Freitag, 21. Juni 2013

Sarah Quigley / Der Dirigent (1)

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Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre


Das Buch, wie ich im Anhang erfahren habe, ist eine Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit.

Es behandelt das Leben dreier bedeutender russischer Berufsmusiker während des zweiten Weltkriegs. Dmitri Schostakowitsch; Komponist, Karl Eliasberg; Dirigent in einem Rundfunkorchester, das als zweitklassig zählt und den Geiger Nikolai, wobei mir Nikolai unbekannt ist, wird selten mit Familiennamen erwähnt, den ich mir dadurch nicht gemerkt habe.

Nikolai gehört wohl zu den fiktiven Figuren. Nach meiner Recherche im Internet konnte ich keinen russischen Geiger finden, der zu seiner Identität passen würde. Im Anhang wird überwiegend zu Dmitri Schostakowitschs Leben Bezug genommen.

Und dennoch hat mich das Leben von Nikolai stark ergriffen. Nikolai ist alleinerziehender Vater einer kleinen Virtuosin namens Claudia, neun Jahre alt und Cello spielt. Claudias Mutter, Cellistin, starb, als Claudia noch ein Säugling war. Nikolai hatte nicht neu geheiratet. Selbst Schostakowitsch ist von Claudias Musiktalent sehr angetan und ist sich nicht zu fein, ihrer Geburtstagseinladung zu folgen und sie, als sie ihren Gästen Duette auf dem Cello spielt, auf dem Klavier zu begleiten. Claudia spielt auf dem Cello, das einst ihrer Mutter gehört hatte und sie es vom Vater geschenkt bekommen hat. Über das Cello redet Claudia oft mit ihrer Mutter und schreibt ihr Briefe... . Sie liebt ihr Instrument mehr als ihre Spielsachen. In dem Vater-Tochter-Haushalt lebt die Tante Tanja, Nikolais Schwägerin, die den beiden im Haushalt behilflich ist, seit Sonjas Mutter verstorben ist.

Der Krieg wütet, Hitler will zwar nicht Russland erobern, aber die Menschen so sehr um ihre Ressourcen bringen, bis sie einen langsamen Tod sterben. Die russische Regierung möchte Kinder und alte Leute aus Leningrad evakuieren. Sonja weigert sich, ohne ihren Vater die Stadt zu verlassen. Auch das Instrument darf nicht mit. Unvorstellbar für Sonja, doch ihr Vater, dem fast das Herz bricht, setzt sich durch. Allerdings musste er Sonja das Versprechen abnehmen, gut auf ihr Cello aufzupassen. Als er Sonja an den Bahnhof begleitet und sie in den Zug setzt, verlässt er zügig die Bahnstation. Sonja sollte zu Verwandten gebracht werden, doch sie ist dort nie angekommen. Nicolai durchlebt dadurch eine schwere Lebenskrise. Niemand weiß, was mit dem Zug passiert ist und hegt dadurch große Schuldgefühle, seine Tochter gegen ihren Willen weggeschickt zu haben und würde alles drum geben, den Schritt ungeschehen zu machen. Als eine gewisse Zeit vergangen ist, und die Nöte in Leningrad durch die Lebensmittelknappheit immer größer zu werden drohen, versucht die Schwägerin Claudias Cello aus dem Haus zu hieven, um es auf dem Schwarzmarkt mit Lebensmitteln einzutauschen. Es kommt zu einem heftigen Disput zwischen ihr und Nikolai. Die Schwägerin meint sicher zu wissen, dass Claudia tot sei und nicht wieder kommen werde und wirft dem Schwager dies brühwarm ins Gesicht.

Ich selbst hatte den Gedanken, dass der Zug von den Nazis angehalten wurde und die Insassen ins KZ abtransportiert wurden... . Aber ich rechnete auch damit, dass Claudias Ausgang zum Ende hin offen bleiben würde. Im Krieg gibt es viele Vermisste, die nie wieder aufgetaucht sind. Diese Ungewissheit hätte Nicolai ins Grab gebracht... .

Interessant fand ich aber auch Karl Eliasbergs Künstlerleben, der ja eigentlich die Hauptfigur der Geschichte ist. Er leidet psychisch darunter, dass aus ihm nicht mehr als nur ein Dirigent geworden ist. Ständig vergleicht er sich neidvoll mit Schostakowitsch. Schostakowitsch selbst hat eine minderwertige Meinung zum Dirigentenberuf. Sein kleiner Sohn Maxim zeigt schon die Neigung zum Dirigieren. Eines Tages verspätet sich Schostakowitsch nach Hause zu kommen und ärgert sich, als er seinem Freund Sollertinski den Grund seines Ärgers kund tut:
"Verdammt. Ich komme nicht mehr rechtzeitig nach Hause, um Maxim vom Dirigieren abzuhalten."
"Was?", rief  Sollertinski aus." Dein Sohn hat angefangen zu dirigieren?"
"Mit allem, was er in die Hände bekommt, Bleistiften, Stricknadeln - es muss verhindert werden. Ich dulde keinen Dirigenten in der Familie." (75)
Auch wenn Schostakowitsch gegenüber Elias nicht offen zugibt, dass er den Dirigentenberuf nicht ausreichend wertschätzt, weiß Elias von dessen Missgunst und erniedrigt sich selbst, indem er sich mit dem großen Meister vergleicht. Elias macht Schostakowitsch zu einem Musikgott. Sein Selbstbewusstsein als Dirigent ist dermaßen gesunken, dass er jedes Mal, wenn er mit Schostakowitsch ins Gespräch kommt, zu Stottern beginnt.

Elias ist sehr ehrgeizig und verbringt jede freie Minute mit seiner Musik. Er geht auch nicht nur mit sich hart ins Gericht, sondern auch mit den Musiker/innen seines Orchesters. Selbst in der größten Menschennot zeigt er keinerlei Verständnis für menschliche Schwächen. Der Hunger ergreift auch die Künstlerseelen, die dadurch immer mehr Kräfte verlieren, hungrig und kraftlos in den Proben erscheinen. Elias duldet auch hier keinerlei Entschuldigungen und erwartet Perfektion.
Wir sind seit zehn Jahren die zweite Garnitur. Wollen Sie das wirklich bleiben - für den Rest ihres erbärmlichen Lebens eine zweitklassige unbekannte Flachpfeife? (173)
Erst durch eine Bekannte namens Nina, Tänzerin von Beruf, die Schostakowitschs Künstlernatur relativiert, erfährt Elias durch sie eine Wertschätzung seines Berufstandes als Dirigenten:
"Schostakowitsch", sagte Nina,"ist auch nur ein Mensch, der die Arbeit tut, für die er geboren wurde, sowie du deine tust. Daran musst du glauben."
Diese Einstellung hat mir so gut gefallen und trifft den Nagel auf den Kopf.

Die Musiker/innen kämpfen mit ihrer Kunst. Sie hofften, den Krieg mit Musik besiegen zu können, auch wenn sie bekennen müssen, dass mit Opern noch kein Krieg gewonnen wurde. Die Musiker/innen sollten nach Sibirien evakuiert werden.

Wie sehr die Hungersnot immer mehr zunahm, an der auch viele Musiker/innen starben, macht folgendes Zitat deutlich:
Als die schmutzige Schneedecke langsam weggezogen wurde, kamen zerstückelte Leichen darunter zum Vorschein. Abgetrennte Beine, aus denen große Stücke Fleisch herausgeschnitten worden waren, Frauenkörper mit säuberlich abgetrennten Brüsten. Die Überreste von Rümpfen, Rücken und Bauch, filetiert wie die Flanken eines Rinds. Fleisch, von den Toten gestohlen, um die Lebenden zu ernähren: so entsetzlich weit waren manche Leningrader gegangen, um am Leben zu bleiben. (319) 
Und nun als letztes noch ein paar Zeilen zum Komponisten Dmitiri Schostakowitsch. Erstaunlich fand ich zu lesen, dass er es nicht duldete, wenn Instrumentalist/innen Gefühle spüren in der Musik, die sie spielen. Die Musiker/innen seien einzig und allein dazu da, Gefühle in den Zuhörer/innen zu wecken. Auch Körperbewegung mit dem Instrument war nicht nur bei Schostakowitsch, sondern auch bei Elias verpönt. Eine körperbetonte Flötistin aus Elias Orchester bezeichnete er als Schneebesen. (190)

Diese Einstellung ist mir fremd. Glücklicherweise findet man sie heute nicht mehr. Fast jede/r Musikleher/in animiert ihre Schüler/in, die Musik über den Körper noch weiter zu betonen.

Schostakowitschs Einstellung und Verhalten zum Krieg? Schostakowitsch wollte sich nicht unterkriegen lassen und verweigerte vorerst die Evakuierung nach Sibirien.
Dadurch, dass Schostakowitsch die Evakuierung verweigerte, gefährdete er auch das Leben seiner vierköpfigen Familie. Ähnlich wie Elias tat er sich schwer, von seiner Arbeit loszulassen und arbeitete oft bis zur Erschöpfung. Selbst als Fliegeralarm gemeldet wurden, klammerte er sich an das Klavier, während die restliche Familie in den Luftschutzkeller flüchtete:
Als das Gebäude um ihn herum rumpelte und sich ein großer Riss in der Wand auftat, warf er sich unter den Flügel. Aber er spürte keine Angst - nur Erleichterung. Der eine flüchtige Blick hatte gereicht."Alles ist gelöst." Er hielt sich an den zitternden Beinen des Flügels fest."Irgendwann kommt alles zu einem Ende."  Seine Ohren waren noch von der Watte verschlossen; was er sagte, klang selbst in seinem Kopf gedämpft. Er zog die Pfropfen heraus - RUMS! Ein ohrenbetäubender Knall...  hatte eine Bombe der Luftwaffe ihn erwischt? Aber es war nur der Deckel des Flügels, der mit voller Wucht heruntergekracht war und jetzt die Seiten kreischen ließ wie die Seehexen. Schostakowitsch verzog das Gesicht. (253 f)
Hier mache ich Schluss. Das Buch hat mir recht gut gefallen. Die Autorin scheint, lt. Angaben im Anhang, gut recherchiert zu haben. Es ist ihr gelungen, die Musiker/innen in ihren Charakteren gut zu beschreiben. Auch fand ich interessant, mal unter die Prominenz zu gehen, und an deren Leben heimlich teilzunehmen. Ich konnte mich gut in die Figuren hineindenken und hineinfühlen. Am sympatischsten war mir Nikolai. Für mich ist Schostakowitsch ein guter Komponist, aber kein Gott. Und was ich menschlich von ihm halten soll, dazu habe ich noch keine eindeutige Meinung. Dass ihm die Musik wichtiger war, und damit das Leben seiner Familie riskierte, zeugt nicht gerade für echte Größe. Immerhin hat er eine Familie gegründet, niemand hatte ihn dazu gezwungen... . Auch dass er im Beruf seine Arbeit als Komponisten so hoch schätzte, während er andere im Gegenzug erniedrigte, macht mich nicht zu einer Freundin Schostakowitschs. Ganz gleich, wie gut seine Musik ist.

Wie allerdings ein/e Berufsmusiker/in dieses Buch lesen würde, kann ich nicht sagen. Vielleicht liest sie /er es kritischer, als ich es getan habe.
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Manchmal ist die Intuition die einzige Stimme, auf die es sich zu hören lohnt.
(Sarah Quigley)

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