Freitag, 28. Dezember 2012

Abdel Sellou / Einfach Freunde (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Zu Philippe Pozzo di Borgos Band Ziemlich beste Freunde habe ich nicht so viele schönen Eindrücke wiedergeben können, anders zu dem Band von Abdel Sellous Einfach Freunde.
Das Buch habe ich im Vergleich dazu mit großem Interesse gelesen, während Pozzo ich einfach langweilig fand. Nun bin ich doch motiviert, mir auch die Verfilmung anzusehen.

Zwar ist Abel in seiner Jugend ein Großkotz gewesen, lebte kriminell, ab seiner Volljährigkeit hatte die Justiz keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen müssen. Er saß wiederholte Male im Knast, und er beschrieb den Knast fast wie ein Fünfsterne Hotel, aber Kost und Logis frei. Bei diesem Gelabere bekam ich ein wenig Gänsehaut, ich musste an Dickens, Fallada, an Dumas denken, sie alle haben über die Gefängnisse ihrer Zeit geschrieben und ihnen ist es sicher mitzuverdanken, dass die Menschen nicht mehr in dunkle, feuchte Kellerlöcher eingebuchtet werden. Ihnen habe wir es mit zu verdanken  dass die Inhaftierten heute ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden und da kommt so ein Abdel Sellous daher und lässt diese Sprüche ab. Es gibt genug Politiker, die diese Meinung auch vertreten und da wäre ich vorsichtig mit solchen Äußerungen... .

Also mich schreckt das Gefängnis kein bisschen. Wenn's dort wirklich so schlimm wäre, würden sich die Häftlinge nach ihrer Entlassung doch gleich eine ehrliche Arbeit suchen, um nie wieder eingelocht zu werden. Ich kann mir mein Sandwich in aller Ruhe schmecken lassen, kein Grund zur Panik.  (…). Zehn Monate Gefängnis also, nicht mal ein Jahr. Das Urteil bringt mich nicht aus der Ruhe. Fast bin ich erleichtert, wie der Obdachlose, der auf freie Unterkunft und Verpflegung aus ist. (…)
Willkommen im Erholungsheim. (...) Die Riegel schnappen auf. Ich strecke und lehne mich, massiere mir den Nacken, gähne ausgiebig. Bald wird der Kaffee serviert, im Flur rollt der Wagen immer näher. Ich strecke meinen Becher aus, greife mir das Tablett, lege mich wieder hin. (…) Frühstückt im Bett, was will das Volk mehr? Ein bisschen Ruhe vielleicht.

Es geht immer weiter so, die Beschreibung aus seinem Knast, assoziiert mit einem Erholungsheim.

Abdel Sellou ist in Algerien geboren und wurde zusammen mit seinem um ein Jahr älteren Bruder mit vier Jahren nach Paris geschickt, zu seiner Tante und seinem Onkel, die seine neuen Eltern werden, ohne Adoptionsverfahren. Für Abdel ist es ganz normal, dass Eltern ihre Kinder fortschicken, ist in seiner Kultur weit verbreitet. Während Schulpsychologen den Elternverlust als Verlust bezeichnen, der zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt habe, bagatellisiert Abdel sein Erlebnis. Ich kann mir selbst auch vorstellen, dass die beiden Kinder einen Kulturschock erlitten haben... .
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit gerade mal vier Jahren schon sagen kann was gesellschaftlich  normal und was nicht normal ist.

Abdel belustigt sich über die Kindererziehung in Frankreich. Während französische Kinder an der Leine geführt werden würden, werden afrikanische Kinder recht früh losgelassen, um eigene Erfahrungen zu machen.

Ich konnte mich nicht in andere Menschen rein versetzen. Ich kam nicht mal auf die Idee, es zu versuchen. Hätte mich einer gefragt, wie sich wohl ein Junge fühlt der gerade ausgeraubt wurde, wäre ich in ein hämisches Kichern verfallen. Da an mir alles abprallte, musste es den anderen zwangsläufig ähnlich ergehen, erst recht diese Muttersöhnchen, die mit einem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen waren.

Die Polizei selbst besaß Kinder und Jugendlichen gegenüber eine recht hohe Toleranzgrenze. Immer, wenn Abdel beim Stehlen erwischt und auf des Revier gebracht wurde, war er innerhalb kürzester Zeit wieder auf der Straße. Grenzen habe er auch von den Polizisten bis zum seinem achtzehnten Lebensjahr nicht wirklich erfahren.

Seine neuen Eltern mischten sich nicht in die Entwicklung des Kindes ein, da ihre Kultur vorschreibt, dass Kinder heranwachsen sollen, indem sie ihre eigenen Erfahrungen machen sollen. Als die Eltern gemerkt haben, dass Abdels Entwicklung immer mehr mit kriminellem Potential behaftet war, war es schon zu spät. Kinder brauchen Grenzen und diese Grenzen hat Abdel nie zu spüren bekommen.

Die Psychologin versuchte Kontakt mit Abduls Eltern aufzunehmen:

Madame Sellou, Monsieur Sellou, ich darf Sie daran erinnern, dass sie für diesen Jungen die Verantwortung tragen, und zwar bis zu seiner Volljährigkeit, die in Frankreich mit 18 Jahren erreicht ist. Bis dahin müssen sie ihn beschützen, auch gegen seinen Willen. Ein Kind bedeutet keine Last, sondern eine Aufgabe, die Eltern zu erfüllen haben.

Die Eltern waren zwar gewillt etwas zu verändern, doch, wie schon gesagt, es war zu spät, Abdel ging weiterhin seinen eigenen Weg.
Und eigentlich ist es Abdel gewesen, der den Eltern sagte, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Die Eltern hielten es für ein Zeichen von Liebe, wenn sie ihren Kindern alles durchgehen lassen. Selten haben sie Verbote ausgesprochen, weil sie nicht wussten, dass diese zu der Erziehung dazugehören. Abdel bezeichnete es so, als fehlten den Eltern für die Kindererziehung die Gebrauchsanweisung.

Abdel lernt Philippe Pozzo di Borgo kennen, als er vom Arbeitsamt die Stellenbeschreibung in die Hand gedrückt bekommt. Pozzo ist ein Tetraplagiker, und er sucht einen Intensivpfleger. Erst konnte Abdel nichts mit dieser Stellenbeschreibung anfangen, ein Großkotz, der jetzt zu sozialem Denken und Handeln herausgefordert wird. Pozzo hatte viele Bewerber, aber er entschied sich ziemlich schnell für Abdel. Abdel, ein Krimineller, daraus machte er kein Geheimnis, hoffte, ihn damit abzuschrecken, doch Pozzo ließ sich nicht abschrecken. Pozzo war in der Lage, tief in Abdels Seele zu schauen, und entdeckten dort ein großes Herz. Nachdem Abdel sich mit dieser Pflegestelle angefreundet hatte, er schlug eine Probezeit vor, weil er sich für diese Stelle als absolut ungeeignet vorkam,  war sein Lebensmotto immer wieder, Menschen müssen in der Not zusammenhalten, schließlich wären Menschen keine Tiere.

Beide Menschen lernen voneinander  es entsteht eine tiefe Freundschaft. Mir hatte auch Pozzo imponiert, dass er diesem Menschen von Abdel unbedingt eine Chance geben wollte. Was Abdel nicht wusste, wusste Pozzo, dass Abdel genau der richtige Mann für ihn war. Mittlerweile konnte auch Abdel diese freundschaftliche Entwicklung mit seinem Patienten nicht mehr aufhalten. Mit viel Humor, Fantasie und Kreativität konnte er Pozzo zehn lange Jahre begleiten und Abdel selbst reifte zu einem Mann heran, der nun weiß, was Verantwortung bedeutet, sich selbst und seinem Gefährten gegenüber. Zur Abwechslung konnte Abdel auch richtig philosophisch werden:

Aber wer bin ich, um über das Leiden zu sprechen, über Scham und Behinderung? Ich habe bloß etwas mehr Glück gehabt als die große Masse der Blinden, die nichts gesehen hatten, bevor sie ziemlich beste Freunde gesehen haben.

Zum ersten Mal erlebe ich Abdul als jemanden, der einen anderen Menschen achten konnte, ihn mit Respekt anzupacken wusste.

Von Monsieur Pozzo schließlich und vor allem, Monsieur Pozzo mit großem M, großem P und allem anderen auch groß von der Intelligenz und dem Banksafe :D bis zur Demut. (…).

Ich reihe nun einen letztes Zitat an, das mir auch gut gefallen hat, weil es die Perspektive zeigt, die plötzlich wie vertauscht zwischen Pozzo und Abdul eine andere wird:

Pozzo hat mir seinen Rollstuhl wie eine Krücke angeboten, auf der ich mich abstützen konnte. Ich benutze sie noch heute.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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