Mittwoch, 26. Dezember 2012

Heide Koehne / Der Buchladen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen. Es ist nicht so abgehoben gewesen aber trotzdem interessant. Habe mir ein paar Textstellen markiert, die ich hier nun füllen möchte. Die Protagonistin des Romans sollte eigentlich Irma Schrei sein, für mich aber ist es die kleine Tochter Gertrud. Für mich ist sie die Heldin dieser Geschichte. Das Buch spricht aus der Ich-Perspektive, Gertrude, die Tochter von der Buchhändlerin, die erzählt.

Die junge und alleinstehende Irma eröffnet mit Anfang zwanzig eine Leihbücherei, die auch recht gut läuft. Ich wusste nicht, dass es früher so eine Art von Bücherei gab, wo die LeserInnen Kunden waren, die für jedes ausgeliehene Buch eine Gebühr zu entrichten hatten. Es gab sogar Verlage, die ausschließlich Bücher für Leihbüchereien publizierten. Irma war in ihrem Wesen ein recht introvertierter Mensch, der sich in die Bücher ihres Buchladens vertiefte. Sie las ein Buch nach dem anderen, wenn keine Kunden im Laden waren. Die Kunden schätzen sehr ihre ruhige und kenntnisreiche Art, weshalb sich viele Kunden zu ihr hingezogen fühlten. Viele kamen, um sich bei ihr auszusprechen, und Irma hörte zu, ohne viel sprechen zu müssen...

Irma bekommt ein Kind, es ist das Kind eines Buchlieferanten namens Hans Schrei, den sie geheiratet hatte. Hans arbeitete und wohnte in Frankfurt Main, recht weit weg von seiner Familie, während Irma aus dem hohen Norden Niedersachsen kommt, so blieb Hans meist über das Wochenende bei seiner Familie. Eigentlich der ideale Mann für Irma Reich, hätte Hans da mitgespielt.. .

Mich hat dieses Kind so sehr berührt. Gertrud wurde auf eine warme Decke gelegt, am Boden neben dem Schreibtisch ihrer Mutter. Das Kind passte sich der Stille ihrer Mutter an, indem es sich auch still verhält. Kinder haben in dem Alter schon soviel Einfühlvermögen, dass sie sehr genau spüren, was die Mutter braucht, damit sie glücklich ist. Das Kind weiß unbewusst, dass es selbst auch nur glücklich sein kann, wenn die  Mutter glücklich ist. Als es krabbeln konnte, krabbelte es zu den Vorhängen am Fenster, versteckte sich dahinter und hoffte, ihre Mutter würde sie vermissen und nach ihr suchen. Die Mutter, vertieft in ihrem Buch, vermisste das Kind nicht, also blieb dem Kind nichts anderes übrig, als sich ohne viel Lärm wieder zurück auf ihre Decke zu krabbeln.

Ich denke dabei an die Psychoanalytikerin Alice Miller, an das von ihr geschriebene Buch Das Drama des begabten Kindes, wo sich Kinder schon recht früh in die Bedürfnisse ihrer Eltern begeben und vielmals auch deren Bedürfnisse erfüllen, während die eigenen Bedürfnisse auf der Strecke bleiben und sich das Kind emotional nicht weiter entwickeln kann wie es sollte.

Wenn die Ladenglocke ging und Kunden den Laden betreten hatten, pflegte meine Mutter ihr Buch umgekehrt auf den Tisch zu legen und widmete sich ihnen anfangs mit einem leicht abwesenden Gesichtsausdruck, als sei sie immer noch eine der Figuren aus ihrem Buch und lebe nun dort ihr eigentliches Leben.

Die Ehe mit Hans Reich scheiterte, da er ein Mensch war, der oft das Gespräch zu seiner Frau suchte, seine Frau allerdings auf taktlose Art die Gespräche blockierte, da sie auf Konversationen einfach keine Lust verspürte. Auch Gertrud hatte wenig Bezug zu ihrem Vater... .

Wenn der Vater während des Essens ein bisschen von diesem oder jenem erzählte, wie es seine Art war, hat niemand von uns auch nur das Gesicht verzogen geschweige denn selber etwas erzählt, der Vater hatte immer nervöser und das Schweigen, das ihn umgab, hinein gesprochen, bis ihn die Mutter schließlich unterbrochen und gesagt hat, er solle nicht so viel reden, sonst wird das Essen kalt. Dann verstummte der Vater sofort, und obwohl er, um die Fassade zu wahren, den Mund zu einem gleichen Lächeln verzog, half ihm das nicht viel. Denn wir, die Mutter und ich, durchschauten ihn trotzdem - die Mutter sowieso und ich, weil ich war wie sie: Mutters kleiner Schatten.

Hans suchte keinen Streit, sondern zog sich klammheimlich zurück, kam an den Wochenenden nicht mehr nach Hause... .
Am nächsten Morgen, wenn ich aufwachte, war der Vater bereits wieder fort.Ich kann nicht sagen, dass die Mutter traurig gewirkt hat, wenn sie wieder allein war. Sie hat sich zumindest nichts anmerken lassen. Außerdem: wirklich allein war sie nicht, wenn der Vater wieder fort war. Sie hatte ja ihren Buchladen und ihre Bücher. Und dann hatte sie auch noch mich.
Hans Reich ließ sich nicht mehr blicken und suchte sich eine neue Frau, von der er bereits mittlerweile auch ein Kind hatte. Erst ein paar Jahre später erhält Irma und Gertrud wieder Post von ihm. Hans wollte sich scheiden lassen und erwähnte auch darin, dass ihm Gertrud leid täte bei einer Mutter wie Irma aufzuwachsen. Irma war recht erstaunt und auch traurig darüber. Sie verweigerte somit die Scheidung.

Warum ist Gertrud die Heldin? Sie kümmerte sich um die Bedürfnisse ihrer Mutter. Recht früh übernahm sie Haushaltspflichten, kochte zweimal am Tag für sich und für ihre Mutter, und brachte die Küche immer wieder auf Vordermann. Sie konnte der Mutter alle Wünsche von den Augen ablesen... . Sie wurde auch schon recht früh mit einem Einkaufszettel losgeschickt. Als sie eingeschult wurde, konnte sie keinen rechten Bezug zu ihrer Lehrerin finden. Die Lehrerin ignorierte sie. Gertrud war von ihrer Statur her eher ein großes Kind, wirkte dadurch auch älter. Ihre Lehrerin hatte mehr ein Faible für die ganz kleinen und schüchternen Kinder in ihrer Klasse. Gertrud litt darunter, dass sie nicht beachtet wird. Auch ihre Schulkameraden passten sich unbewusst dem Verhalten ihrer Lehrerin an, so dass Gertrud ein Sonderling in ihrer Klasse wurde, niemand wollte mit ihr zu tun haben. Ihre Leistungen waren nicht einmal mittelmäßig, wobei ich der Meinung bin, dass es an dem Verhalten ihrer Lehrerin als auch an ihrer Mutter lag, dass Gertrud eine der schlechteste Schülerin ihrer Klasse war. Mit der Zeit wurde sie auch fettleibig. Ihre Mutter war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, so dass Gertruds Entwicklung kognitiver und physischer Art sich eher in die falsche Richtung sich verselbständigte. Gertrud wirkt aber alles andere als unglücklich. Für sie wurde es zur Selbstverständlichkeit, ganz für die Mutter dazu sein, indem sie ihre eigene Bedürftigkeit unbewusst zurücksteckte.

Dies ist der Grund, weshalb für mich die kleine Gertrud die eigentliche Protagonistin für mich ist. An dieser Stelle empfehle ich jedem, der oder die sich für diese Thematik interessiert das Buch von Alice Miller Das Drama des begabten Kindes. Auswirkungen und Probleme entstehen meist erst im erwachsenen Alter.

Es ist noch einiges mehr passiert, verweise aber auf das Buch... .


Hier das Buch:



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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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