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Sonntag, 31. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein Büchelchen, das ich in einer kurzen Sprache erlebt habe. Kurz deshalb, weil die Sätze kurz waren, des Weiteren noch gepackt in vielen Absätzen und die Seiten waren nicht immer ganz gefüllt. Die Geschichte hat auf ihre Art Tiefgang, aber dennoch hat sie sich bei mir innerlich nicht wirklich festsetzen können. Das Buch habe ich seit ein paar Tagen ausgelesen, und es fällt mir schwer, mich an die Details zu erinnern. Ich habe überlegt, woran das gelegen haben könnte. Es lag an der Erzählstruktur. Die Episoden waren mir zu sprunghaft und zu abgehackt. Mir hat eine gewisse Chronologie gefehlt. Auch die Sprache war eine sehr kühle und distanzierte Sprache. Die Figuren waren für mich nicht ausreichend greifbar. Ich konnte keine innere Verbindung zu ihnen herstellen.

Und dennoch habe ich das Buch mit einer hohen Punktzahl votiert, weil ich im Nachklang mithilfe meiner Stichpunkte beim Durchblättern der Seiten nochmals durch viele interessante Kernstücke habe hervordringen können.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Heldin dieses Romans ist Kim, als sie 1978 im Alter von zehn Jahren zusammen mit ihrer wohlhabenden Familie aus Vietnam wegen des Kambodschanischen-vietnamesischen Krieges floh. Die Menschen flüchteten vor dem Kommunismus, der ihnen alles wegnahm, was sie besaßen.

Als die Kommunisten in Saigon einmarschierten, überließ meine Familie ihnen die Hälfte unseres Besitzes, denn wir waren verwundbar geworden. Eine Backsteinwand wurde im Haus errichtet, um zwei Adressen zu schaffen: eine für uns und eine für das Polizeirevier des Viertels. (35)

Die Angst vieler Menschen vor der Flucht über dem Meer war nicht so verbreitet wie die Angst vor den Kommunisten, und so nahmen diese Menschen alle Strapazen auf sich, sich hoffnungsvoll in abenteuerliche Aufbrüche zu begeben, um woanders eine neue Existenz aufzubauen. Das Erlebnis in einem Flüchtlingsschiff:

Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt. (11)

Die Flucht glückte trotz aller Nöte und Missstände bis nach Kanada ... In Quebec angekommen, wurde Kim in ihrem zweiten Aufenthaltsjahr auf eine Kadettenschule geschickt. Hier sollte sie auf Wunsch der Mutter zügig Französisch und Englisch lernen, damit sie schnellstmöglich in ihr neues Umfeld integriert werden könne, um am späteren gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt partizipieren zu können. Ihre Muttersprache musste sie aufgeben und stattdessen Englisch und Französisch lernen. Doch Kim verstummte zeitweise durch die Flucht.

Meine Mutter wollte, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. (25)

Kim schafft es aber, in ihrer neuen Heimat erwachsen zu werden. Sie selbst kreierte eine eigene Familie. Sie hat zwei Söhne, Pascal und Henri, während einer davon Autist ist. Sie möchte ihren Kindern ein Stück Geschichte ihres Herkunftslandes vermitteln …

… um ein Stück Geschichte in Erinnerung zu bewahren, das nie Eingang in die Schulbücher finden wird. (45)

Diese flüchtenden Menschen träumen alle einen amerikanischen Traum mit westlichen Werten und Lebensstandards ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eine Szene in Quebec.

Madame Girard hatte meine Mutter als Haushälterin eingestellt, ohne zu wissen, dass sie bis zu ihrem ersten Arbeitstag nie einen Besen in der Hand gehabt hat. (84)

Das ist für mich eine Degradierung ihrer beruflichen und sozialen Herkunft.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass der Familie die Flucht geglückt ist und sie in Kanada eine neue Heimat hat finden können, wenn sie auch auf das Anderssein aufmerksam gemacht wurde und man sie daran erinnerte, dass sie als ehemalige Asiat*innen nicht wirklich zur kanadischen Gesellschaft dazugehören würde. 

Zur gleichen Zeit hatte mein Chef einen Artikel aus einer Montrealen Zeitung ausgeschnitten, in dem darauf gepocht wurde, dass das >Volk Quebecks< weiß sei und ich mit meinen Schlitzaugen automatisch einer anderen Kategorie angehörte, obwohl Quebec mir meinen amerikanischen Traum geschenkt und mich dreißig Jahren lang beherbergt hatte. (92)

Meine Gedanken dazu
Diese Probleme hat nur die Spezies Mensch, die Menschen anderer Nationen bewusst / unbewusst als Fremde, als Exoten aussortiert. Tiere und Pflanzen kennen das nicht und können sich problemlos in neue Gegenden beheimaten. Ich denke hierbei an Stefano Mancusos Buch, wie Pflanzen, die eigentlich im Gegensatz zu uns Menschen als sesshaft zählen, es dennoch schaffen mithilfe anderer Lebewesen über ganze Ozeane zu migrieren und sich auf neue Kontinente zu verpflanzen; Gewächsarten, die wir heute als unsere heimischen Pflanzen betrachten. Bei vielen dieser sog. heimischen Pflanzen ahnt man nicht mal, dass sie ihren eigentlichen Ursprung einst auf einem anderen Kontinent hatten. Warum gelingt es aber Menschen nicht, Menschen mit anderer Hautfarbe … als einen Artgenossen zu betrachten? Auch bei uns in Deutschland gibt es exotische Pflanzen, die mittlerweile heimisch sind. Zum Beispiel die deutsche Kartoffel. Warum wird die deutsche Kartoffel nicht auf ihre Wurzeln runtergestuft, während ein*e Migrant*in keine Chance hat, sich jemals als Deutsche*r bezeichnen zu dürfen? Mal ganz blöd gefragt: Sind uns die Kartoffeln ähnlicher als ein Mensch eines anderen Landes?  Fragen, an denen ich jedes Mal verzweifeln könnte, wenn Menschen anderer Länder immerzu auf die Wurzeln ihrer Vorfahren reduziert werden. 

Eine andere Sichtweise hierbei zu gewinnen wäre wohl einer menschlichen Entwicklung geschuldet, die bei jedem Zeit und noch mehr Zeit benötigt. Sie beginnt sich erst bei einem Einzelnen zu formen und mit der Zeit werden es immer mehr werden, bis ein Kollektiv, somit eine ganze Gesellschaft, von diesem Ideal getragen wird, mit dem Wissen, dass wir in einer Vielfalt alles Menschen einer einzigen Menschenrasse sind.

Doch glücklicherweise stehe ich nicht mehr alleine mit meiner Meinung da. Der Rassenbegriff soll lt. dem Darmstädter Echo vom Dez. 2020 aus dem Grundgesetz gestrichen werden. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Anh Phi und Tante Sechs. Tante Sechs verhalf Kim dazu, ihren eigenen Traum zu träumen. (Tante Sechs ist das sechste Kind in ihrer Familie, für Kim dadurch die sechste Tante).

Als ich fünfzehn wurde, schenkte mir meine Tante Sechs, die damals in einer Hühnerverwertungsfabrik arbeitete, eine viereckige Aluminium-Teedose mit Bildern von chinesischen Feen, Kirschbäumen und roten, goldenen schwarzen Wolken. Im Tee versteckt waren zehn gefaltete Zettel, auf die Tante Sechs je ein Metier, ein Beruf, einen Traum für mich aufgeschrieben hatte: Journalistin, Kunsttischlerin, Diplomatin, (...). Dies Geschenk lehrte mich, dass es andere Berufe gab als Arzt und dass ich meinen eigenen Traum träumen durfte. (89)

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Ich habe eher eine distanzierte Haltung zu den Figuren entwickelt, dies wohl auch an dem Schreibstil der Autorin liegt.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Hat mich beides sehr angesprochen. Der Titel konnte für mich schlüssig werden. Nicht nur, wie sich die Fremde anfühlt, sondern auch welchen Klang eine Flucht haben könnte, fand ich auch spannend.

Zum Schreibkonzept
Der Roman ist auf 159 Seiten gepackt. Zu Beginn gibt es eine kleine Widmung Für die Menschen im Land. Es gibt keine Kapitel, und auch keine richtige Chronologie, wie ich oben schon geschrieben habe. Dennoch werden neue Kapitel mit den ersten Worten mit Großbuchstaben eingeleitet. Teilweise sind die Kapitel sehr kurz und füllen mit einem Absatz nicht mal die Hälfte der Seite.

Der Schreibstil ist eher in Tagebuchform und / oder im Telegrammstil verfasst. Die Sprache wirkt recht distanziert und ist in der Ichperspektive der erwachsenen Kim erzählt.

Insgesamt passt ihr Schreibstil eher in eine Dichtersprache, da sie manchmal wie wunderschöne und nachdenkenswerte Poesie klingt.

UND WO EINE ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag. (159)

Meine Meinung
Viele Episoden stimmten mich nachdenklich. Dass Menschen durch den Anpassungsdruck und den Druck der Assimilation gezwungen werden, im neuen Land ihre Muttersprache aufzugeben, weil sie nicht mehr gebraucht wird und damit nutzlos geworden ist, ist für mich schwer zu verstehen. Für was? Diese Menschen werden in der neuen Heimat nie wirklich dazugehören, selbst wenn sie sich assimiliert haben. Einige kritische Beispiele sind in dem Buch zu finden.

Doch welchen Lebensstil hätte Kim geführt, wäre sie in Vietnam geblieben? Welche Perspektiven hätte sie gehabt? Traditionen eines Landes übernehmen zu müssen, und die Pflicht, die Fortsetzung ihrer Mutter zu sein? Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie groß dieser Amerikanische Traum nur sein kann ... 

Und für immer der Schatten ihre Cousine Sao Mai zu sein?

WÄHREND MEINER GANZEN KINDHEIT wünschte ich mir insgeheim, die Tochter von Onkel Zwei zu sein. Seine Tochter Sao Mai war seine Prinzessin, auch wenn er manchmal tagelang vergaß, dass es sie gab. Sao Mai wurde von ihren Eltern verehrt wie eine Primadonna. Onkel Zwei gab viele Feste bei sich zu Hause. (...). Er schenkte ihr nur gelegentlich zwei Minuten Aufmerksamkeit, doch das war genug, um meine Cousine mit einer inneren Kraft zu versehen, die ich nicht hatte. Ganz gleich, ob ihr Magen leer oder voll war, Sao Mai hatte nie Probleme, ihre großen Brüder und mich herumzukommandieren. (57)

Das Für und Wider spiegelt uns die Autorin immer wieder, aber der Gewinn einer Migration wiegt stärker hervor. Kims Kinder tragen keine Namen ihrer Vorfahren, sondern westliche Namen und zeigt damit eine Abnabelung von ihren Ahnen und damit die Entwicklung einer neuen Identität, die die Autorin durch die Flucht ins neue Land hat in sich entstehen lassen.  

Mein Fazit
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, das Einblicke gibt in Familien, die vor dem Krieg in andere Welten fliehen müssen, und sich woanders eine neue Existenz aufbauen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch eine Lesepartnerin P. G. auf Facebook. In einer Zoomrunde wird das Buch am kommenden Dienstagabend gemeinsam besprochen.

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
1 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

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Zoomrunde, Di. 03.02.2021; 19:00 Uhr bis 21:30 Uhr

Teilnehmerinnen: Hana, Petra, Christa und ich. 

Petra und Hana sind mir durch das Facebook-Bücherforum Lesedrachen bekannt. Ich gebe nur ein paar wenige Fakten wieder, nicht die gesamte Zoom-Runde.

Ich fand die ganze Diskussion sehr inspirierend und wir waren uns alle einig, dass die Sprache wunderschön ist und das Buch trotz schlanker Linie recht gehaltvoll und tiefgründig ist. 

Auch darüber, dass man das Buch nicht in einem Rutsch weglesen könne, sondern die vielen kurzen Geschichten in sich wirken lassen müsse. 

Interessant war auch, dass jeder andere Aspekte aus dem Buch gezogen hat. Es gab viele übereinstimmende Szenen, aber es gab auch Szenen, die jeder unterschiedlich wahrgenommen habe, nach dem Motto: Vier Augenpaare sehen mehr als ein Augenpaar. 

Meine anderen drei Mitdiskutantinnen fanden die vielen ernsten Themen wie Flucht, Krieg und Migration sehr leise erzählt. Das heißt, dass viele Vietnamesinnen einfach ihr Schicksal in die Hand nehmen, ohne zu klagen und in der Lage seien, das Beste daraus zu machen.

Bei Hana fand ich faszinierend, dass sie sogar bei der Zubereitung einer Mahlzeit regelrecht die Suppe hat riechen können.

Migration und das Ankommen: Eine prozessuale Entwicklung, die bis in die nächste Generationen andauern könne. Wobei Kim Kanada als ihre Wahlheimat bezeichnet habe. Dennoch sei es möglich, mehrere Heimaten zu pflegen. Der Begriff Heimat / Heimaten in der Pluralform gibt es noch nicht sehr lange. Wo wir uns nicht alle einig waren: Für mich und Petra schien es, als sei Kim in Kanada angekommen. Sie habe es geschafft, sich eine neue Identität und eine neue Heimat aufzubauen. Ihre beiden Kinder tragen westliche Namen ... Hana war davon nicht ganz überzeugt. 

Auch waren wir uns einig, dass man das Buch nicht mit einem westlichen Blick lesen dürfe. Dazu hat Hana einen schönen Gedanken formuliert: Eine Frau auf dem Reisfeld könne genauso glücklich sein wie eine westliche Frau in einem anderen Beruf, der bei uns angesehen sei. Denn die Frage kam uns auf, was ist mit den Menschen, die im Land geblieben und nicht geflüchtet seien? Wir hatten das Beispiel von Kims Cousine Sao Mai, die in Vietnam geblieben ist und glücklich auf uns wirkte trotz der Einfachheit an Leben. Wir waren uns einig, dass auch diese Menschen das Beste aus ihrem Leben machen würden, um auf ihre Weise glücklich zu leben, denn Glück sei nicht an westlichen Maßstäben zu messen. 

Ich war die einzige, die eine Struktur vermisst hat. Dadurch haben mir Details aus der Familie einfach gefehlt. 

Ich war auch die einzige, die die Sprache als zu kühl und distanziert beschrieben hatte.

Insgesamt erhielt das Buch von uns allen eine recht gute Bewertung ... 

Petra hat auch eine Rezension verfasst, siehe hier

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese in meinem langsamen Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.

 

Sonntag, 2. Dezember 2018

Paolo Cognetti / Acht Berge (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch über die Natur, über eine besondere Freundschaft zweier Jungen, über eine interessante Vater-Sohn-Beziehung und über die politische Lage Italiens.

Gefreut habe ich mich zudem, dass ich tatsächlich eine Antwort zu Ferrantes Buch habe finden können, wo ich erst dachte, dass dies nur auf dem Umschlag steht, um die Leser*innen anzulocken. 

Daher möchte ich am Ende der Besprechung etwas über dieses Buch diskutieren, über die Antwort auf Ferrantes Werk, weshalb ich gezwungen sein werde, ein paar Details mehr anzubringen, bin aber trotzdem bemüht, nicht alles zu verraten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung wird aus der Ich-Perspektive des Jungen namens Pietro Guasti erzählt. Seine Eltern, die aus dem ländlichen Veneto kommen, sind mit Anfang dreißig in die Großstadt Mailand gezogen. Veneto scheint wie ausgestorben zu sein, als hätten die Bewohner Landflucht betrieben, da die Gegend für Arbeitsplätze nicht mehr lukrativ genug war und die schlechte Infrastruktur die Wirtschaft noch weiter belastet hat. Erst viele Jahre später zog das Bergdorf durch attraktive Umbaumaßnahmen jede Menge Touristen an. Es gab kaum noch Einheimische.

Pietros Vater ist eine Kriegswaise und von Beruf studierter Chemiker. Die Mutter ist gelernte Krankenschwester, in Mailand allerdings ist sie in einem sozialen Brennpunkt als Familienhelferin tätig.

Pietro, Einzelkind, wurde Anfang der 1970er Jahre in Mailand geboren.

Pietros Eltern fühlten sich in dem stickigen Mailand nicht wirklich wohl und vermissten ihre Berge in den Dolomiten. Daher verbrachte die Kleinfamilie die Ferien mehrmals im Jahr in dem kleinen Bergdorf Grana.

Pietros Vater war Einzelgänger. Er fühlte sich wohl in der Natur, war immer froh, wenn er aus der staubigen Großstadt flüchten konnte. Zusammen mit seinem Sohn ging er in die Berge wandern und klettern.

Das Bergdorf Grana wirkte wie eine Geisterstadt, verlassen und einsam, viele heruntergekommene Häuser,  nur noch wenige Menschen sind geblieben.

Pietro lernte in Grana einen gleichaltrigen Jungen kennen, Bruno Guglielmina, der auf der Weide Kühe hütete. Es war schwierig, sich Bruno zu nähern. Bruno war wie Pietros Vater Einzelgänger und schien keine Freunde zu haben. Bruno hatte mit der Schule abgebrochen ... nun ist es Pietros Mutter, die es schafft, dass die beiden Jungen freundschaftlich zueinanderfinden. Allmählich fasst Bruno Vertrauen zu Pietro und dessen Familie …

Durch Pietros Mutter Einfluss gelingt es ihr, dass Bruno wieder zurück in die Schule geht und wenigstens einen Hauptschulabschluss erwirbt … Später setzte sich die Mutter noch dafür ein, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er dort mit den höheren Schulen fortsetzen konnte… Das stieß nicht nur bei Pietro auf Widerstand, denn welches Recht hatten seine Eltern, Bruno von seinem Zuhause wegzuholen, wenn er doch glücklich war mit seinem Leben als Kuhhirten …

Je älter Pietro wurde, desto kritischer ging er mit der Lebensweise seines Vaters um. Ständig hinterfragte er den Charakter und das Verhalten seines Vaters. Nach der Schule verließ Pietro das Elternhaus, denn er ertrug seinen Vater nicht mehr, der aus seiner Sicht nur auf seine Bedürfnisse bedacht war und völlig unprofessionell wirkte, wenn es sich z. B. um das Bergsteigen drehte. Jahre später erfuhr Pietro, dass sein Vater Bruno mit in die Berge genommen hatte ...

Pietro geht seinen eigenen Weg, bricht mit der Uni ab, um sich auf eine längere Asienreise zu begeben, um die Himalaja zu besichtigen. Zehn Jahre lang hatte er keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Als sein Vater schließlich früh an Herzversagen stirbt, reist Pietro wieder in die Heimat zurück. Durch seine Mutter erfährt er, dass der Vater immer um seinen Sohn besorgt war, und der Stress auf der Arbeit zermürbte ihn letztendlich. Um den Tod des Vaters besser verarbeiten zu können, begibt sich Pietro in den Bergen in seine Fussstapfen ... 

Nach zehn Jahren entsteht ein neuer Kontakt zu Bruno, der inzwischen eine Maurerlehre absolviert hatte, und dennoch die Absicht verfolgt, sich beruflich zu verändern, um einen ganz anderen Bereich zu betreten, der ihm trotzdem vertraut war.

Die beiden Jungen, die zu Männern herangereift waren, kommen sich nach so vielen Jahren über den verstorbenen Freund und Vater wieder näher und setzen ihre außergewöhnliche Freundschaft fort.

Pietro tritt ein Erbe seines Vaters an. In den Bergen hatte er ein Grundstück mit einer alten Ruine geerbt, auf dem für ihn ein Haus hätte entstehen sollen. Das hat der Vater aber nicht mehr geschafft, und nun fühlt sich Bruno verantwortlich, dieses Haus für Pietro zu bauen. Pietro schließt sich Bruno an, packt am Hausbau mit an und so kommen sich die beiden Freunde durch dieses gemeisame Handwerk näher.

Ein intensiver Austausch über den verstorbenen Vater findet statt. Durch Brunos Schilderungen bekam Pietro ein ganz anderes Bild von seinem Vater. Während Pietro seinen Vater abgewertet hatte, wertete Bruno ihn wieder auf. Negative Charaktereigenschaften kamen von Pietro, die positiven von Bruno. Bruno schien Pietros Vater besser zu kennen als der eigene Sohn, vielleicht, weil sie beide seelisch verwandt waren; aber auch, weil sie in ihrer Biografie Gemeinsamkeiten aufzuweisen hatten …

Bruno setzte seine beruflichen Pläne um, und machte sich zusammen mit seiner Partnerin, die er durch Pietro kennengelernt hatte, in der Landwirtschaft selbstständig. Leider scheiterten seine Pläne, obwohl er und seine Partnerin Lara über Jahre Tag und Nacht geschuftet haben. Lara verlässt ihn mit der gemeinsamen Tochter, weil sie ihn für dieses entsetzliche Desaster verantwortlich macht. Bruno war gezwungen, Insolvenz anzumelden … Bruno war nicht bereit, rechtzeitig alle Zelte abzubrechen, um woanders einen Neustart zu wagen. Bruno hat diesen beruflichen Verlust und den Verlust seiner kleinen Familie nur sehr schwer verkraftet und zog sich als Konsequenz noch weiter von der Außenwelt zurück. Auch mit Pietro war er nicht bereit, über seinen inneren Schmerz zu sprechen, und zog wie ein Eremit ein Leben in den Bergen vor. 

Zum Schreibkonzept
Zwei schöne Zitate sind auf den ersten beiden Seiten namhafter Autoren zu lesen. Auf den folgenden Seiten findet eine kleine Einleitung zu der Familiengeschichte Guasti statt. Der Roman ist auf 245 Seiten in drei Teilen und zwölf Kapiteln gegliedert.
Es ist ein ruhiger und dadurch auch ein sehr angenehmer Schreibstil.

Cover und Buchtitel  
Ich wollte gerne das italienische Cover oben mitabbilden, war aber nicht nötig, da der deutsche Verlag das italienische Cover übernommen hat.
Der Buchtitel: Zu Beginn des Romans dachte ich erst, dass diese acht Berge die Berge der Dolomiten darstellen würden. Ich habe mich aber geirrt. Sie führen in eine völlig andere Richtung, raus aus Veneto, raus aus Italien, raus aus Europa.

Meine Identifikationsfigur
Bruno war meine Identitfikationsfigur.

Was ist die Antwort auf Ferrantes Werk?
Die Antwort ist für mich eine politische. Als Pietro nach zehn Jahren wieder nach Italien zurückgekehrt war, war er verwundert, wie sehr seine Heimat heruntergewirtschaftet wurde. Er hat sein Land fast nicht wiedererkannt. Selbst sein studierter Vater bangte zu Lebezeiten um seine Anstellung als Chemiker in einer Fabrik, die über zehntausend Arbeiter beschäftigt hat, und auch sie alle besorgt um ihren Arbeitsplatz waren. Politische Unruhen und viele Arbeiterstreiks dominierten das Land. Nun war nicht nur der Süden Italiens von der krankhaften Wirtschaftskrise befallen, auch im Norden schlug sie wie ein Krebsgeschwür um sich ... 

Und im Fall Bruno? Ja, Bruno hat es schulisch nicht weit gebracht, und wenn Pietros Mutter nicht gewesen wäre, hätte er nicht einmal einen Schulabschluss geschafft. Solche schulischen Lebensläufe findet man auch bei uns in Deutschland, aber sie sind sowohl hier als auch dort nicht die Regel. Schulschwänzer findet man überall auf der Welt.
Biografisch gesehen besaß Bruno zwar einen Vater, aber dieser Vater war kaum für seinen Sohn da. Der Vater verließ eines Tages Sohn und Frau, weil die Frau ihn nicht mehr etrug. Brunos Mutter war eine wortkarge Person, die sich tatkräftig um ihre Wirtschaft gekümmert hat. Über Probleme wurde in dieser Familie nicht gesprochen, man ertrug sie größtenteils jeder für sich stillschweigend ... Pietros Vater war für Bruno ein Vatersubstitut. Der Junge hat in diesem Mann alles gefunden, was er an seinem Vater vermisst hatte. Deshalb betrachte ich Bruno symbolisch als eine Halbwaise. Sicher hatte Bruno seinen Freund Pietro um seinen Vater bewundert, auch, dass er in der Welt herumkam. Das hätte Bruno auch haben können, zusammen mit Pietro, aber er traute sich das nicht zu. Es fehlte ihm an Selbstbewusstsein, und so hielt er an alt Vertrautem fest ... Und gescheitert ist Bruno am Ende trotzdem. Wer es besser wusste, suchte mutig woanders einen Weg, um die Existenz zu bestreiten, wie es Pietros Familie und viele andere Menschen getan haben.

Zur aktuellen politischen Lage
Die italienische Regierung schafft es durch tiefverwurzelte Mafiöse Strukturen nicht, aus der Korruption rauszukommen. Lange, lange Zeit waren auch in Italien die Südländer*innen die Bösen, nun muss auch der Norden zusehen, wo er bleibt. Die Regierung spaltet Nord und Süd. Der Norden Italiens muss höhere Steuern bezahlen, um den Süden zu unterstützen. Das Geld kommt aber nicht an, wo es eigentlich hin soll ...  Außerdem verlassen viele Akademiker*innen derzeit das Land, denn selbst mit einem abgeschlossenen Studium ist es schwer für einen jungen Menschen, in Italien Fuß zu fassen ... 

Die Mieten sind überteuert, und die Gehälter reichen nicht aus, sich ein eigenes Leben aufzubauen, und so bleiben viele junge Leute erstmal bei den Eltern wohnen, bis sie heiraten oder andere Lösungen, die ins Ausland führen, gefunden haben. Hier in Deutschland heißt es, die erwachsenen Kinder würden im Hotel Mama wohnen bleiben; ein Vorurteil, das nicht mehr aus den Köpfen zu bekommen ist. Ohne den Familienverband ist ein Leben in Italien nach wie vor sehr schwer aufrechtzuerhalten. Das Vertrauen zu den Politkern ist schon längst ausgespielt. Aber sie wählen diese Politiker, weil es keine anderen gibt. Viele verweigern die Wahl, gehen nicht mal mehr an die Wahlurne.

Bruno und seine Partnerin haben gerackert und geschuftet und sind trotzdem auf keinen grünen Zweig gekommen.

Derzeit haben die Italiener*innen rechts gewählt, mit der Hoffnung, dass die neue Regierung Arbeitsplätze schafft. Aber tief in ihnen drin, wissen sie, dass sich nichts an dieser maroden Regierung ändern wird, auch wenn die Gesichter im Parlament durch Versagen der Regierung ständig zu wechseln scheinen.

Elena Ferrante hat die Politik in ihrem Buch völlig ausgeblendet. Ich habe nur den ersten Band gelesen, den ich dermaßen einseitig und üerfrachtet mit destruktiven Bildern und Szenen erlebt habe, dass ich die Folgebände boykottieren musste. Ich habe mich gewundert, dass viele studierte Leser*innen hierzulande dieses Werk so hochgelobt haben. Mir fehlt dafür jegliches Verständnis. Ein Buch voller Klischees, voller Vorurteile; weshalb finden es die Leser*innen in Deutschland gut? Würde man über Deutschland ein dermaßen einseitiges destruktives Bild abwerfen, da würde jeder Deutsche protestieren. Warum also so unkritisch Ferrante lesen? Ich kenne in Italien so viele Italiener*innen, die ehrlich und hart ihren Unterhalt bestreiten müssen und sie trotz der Armut ihre Kinder dennoch auf die höhere Schule schicken. Es sind viele freundliche und kinderliebende Menschen, die es nicht verdient haben, in der Literatur so abgedroschen zu werden. Keiner würde das eigene Kind aus dem Fenster werfen, wie Ferrante versucht, es uns glaubhaft zu machen. Böse Menschen gibt es überall auf der Welt, aber überall auf der Welt gibt es auch gute. Die Guten musste ich bei Ferrante mit der Lupe suchen und konnte auch mit der Lupe nicht wirklich fündig werden.

Und wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, Cognettis und Ferrantes Werk, so hat Cognetti schlechter in der Punktevergabe abgeschnitten als Ferrante. Das gibt mir zu denken ... 

Mein Fazit
Ich selbst fand das Buch richtig toll und freue mich dadurch, Paolo Cognetti kennengelernt zu haben; ein italienscher Autor, der sich wunderbar für mein Italien-Leseprojekt eignet. Ein Buch ohne Klischees und völlig frei von Stereotypen. Ich bin dankbar, dass Cognetti dieses Buch geschrieben hat.

Ich freue mich sehr, dass das Bloggerportal mir Cognettis Debüt Sofia zum Rezensieren hat zukommen lassen.

Externe Rezension zum Buch
Meine Freundin Sabine St. hat auf Buchrevier eine interessante Rezension von Tobias Nazemi gefunden, die ich unbedingt mit meinem Blog verlinken möchte. Auf der Seite ist auch ein interessantes Interview mit Cognettis Acht Berge. Der Rezensent nimmt auch Stellung zu Ferrantes Werk.


Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten

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Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen,
um vorwärts zu kommen.
(Paolo Cognetti)

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