Dienstag, 18. Dezember 2012

Ernst Augustin / Robinsons blaues Haus (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Das Buch ist recht kompliziert zu lesen, aber ich schreibe trotzdem darüber, da ich neugierig bin, was sich mir bewusst und unbewusst für Gedanken und Ideen zu dem Inhalt auftun.

Es ist nicht so, dass es mir gut gefallen hat, aber es ist auch nicht so, dass es mir nicht gefallen hat. Der Roman ist voller Bilder und Ideen. Manchmal recht traurige und manchmal verpackt in Humor. Der Roman ist voller Räume, innen und außen... . Man darf nicht fragen, was wahr ist und was falsch ist. Viele, viele Welten treten hier zum Vorschein. Welt innen, Welt außen..., zerlegt in viele kleine andere Welten... , real, surreal und irreal ... . In diesem ganzen Komplex gibt es schließlich aus vielen Realitäten eine einzige Wirklichkeit. Ich selbst habe nicht den Anspruch, diese vielen Welten zu verstehen. Die Welten im Inland, die Welten im Ausland. Das Ausland im Inland (BRD / DDR)... . Alles Räume, die sich Robinson, wie auf einer einsamen Insel lebend, selbst kreiert, um psychisch und geistig überleben zu können. Gebäude und Gemäuer zum Selbstschutz. Aber einige Räume, Gebäude sind recht stilvoll gestaltet... . Man muss diese Welten finden und jeweils einen Namen geben, sollte man jene Orte wieder erkennen.

Auch wenn der Name im Buchtitel mit Robinson versehen ist, so ist dies eher ein Fantasiename des Protagonisten des Romans, ein Nickname für Chatrooms. Sein richtiger Name wurde nur einmal erwähnt, dann nie wieder. Man muss also sehr aufmerksam lesen, um gewisse Details nicht zu verpassen. Erst auf Seite dreiundfünfzig erfährt man den richtigen Namen von alias Robinson. Er heißt Thomas Hilprecht jr. und kommt aus Lübeck. Er ist das einzige Kind dieser dreiköpfigen Familie. Sein Vater ist Bankier und beruflich oft verreist. Von der Mutter erfährt man nicht sehr viel, außer dass sie Hausfrau und Mutter ist und recht früh verstarb.

Der Protagonist ist kein Kind mehr, lässt uns aber retrospektivisch an ein paar Ereignissen seiner Kindheit teilnehmen. Sein Vater z.B., der ihm prophezeite, dass er es im Leben mal schwer haben werde und er auch keine Freunde haben würde, machte es sich mit dieser Mentalität ein wenig einfach, denn er weiß nicht, was es mit dem
Jungen macht, der so eine Welt einsuggeriert bekommt...

Du wirst entdecken, dass du allein bist, dass du dich auf einer Insel befindest - merke dir, mein Sohn - inmitten eines Ozeans von Menschen über Menschen, die alle laut reden und alle etwas anderes meinen. Die Ihre Seele daransetzen werden, dich von dieser Insel - so selig sie immer sein mag - zu vertreiben. Es sind sechs Milliarden, alle miteinander  ... .

Der Vater war nicht autoritär, doch sehr pflichtbewusst und legte viel Wert auf die Durchschnittlichkeit in Form des nicht aus der Rolle fallen, und immer schön brav und anständig dem geregelten Leben nachgehen.  Statt den Sohn noch für andere Berufe neugierig zu machen, sorgte er dafür, dass Thomas nach der Schule auch Bankkaufmann wird und so tritt der Junge in die Fußstapfen seines Vaters. Der Vater wollte den Sohn in sichere Bahnen wissen.

Allerdings lässt dieser Wunsch nach Durchschnittlichkeit noch andere Schlüsse zu. Politische Motive könnten den Vater dazu bewegt haben, nicht aufzufallen, um sich nicht zu gefährden. Der Deutungen, so bin ich sicher, gibt es viele.

"Ich weiß", sagte mein Vater, "dass du in deiner Bank nicht übermäßig glücklich bist. Dass dir diese geordneten Verhältnisse, wie sie geboten werden, wenig erstrebenswert erscheinen, ich weiß. Das gute Ein- und Auskommen, mit Pensionsanspruch, selbst die vorhandenen Aufstiegsmöglichkeiten erscheinen dir wenig verlockend. Also mittelmäßig. Ich weiß. Deshalb lass dir sagen, mein Sohn, Mittelmäßigkeit ist eine Gnade! Das mag dir vielleicht noch nicht einsehen, aber lass dir sagen, sie ist die wahre Tugend, die den Menschen durchs Leben bringt."

Von den Problemen seines Sohnes dagegen wusste der Vater nichts, als dieser noch klein war und von Mitschülern gehänselt wurde, da er berufsbedingt zu selten zu Hause war.
Doch schon in der Schule machte der Junge die Erfahrung, von den Klassenkameraden ausgestoßen zu werden. Um aus dieser Außenseiterrolle zu kommen, hätte er eine schwere Bewährungsprobe bestehen müssen. Doch er konnte sich geschickt drücken, und erfand einen Raum auf dem Hof, wo ihn niemand finden konnte... . Das Versteckenspiel hörte auf, als die Familie schließlich kurze Zeit darauf durch glückliche Umstände den Wohnort wechselte... .

Als Erwachsener beschreibt sich Robinson folgendermaßen:

Er sei ein Mensch, der nichts mit sich herumträgt. Kein Gepäck, keine Taschen, nicht mal einen Schirm, wenn dann nur einen Mantel, den er sich über die Schultern wirft. Jedenfalls kann er jeder Zeit von seinem Platz aufstehen und verreisen, (...) sich in den Zug setzen und nach Kopenhagen zu fahren.

Ein wenig absurd diese Beschreibung. Aber sie gefällt mir. Die Vorstellung auf diese Weise von jetzt auf gleich sich in den Zug zu setzen und verreisen, ist unkompliziert und schön.

Robinson ist der Nickname, abgeleitet von Daniel Defoes Roman Robinson Cruso. Und ich nenne ihn jetzt auch Robinson. Robinson befindet sich im Chat-room und spricht mit Freitag. Es wird hier auch die Anonymität thematisiert, die Gesichterlosigkeit und was daraus folgt:

(…) das Gesicht, ohne Gesicht wird der Mensch waghalsig und schämt sich nicht. D.h. heute schäme ich mich, wenn auch nicht sehr, ich schäme mich virtuell, fast oder beinahe.

Freitag ist die anonyme (Fantasiefigur / aus Robinson Cruso), mit der Robinson sich austauscht. In seiner Vorstellung gibt es auch eine Frau Freitag, doch Herr Freitag negiert diese Figur, tut sie als nichtexistent ab. Frau Freitag, die es nur in seiner Vorstellung gäbe. Und in der Tat. Er verabredet sich mit Frau Freitag, doch Frau Freitag erscheint nicht.

Er geht Schwimmen, seine Mutter bittet ihn, wieder zu kommen. Wieso bittet sie ihn wieder zu kommen? Der Junge assoziiert es mit einem Seemann, der sein Bestes tut, und dass nicht jeder Seemann ein nasses Grab erhielt. Nasses Grab *lol*. Schöne Metapher, auf die ich später noch einmal zu sprechen komme.

In dem Buch tauchen auch zwei männliche Figuren auf, wo ich glaube, dass sie stellvertretend für die Stasi stehen. Sie suchten eines Tages den Vater auf, der Vater selbst befand sich auf der Flucht. Es sagte zu seinem Sohn, dass, wer ihn nicht kennen würde, so könne dieser ihn auch nicht verraten. Der Erwachsene junge Mann machte sich Sorgen um seinen Vater und glaubte, die väterliche Seele in einer Schreibtischschublade gefunden zu haben.

Skizzen und Pläne, einen ganzen Haufen, ich habe geweint. Pläne für Schlafsäcke, für Polsterstiefel, für warme Mützen, Körperhüllen zum Überleben in Eiswüsten. Man bedenke, Eiswüsten! Ausgemessen, berechnet, sorgfältig beschriftet, eine Arbeit zum Weinen. Da ist dieser Mensch, der sich anscheinend nichts sehnlicher wünscht, als dorthin zu gehen, wohin ihm niemand folgen kann. Im Eissack, in der Polarausstattung, man bedenke. Es war nicht so sehr die völlig unsinnige Vorstellungskraft, die mich weinen machte - Amundsen und Ericson hatten auch ihre Einfälle; es war die Sorgfalt, mit der hier ein eisiger Traum geplant worden war, die unbeirrbare väterliche Präzision.

Hier kommen die Nöte des Vaters richtig zur Geltung. Viele Überlegungen, wer es schaffen könnte, das Land zu verlassen, entstehen. Zu seinem Sohn sagt er:

"Sie können dir nicht folgen, weil ihnen Eiszapfen unter der Nase wachsen, bei sechzig Grad Minus. Als Beispiel. Du hast dir erfindungsreich einen Tropfenfänger gebaut, ein Tröpfchen in der Kopfhaube, so dass dir keine Eiszapfen wachsen. Du gehst, gehst immer weiter, fernab das Jaulen der Verfolger".

Eiszapfen unter der Nase wachsen, *lol*. Gefällt mir sehr.

Irgendwann, nachdem Robinson seine eigenen Erfahrungen gemacht hat erkennt er, dass der Mensch selbst sein eigenes Haus sei,

" (…) So kommt er rüber und so geht er raus,mächtig und prächtig,ärmlich erbärmlich,das ist der Mensch und so sieht er aus."

Wirkt auf mich ein wenig pessimistisch aber trotzdem schön.

Auf der Seite zweihundertfünfzig werden andere Häuser beschrieben. Und sie haben mir alle gefallen. Zumindest die Ideen, die Vorstellung solcher Häuser. Robinson verreist, er verreist in den Süden, in den Norden, zu den Afghanen usw..
Das Haus des Nordländers sei nach allen Seiten hin offen und zugänglich. Das Haus würde unter einer dicken Wetterhaube auf freiem Gelände sitzen.
Dagegen das Haus des Südländers sei genau das Gegenteil. Es sei geschlossen und eingemauert. Es besitze weder Fenster noch Türen. Irgendwo in einem Mauergang befände sich die Pforte.
Dagegen das Haus des Japaners bestehe nur aus Papier... . Usw.

Auch gibt es einen Vogel, oder vielmehr ein Adler, der schwarz-weiß gestreift ist, mit einer goldenen Brust, und der recht skeptische Blicke auf Robinson wirft. Ob damit die BRD gemeint ist, sozusagen nach dem Mauerfall, und er sich als Gast begreift und als Gast angenommen wurde?

Auf den letzten Seiten plant Robinson zum Schluss ein großes Haus zu bauen.

Es wird ein großes Haus werden. Mit vielen Korridoren und Ein-und Ausgängen, je nachdem, ob man hinein oder hinaus will, man ist ja nicht immer derselbe. Es geht hinauf und hinab, prächtig symmetrisch soll es werden und zugleich mächtig krumm und unübersichtlich, möglichst verbaut. Es soll genügend abgelegene Winkel haben, Scheintüren und Scheinwände, dass man nie ganz sicher sein kann, wo genau man sich befindet.

Das Haus stehe dafür, sich mit sich selbst dort einzurichten. Sich selbst Räume geben, sich selbst finden, sich selbst Schutz gewähren. Der Autor beschreibt es als ein Haus des Inneren, das ihm ermöglicht, in sich selbst hinein zu gehen. Und er spricht von Landschaften der Seele, auf die man durch die Fenster des Hauses blicken könne. In sich hinein blicken können und Welten entdecken.

Ich komme jetzt nochmal auf das Wasser zu sprechen, da Wasser auch recht symbolträchtig ist. Der Autor spricht von dunklem Wasser, das ganz tief unten fließt, im untersten Keller, im tiefsten Untergeschoss:

Aber es sind schwarze Wasser, die dort fließen, ein schwarzer Strom, schnell, klang und lautlos wie ein Schlangenleib. Sehr tief und sehr weit unten. Das Wasser schwillt, wird breit und bedrohlich und fängt an zu kurbeln. Das sind meine Ängste, die dort herumschwimmen, die verdrücken Gefühle, die Süchte und das ganze Leid. Aber irgendwann, das verspreche ich, werde ich hingehen und ein tiefes Loch in den Bimsstein graben, ich werde nachsehen, was dort unten ist. Luft ist leicht. Erde ist schwer. Wasser neigt zur Hysterie. Und Feuer, lieber Freund, Feuer ist ganz sicherlich hoch kriminell.

Irgendwann auf den ersten Seiten, so erinnere ich mich, als die Frage gestellt wurde, was wichtiger sei, Geld oder Liebe? Dann kam Leerlauf. Nach dem Leerlauf stand geschrieben beides.

Doch jetzt, zum Schluss, gehen wir wieder zurück in den Chat - Raum, zurück ins Internet, um alles, was dort an Leben abgerufen wurde, wieder zu löschen geht. Nur die Liebe, für die man kein Passwort benötige, bleibe für immer, und nur diese könne man überall mit hinnehmen ... .

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„Musik ist eine Weltsprache“ 
         (Isabel Allende)

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