungen einschlägt. Was für einen schwächlichen Sohn ich habe … Die Mutter, die immer auf Mathis` Seite steht, ist zu schwach, ihren Jungen gegen so vielen Männern im Haus zu verteidigen ...

Mathis erntet nicht nur bei den Brüdern immerzu Prügel, auch von seinen zwei besten Freunden wird er wegen eines Mädchens verhauen.

Mathis lässt die Prügel über sich ergehen. Ein Grund, nun seine Familie zu verlassen? Mathis fühlt sich zu dem Artisten Meister Bo und seiner Durchleuchtungsmaschine  hingezogen, als er darauf ein Skelett eines Menschen gesehen hat. Heute würde man zu dieser Maschine Röntgenapparat sagen.

Tatsächlich verlässt Mathis 1902 nach diesen Prügeln in der Nacht unauffällig das Elternhaus und lässt eine Nachricht für die Mutter zurück.

Meister Bo, dem diese Maschine gehört, nimmt den Jungen bei sich auf, da er einen Assistenten gut gebrauchen kann. Aber es war nicht leicht, ihn von Mathis Künsten zu überzeugen. Außerdem war Mathis noch minderjährig, aber der Junge hörte nicht auf, den Meister von sich zu überzeugen …

Mathis verliebt sich in die Maschine. Er spricht mit ihr, er pflegt sie immer aufs Neue, damit die gute alte Dame immer funktionsträchtig bleibt … Außerdem bestimmt diese Maschine seine Zukunft. Aber das konnte er damals noch nicht wissen ... 

Dass Röntgenstrahlen schädlich sind, das wusste man zu der damaligen Zeit noch nicht. Mathis verliert durch diese Maschine ein paar seiner Finger … Aber er kann es nicht lassen, die Beziehung zu dieser Maschine bleibt ungetrübt, obwohl er mittlerweile weiß, dass die Röntgenstrahlen schädlich sind. 

Meister Bo stirbt an einer gefährlichen Infektionskrankheit und so findet Mathis mit der Durchleuchtungsmaschine seines Meisters bei anderen Artist*innen einen neuen Platz.
Später, nach mehreren Jahren, lernt er eine Frau namens Meta Kirschbacher kennen. Meta sieht wie ein muskulöser Kerl aus. Sie stemmt Gewichte wie ein Mann und nimmt es auch mit den Boxern auf. Auf der Bühne gibt es keinen Mann, der sie besiegen kann und so macht sich Meta dadurch bei den Männern unbeliebt, die sie zu schwerwiegenden Folgen führen … Auch die Presse äußert sich zu Metas Kraftakt recht abfällig ... 

Im Jahr 1935 ist Hitler an der Macht, und so befinden sich die ganzen Artist*innen in Gefahr. Zirkusleute verschwinden einfach so, unauffällig, bis sie vermisst werden. Menschen, die anders sind, will Hitler aus der Gesellschaft schaffen … Kleinwüchsige, siamesische Zwillinge, geistig Behinderte, Homos, Transvestiten, ... damit sie sich nicht vermehren können, um zu verhindern, dass sie eines Tages die Gesellschaft in Überzahl bestimmen. Deshalb müssen sie eliminiert werden ...

Mathis will ein Buch schreiben. Das Buch der vergessenen Artisten, damit diese Artisten, die verschwunden sind, nicht vergessen werden. Er bezieht ganz klar Stellung gegen Hitler und sein Regime ...  

Ob er es zum Buch schafft, möchte ich nicht verraten.

Meta, die mittlerweile mit Mathis zusammen ist, hat einen geistig behinderten jüngeren Bruder. Er heißt Ernsti und ist total unangenehm, da er sich immer zwischen der Beziehung seiner Schwester und Mathis mischt, weil er eifersüchtig ist … aber Meta liebt ihren Bruder abgöttisch und verteidigt und schützt ihn vor jeder unangenehmen Situation. Man fragt sich, weshalb Meta die blinden Flecken ihres Bruders nicht sehen will, obwohl er ein absoluter Zerstörer ist? Ernsti zerreißt Mathis` Manuskript, zerreißt seine Kleider, nimmt alle Gegenstände auseinander, wenn ihm langweilig ist, weil sich seine Schwester angeblich nicht sorgfältig um ihn kümmert. Er fängt Katzen und erschlägt sie …  Er hat Tötungspotenzial und Meta weiß es nicht mal… Auf Ernsti hat es Hitler abgesehenen … Die, die noch nicht eingefangen wurden, begeben sich auf die Flucht, tauchen woanders unter, obwohl sie alle ihre Träume haben. Mathis träumt von seinem Buch, Meta träumt von einem freien Artistenleben in Amerika ... 

Meta und Mathis bekommen es immer wieder mit der Gestapo zu tun …

Cover und Buchtitel
Gefällt mir beides richtig gut. Die Frau auf dem Cover könnte Meta sein, aber sie sieht darauf viel zu weiblich aus. Im Buch hat sie eher ganz massive männliche Züge. Sie ist stark korpulent und muskulös. Denn auch auf diese Menschen setzt Hitler seinen Rotstift, da solche Frauen, die Männern körperlich überlegen sind, sind für Hitler eine Gefahr. Keine Frau der Welt darf den Mann dominieren. Hitler sieht in solchen autonomen Frauen eine potentielle Gefahr, die den Männern die Macht absprechen, weshalb er sie lieber an dem Herd haben möchte.

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Mich hat dieser Ernsti genervt und dass Meta ihm keine Grenzen aufzeigen konnte. Ja, er ist behindert, und hat durch den Tod seiner Eltern im Heim viel Schlimmes erlebt aber deswegen muss ich ihn nicht lieben. Er weiß schon sehr gut, mit welchem raffiniertem Muster er Menschen austricksen und ihnen schaden kann.

Welche Szene hat mir gefallen?
Es hat mir gefallen, dass es in dieser schweren Zeit wie dem Nationalsozialismus viele Menschen gegeben hat, die Zivilcourage bewiesen haben. Überall auf der Welt gibt es gute und weniger gute Menschen. Das Nazideutschland ist davon nicht ausgenommen. Und dies hat die Autorin gut aufzeigen können. Die Charaktere sind hier alle sehr differenziert. Nur in der Biografie von Hitler hat mir etwas gefehlt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass im Stammbaum Hitlers es auch einen Juden gegeben haben soll. Einen jüdischen Großvater über mehrere Ecken. Davon hat die Autorin leider nichts geschrieben, denn das könnte seinen Wahn gegen Juden zusätzlich erklären. Hitlers Vater war schon sehr cholerisch. Welche Verhaltensmuster muss dann erst der Vater des Vaters gehabt haben und sie auf den Sohn übertragen hat? Wobei das nicht heißen muss, dass eine subotimale Kindheit alles entschuldigen kann ... 

Meine Identifikationsfigur
Keine

Zum Schreibkonzept
Auf den 750 Seiten bekommt man es mit zwei Parallelen zu tun. Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, der ins Jahr 1935 führt. In dem Prolog lernt man schon das Paar Mathis und Meta kennen. Auf Meta hat es ein Bildhauer namens Thorak abgesehen, der von ihrem Körper gerne eine Steinstatue herstellen möchte. Sie wird von den Nazis als Mannsweib bezeichnet. Ist diesem Thorak zu trauen, der ein Hitlerliebender ist? Thorak, der sich von seiner jüdischen Frau hat scheiden lassen, um rein zu sein? Meta und Mathis sind kritisch und durchschauen die Politik auch, aber sie wissen nicht, wie sie ihn umgehen können, da sie von dem Bildhauer erpresst werden …

Das anschließende erste Kapitel beginnt in Langweiler in der Zeit von 1902. Das zweite Kapitel spielt in Berlin in der Zeit von 1935. Diese beiden Zeitepochen wechseln einander ab, was ich richtig spannend fand. Das Buch beinhaltet insgesamt 40 Kapitel. Danach endet es mit Die letzte Seite. Mit dem Ausgang auf dieser letzten Seite war ich nicht ganz so erfüllt, darauf werde ich mich im Forum noch stärker beziehen. Anschließend gibt es ein Nachwort und Dankesworte zu lesen. Auf den allerletzten Seiten werden alle Figuren historisch gelistet.

Meine Meinung
Die Autorin scheint über ihren Stoff ziemlich gut recherchiert zu haben. Sabine, meine Lesefreundin, hat sich die Mühe gemacht und hat gegoogelt und so konnte sie in Erfahrung bringen, dass es viele von den Figuren tatsächlich gegeben hat. Wie ich oben geschrieben habe, hat sich die Autorin im Abschlusskapitel selbst auch zu ihrer Entstehungsthematik und zu ihren Figuren geäußert.

Mein Fazit
Mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie sensationsgierig Leute sein können. Ich fand es sehr traurig, dass Menschen, die anders geartet sind, keinen Platz in der Gesellschaft finden, und sie gezwungen sind, ihr Anderssein in einem Zirkus zur Schau zu stellen. Ich kann für mich sagen, wie froh ich bin, noch nie einen Zirkus von innen betreten zu haben. Sonst immer nur wegen der Tiere, nun auch wegen der Menschen. Ja, und wie traurig, dass diese Menschen durch Hitler ihre Daseinsberechtigung abgesprochen bekommen haben.

Ein sehr lesenswerter historischer Roman zum Nationalsozialismus und zu den Zirkusartisten im Überlebungskampf mitten im Naziregime.

Meine Punkteverteilung:
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftliches, gut recherchiertes Buch
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten. Klare Leseempfehlung

Vielen Dank an den Limes-Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 

Vielen Dank auch an Whatchareadin für diese tolle Leseempfehlung und für das Engagement mit dem Verlag. 

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Damals … lachten wir über Hitler.
Ein Verrückter, sagten wir, ein Hanswurst,
ein Idiot; von der Sorte haben wir viele.
(Vicki Baum, zitiert von Vera Buck)

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