Freitag, 21. Dezember 2012

Mohammed Hanif / Alices Bhattis Himmelfahrt (2)

Zweite Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Die Protagonistin des Buches nennt sich Alice Bhattis, Katholikin seit der Geburt, wurde als Jugendliche in eine Besserungsanstalt gesteckt wegen versuchten Totschlags. Dabei reagierte sie aus der Notwehr heraus, als man sie körperlich bedrohte. Aus der Anstalt entlassen, bewirbt sie sich als Krankenschwester im Krankenhaus Herz Jesu (hat eine symbolische Bedeutung). Die Ausbildung erfolgte in der Besserungsanstalt.

Das Krankenhaus tat sich schwer, Alice einzustellen aufgrund ihrer Herkunft..., doch sie hatte es geschafft, hat das Vorstellungsgespräch mit viel Mühe überwunden. Viele Fangfragen musste sie zudem beantworten. Die Klinik klagt unter einer chronischen personellen Unterbesetzung, so dass sie keine große Wahl hat, sich gegen die Bewerberin zu entscheiden. Das Krankenhaus beinhaltete alle möglichen Stationen, so wie auch die psychiatrische Station, "Zentrum für psychische und geistige Erkrankungen". Doch besonders auf der psychiatrischen Station gab es noch weniger Ärzte und Pflegepersonal, und so befinden sich diese kranken Menschen viel mehr in Verwahrung und erhalten alle die selbe medikamentöse Behandlung. Für mich kaum vorstellbar, da auch ich beruflich psychiatrisch tätig bin und die vielen unterschiedlichen Krankheitsbilder kenne. Die Menschen erhalten pro Tag alle eine Dosis von 600 mg Lithiumsulfat und sind auf sich selbst gestellt. Allice geht damit ein wenig humorvoll um und sagt sich, dass zumindest hier Gleichbehandlung bestehe. Die Ironie bezieht sich auf den Geschlechterkampf, wobei ich mir nicht sicher bin, ob der Begriff Geschlechterkampf  hier richtig platziert ist, da die Frauen kaum eine Chance haben, für die Gleichbehandlung der Geschlechter zu kämpfen... . Aber sie kämpften trotzdem auf ihre mögliche Art und Weise... .

Auf die psychiatrische Station werden meist Pflegekräfte geschickt, und hauptsächlich auch Frauen, obwohl sie oft von den Kranken körperlich bedroht werden... . Aber es gibt nicht genug männliche Pflegekräfte. Alice bekommt den Tipp von ihrer älteren Kollegin, sie solle, wenn sie angefasst werde, so tun, als sei alles normal... . Sie dürfen sich nicht beschweren und auch nicht klagen. Nicht nur hier, sondern überall in der Gesellschaft bekommt die Frau immer die Schuld zugewiesen, unabhängig davon, wie sie sich verhält. Da stellt sich mir die Frage, ob die Existenz einer Frau zu einer Schuldfrage wird? Auf den anderen Station übernehmen die Pflegekräfte oft Aufgaben, die hier bei uns nur ÄrztInnen durchführen dürfen. Im Kreißssaal dieses Herz Jesu Krankenhauses z.B. sind es die Pflegekräfte, die die Kinder zur Welt holen. Man kann sich leicht vorstellen, dass viele Säuglinge es lebend nicht schaffen, geboren zu werden.

In der Klinik ist auch Noor eingestellt, der zusammen mit Alice in der Besserungsanstalt war. Noor ist als einfache Schreibkraft eingestellt. Er war Analphabet und wurde in der Klinik von Dr. Pereira alphabetisiert.  Noor und Alice sind noch recht junge Leute. Noor gibt Alice den Tipp zu heiraten:

"Wahrscheinlich solltest du heiraten. Ich habe gehört, ein guter Ehemann sei das beste Heilmittel gegen Albträume. Und weißt du auch warum? Weil du dann mit einem Albtraum schläfst."

Fand ich schon recht ausdrucksstark, selbst von einem Mann gesprochen, und macht deutlich, wie schwer und bedrohlich es Frauen hier haben.

Korruption und Kriminalität dominieren den Arbeitsalltag. Auf der Inneren Station wird Alice ein weiteres Mal bedroht, als sie gezwungen wird, das männliche Geschlechtsteil eines Anwesenden mit ihrer bloßen Hand zu befriedigen, in der anderen Hand hielt der Besucher eine Pistole. Als sie sich wehrt, indem sie ihm mit einem Rasiermesser in den Penis schneidet, kommt es zu bösen Folgen. Ihre ältere und erfahrene Kollegin Hina Alvi rügt sie, indem sie sie für zwei Wochen aus dem Dienst suspendiert, damit der Peiniger sich vorerst an ihr nicht rächen kann:


"Du bist nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein, der man gelegentlich etwas unter die Nase hält (…). Es wäre deine Aufgabe gewesen, den Mann zu überreden, ihn wieder zurück in die Hose zu stecken und sie zu schließen. Darin besteht deine Ausbildung. Nicht darin, an jemandem herum zu schnippeln." (…).
" Meinen Sie, ich sollte zur Polizei gehen? Es war Notwehr, das wissen Sie." Alice weiß, dass sie nicht zur Polizei gehen wird - sie hat ihr halbes Erwachsenenleben versucht, der Polizei aus dem Weg zu gehen-, aber sie will wissen, was Schwester Hina Alvi dazu sagt: Diese schüttelt entnervt den Kopf, als wäre Alice Bhatti ein dummes Kind, das ständig fragt, warum die Leute auf der anderen Seite der Erde nicht in den Weltraum fallen, weil die Erde doch rund ist. "Im Krankenzimmer hattest du es nur mit einem Mann zu tun. Auf der Polizei wärst du mit einem ganzen Revier konfrontiert. Du würdest eine Kettensäge brauchen." (…).
" Eigentlich werde ich dafür bestraft, dass ich mich gegen einen bewaffneten Angriff gewehrt habe."

Hina Alvis Ratschläge sind aus ihrer eigenen Erfahrung gesprochen. Sie ist einundfünfzig Jahre alt und war dreimal verheiratet und ist dreimal geschieden worden. Auch sie führte den Geschlechterkampf, einmal mit den Ehen und einmal innerhalb ihres Berufes. Sie konnte nichts erreichen und was ihr blieb, war Resignation oder innere Methoden entwickeln, die ihr das Überleben in dieser patriarchalischen Gesellschaft sicherten.

Obwohl Alice als Frau recht selbstbewusst wirkt, und sie auch gelernt hat, dass Frauen, die sich ausschließlich um ihre Schönheit kümmern, oft zu Opfern werden:

"Alice Bhatti hat ihre eigenen Beobachtungen angestellt und glaubt erkannt zu haben, welcher Typ Frau es ist, der die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese Frauen stolpern von einem Mann, der sie schlägt, zum nächsten, der ihnen die Nase abhackt, dann in die Arme des unvermeidlich letzten, der ihnen die Kehle durchschneiden wird."

Ein wenig makaber, aber es ist bekannt, dass in solchen patriarchalischen Systemen für den Mann jede Tat legal ist. Selbst die banalsten Dinge können für eine Frau gefährlich werden:

"Alice isst niemals in der Öffentlichkeit. Sich etwas in den Mund zu stecken, kann auf jeden Fall als Aufforderung gedeutet werden, dir irgendetwas Grauenhaftes in die Kehle zu rammen. Wer seinen Hunger zeigt, zeigt offensichtlich ein Verlangen."

Wenn junge Frauen zeigen, dass sie sexuell aufgeklärt sind, werden Männer recht misstrauisch und hegen den Verdacht, dass sie sexuell schon sehr erfahren sind und sie sexuellen Kontakt mit anderen Männern genossen haben. Alice wurde in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester aufgeklärt und als sie mit ihrem Mann über Spermien sprach, weil er das Thema gewählt hatte, wäre es beinahe zum Verhängnis gekommen... .

Männer sind immer hungrig und Frauen immer traurig, das fragen sich einige Männer, woran das liegt, dass Frauen traurig sind, obwohl sie glücklich sein müssten:

"Hunger verstehe ich ja noch, weil der Mann jede Nacht schwer arbeiten muss, manchmal sogar mehr als einmal in einer Nacht, aber warum werden die Frauen traurig, wenn sie verheiratet sind? Sollten Sie nicht eigentlich froh sein? Sie haben Ihren Partner gefunden, den Vater ihrer zukünftigen Kinder, den Mann, den sie zwingen werden, so schwer zu arbeiten, dass sie nach seinem Tod begehrte Witwen sind." 

Konflikte gibt es auch oft, wenn Menschen ihre Religiosität zeigen und verbergen sie ganz oft, weil sie oft Nachteile erleiden müssen.

"Eine verheiratete Muslimkrankenschwester ist nicht viel besser als eine ledige christliche. Du wirst höchstens doppelt versklavt."

Alice hat geheiratet, was man eigentlich auch als Leserin nicht erwartet hat, da sie doch eine recht selbstbewusste Frau ist und in der Lage ist, die Welt der Männer zu durchschauen. Dennoch ging sie den Bund der Ehe ein, doch auch diese Ehe verlief nicht glücklich. Überhaupt das gesamte Schicksal Alices verlief nicht glücklich und nur der Chefarzt der Klinik, Dr. Pereiras, weiß um das schwere Schicksal dieser beiden jungen Leute, Alices und Noors:

"Dr. Pereiras Ärger über Alice Bhatti und Noor ist der eines privilegierten gegenüber weniger begünstigten, denen man eine Chance gegeben hat, die jedoch entschlossen sind, sie zu vergeuden. Die Menschen, die sich weigern, das Haus zu verlassen, selbst wenn das Wetter schön ist. Die sich in ihrem Unglück suhlen, wenn auf der Straße getanzt wird. Sich weigern teilzuhaben, wenn Geschichte gemacht wird. Dr. Pereira ist Mensch genug, um zu wissen, dass Alice und Noor ihr Unglück nicht verschuldet haben, aber er hat auch nicht genügend Fantasie, um zu erkennen, wie verzweifelt sie sich bemühen, ihr Schicksal umzuschreiben."

Der letzte Satz hat mich total berührt, das Schicksal umzuschreiben...

"Noor hat genug Zeit im Krankenhaus verbracht, um zu wissen, was man hier wirklich denkt: dass Schwester Alice in der Gosse aufgewachsen ist und noch immer ihren Gestank an sich trägt. Dass Noor im Gefängnis zur Welt gekommen und aufgewachsen ist und ihm der Geruch des Sklaven anhaftet."

Wenn man so etwas liest, kann man nur Mitleid für diese Menschen wie Alice und Noor haben. ich frage mich, wie eine  Feministin Alice Schwarzer in solch einer Gesellschaft überleben würde? Die Frauen hier haben keinerlei Chancen, sich zu emanzipieren. Der Kampf endet schließlich nach innen, um zu überleben und nicht ermordet zu werden. Bei vielen anderen endet er tatsächlich mit dem Tod... .

Zum Schluss geht es nochmal darum, herauszufinden, was gute Menschen sind und weniger gute nach der Definition der katholischen Kirche. Es wird die Frage gestellt, ob nicht Alice Bhattis jemand ist, die man als Heilige bezeichnen könne, die den ganzen Mut aufgebracht hat, im Krankenhaus sich für andere Menschen stark zu machen und sich einzusetzen und selbst ihr Leben zu riskieren? Alice ergreift zum Schluss ein sehr schweres Schicksal, das ich aber offen lassen möchte und schließe somit diese Buchbesprechung. Aber meine ganze Anerkennung zollt diesen Menschen wie Alice, Noor und vielen andere Menschen auch, die in schwere, fundamentalistische und kriminelle Verhältnisse geboren werden. Meine Anerkennung zollt auch dem Autor, auch wenn mir ein paar Szenen nicht wirklich glaubhaft erschienen sind.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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