Montag, 23. Juli 2012

Orhan Pamuk / Istanbul (3)

Dritte von drei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

In der Autobiografie wechselt des öfteren die Erzählperspektive, zwischen der Kindheit Pamuks, was ich auch toll finde, weil man dadurch mehr über das Zwischenmenschliche erfahren kann, und der Stadtbeschreibung, dass man manchmal den Eindruck bekommt, einen Reisebericht zu lesen. Richtig lustige Szenen werden erzählt und auch der Vater, der über einen antiautoritären Erziehungsstil verfügt, ist mir recht sympathisch durch seine Art, die  ungewöhnlich und nicht alltäglich ist... . Er bezeichnete seine Kinder nicht als seine Söhne, sondern als seine kleinen Brüder :D. Weitere Beispiele wurden im letzten Posting genannt .

Für eine interessante Persönlichkeit aus der Familie halte ich auch Pamuks Großmutter, die es wagte, als junge Frau Lokale zu betreten und Alkohol zu bestellen. Selbst im Alter traf sie sich in einer wohlhabenden Damengesellschaft ein und spielten gemeinsam rauchend leidenschaftlich Poker und konsumierten Schnäpse... :D.

Lustig finde ich auch die Schulszene, wenn sie auch recht ernst ist, und störende Kinder bestraft werden und sich in die Ecke stellen müssen, und dazu noch auf einem Bein :D. Weil das die Aufmerksamkeit der anderen Kinder erregte, weil jeder neugierig wurde, wie lange der Sträfling es auf einem Bein aushalte, wurde diese Maßregel wieder abgeschafft.... .

Dann die sog. lustigen Benimmregeln, die mich recht amüsierten. "Laufen Sie nicht mit offenem Mund durch die Stadt." Diese wurden von Stadtbriefschreiber in der hundertvierzigjährigen Geschichte Istanbuls auf einer Kolumne inseriert.

Der berühmte französische Schriftsteller Victor Hugo soll des öfteren im Obergeschoss eines Pferdeomnibus durch ganz Paris gefahren sein, um seine Landsleute zu beobachten. Gestern haben wir es ihm gleichgetan und dabei feststellen müssen, dass viele Istanbuler auf der Straße dahinmarschieren, ohne auf die anderen die mindeste Rücksicht zu nehmen, dass sie ihre Fahrscheine, ihre Eistüten und ihre Maiskolben einfach auf den Boden werfen, dass die Fußgänger auf der Straße unterwegs sind und die Autos auf den Gehsteigen und dass die Leute nicht aus Armut, sondern aus Dummheit und Faulheit herzlich schlecht gekleidet sind." (1952)
" Wenn wir draußen auf der Straße nicht kreuz und quer herumlaufen würden, wie es uns gerade in den Sinn kommt, sondern uns so, wie es in Europa üblich ist, an die Verkehrsregeln hielten, dann hätten wir nicht ein so furchtbares Durcheinander. Aber da stellt sich schon mal die Frage, wer in dieser Stadt die Verkehrsregeln überhaupt kennt…" (1949) 

Auch hier wieder eine komplette Idealisierung der westlichen Welt, denn auch in Europa gibt es Länder, die keine Verkehrsregeln beachten.

Und nun noch ein ganz lustiges Zitat, klingt für mich ein wenig satirisch:
"Die Saison hat begonnen, und unsere Regenschirme sind auch glücklich aufgegangen, aber können wir damit auch so umgehen, dass sie uns nicht gegenseitig die Augen ausstechen, dass wir nicht wie im Autoscooter permanent aneineinander stoßen und wegen unseres beschränkten Gesichtsfelds den Gehsteig unsicher machen wie Treibminen?" (1953)

Nun habe ich noch etwas mehr zu Flaubert und seine Reise nach Istanbul in Erfahrung bringen können... . Flaubert, der der französischen Gesellschaft überdrüssig war, er verachtete die Spießbürgerlichkeit, den geregelten bürgerlichen Lebensablauf der Franzosen, kam nach Istanbul und hatte Syphilis. Obwohl er diese ansteckende Krankheit mit sich trug, suchte er ein Bordell auf. Da die Mädchen ihm dort nicht anziehend und sauber genug erschienen, bedrängte die Puffmutter ihre eigene Tochter, die sich erst weigerte, mit Flaubert sexuell zu verkehren, so verlangte sie schließlich von ihm, ihr seinen Penis zu zeigen. Um seine Wunde für sich zu behalten, tat er so, als sei er beleidigt, und zog ab. Und so hatte das Mädchen ein richtiges Gespür und ich frage mich, ist das der Flaubert, den ich literarische kenne :D, und der bewusst das Mädchen angesteckt hätte und sie gesundheitlich gefährdete, damit er sein Vergnügen gehabt hätte?... . Dies halte ich schon als äußerst kriminell. Heute kann man dafür belangt werden und ein hohes Schmerzensgeld einklagen... . 

 Flaubert bereiste zudem Kairo, ging in das dortige Krankenhaus, und ließ sich Syphiliskranke zeigen, die vor ihm die Hose runter ließen, weil er die Krankheit, von der er selber betroffen war, studieren wollte... . Ziemlich grotesk, finde ich :D.

 Flaubert war mit dem Ziel in den Orient aufgebrochen, nicht nur schöne Landschaften zu erblicken, sondern auch die Krankheiten und die Seltsamkeiten anderer Leute, doch die eigene Krankheit und Seltsamkeit, die er dabei abbekommen hatte, wollte er keineswegs zur Schau stellen. In dem glänzenden Werk "Orientalist", das man in Istanbul leider nur liest, um im Nationalgefühl zu baden und sich wieder einmal bestätigen zu lassen, wie schön doch der Orient ohne die Europäer wäre, geht Edward Saar liegt sehr einfühlsam auf (…) Flaubert ein und erwähnt die Krankenhausszene in Kairo, nicht aber die ergänzende Begebenheit in dem Bordell in Istanbul. Dabei wurde die Syphilis (die ihren Ursprung anscheinend in Amerika hatte) sowohl von den europäischen Reisenden als auch von den türkischen Nationalisten die" französische" Krankheit genannt, wie man ja Krankheiten überhaupt gerne anderen Zivilisationen anlastet.

Manche Thermen in dem Buch erinnern mich an westliche Autoren. Pamuk kritisierte die reichen Türken, die ohne ihr Zutun einfach reich waren und nicht arbeiten mussten und so ziemlich geistlos lebten. Ich dachte dabei an Marcel Proust, BD 3 "Die Guermantes". Viele Aristokraten, die ihre Zeit mit Gesellschaftgeben und sich über andere das Maul zerrissen und dadurch so viel Zeit verplemperten, und nur wenige zeigten Interesse an höherwertigen Themen, wie z.B. der Kunst. Pamuk sprach von einer inneren Leere jener wohlhabender Leute... . Viele Reiche gingen auch keinem Glauben nach, waren eher bemüht, westlich zu leben, und belustigten sich über die armen Leute, die aufgrund ihres harten Lebens wohl eher auf Gott angewiesen wären. Pamuk hat es so schön beschrieben, dass die Reichen auch die Wahl gehabt hätten, an Gott zu glauben, aber sie brauchten Gott nicht, um gut zu leben :D... . Es gab aber auch Reiche, die total traditionell islamisch lebten, die den Reichtum allerdings anders bewerteten, als die reichen nichtgläubigen Türken... . 

Pamuks Gottesbild ist das einer Frau. Einer älteren Frau im weißen Gewand, deren Gesicht aber nicht deutlich zu sehen ist... . 

Dass ich mein Bild von dem weiß gewandetem, ehrwürdigen Gott nicht weiter entwickelte und in meiner Beziehung zu ihm nicht über ein mit Vorsicht gepaartes Desinteresse hinaus kam, lag sicherlich auch daran, dass niemand zu Hause mir in dieser Hinsicht irgendein Unterweisung gab. Wahrscheinlich wussten sie mir schlicht nichts beizubringen, denn von den Familienmitgliedern sah ich nie jemanden beten oder fasten. Es lebten alle dahin wie die französische Bourgeois, die sich von der Religion zwar weit gehend gelöst haben, aber von einer endgültigen Abrechnung damit dennoch zurückschrecken.

Auch Pamuk machte sich über Gläubige lustig, versuchte als Junge die Haushälterin vom Beten abzuhalten, und als sie ihm drohte, dass seine Finger, mit denen er ihr mitten im Gebet am Kopftuch zog, zu Stein werden ließ, so wagte er es ein weiteres Mal und bekam die Bestätigung über die Nichtexistenz Gottes, da seine Finger so blieben wie sie waren :D.
Solange arme und geplagte Menschen mit ihrem hartnäckigen Bemühen Gott in Erinnerung bringen wollten, dass sie hilfsbedürftig waren, störte mich und meine Familie das nicht weiter, ja wir waren sogar froh, dass sie außer uns noch jemand anderes hatten, auf den sie bauen konnten. Es nagte lediglich die Befürchtung an uns, jener Gott hätte eines Tages von denen, die nicht so waren wie wir, als gegen uns gerichtete Kraft verwenden werden.
Interessant finde ich auch, dass nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Istanbul zwischen zwei Stühlen steht, da das Land sich seit dem in einen "Verwestlichungsprozess" begab, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Zerrissen zwischen Moderne und Tradition, zwischen Europa und Orient, ist heute noch deutlich zu spüren, wie dies an dem Stadtbild Istanbuls zu sehen ist, wenn man auf deren Gassen flaniert. Gegensätze ohne Ende... . Aber das macht ja das Bild so interessant. Nach sechshundert Jahren islamischer Geschichte ist es nicht zu verwundern, wenn die Türkei in vielen Gebieten noch islamisch geprägt ist, ist ja bei uns ähnlich, da ja viele Christen nach dem rückständigen Mittelalter auch nicht aufgehört haben, sich als Christen zu bezeichnen :D.

Pamuk glaubte nicht an einen strafenden Gott, vor wem er sich mehr fürchtete, waren die strengen Gläubigen, die ihren Zorn auf Menschen wie ihn richteten. 

Ich frage mich auch oft, was ist das für ein Gott, der Menschen so stark maßregeln und bestrafen muss? Ist er, sollte es ihn geben, nicht eher jemand mit unendlicher Güte und Liebe zu charakterisieren? Es sind jene Menschen, die sich nach solch einen strafenden Gott sehnen, weil sie im Grunde Menschen verachten, die anders leben... . 

Politisch herrscht auch in der Türkei die Trennung von Staat und Kirche und so ist Religion Privatsache jedes einzelnen Menschen geworden.
 

Die arabische Schrift abzulegen und zur lateinischen überzuwechseln, finde ich schon ein reisen Sprung... . Um von der westlichen Welt anerkannt zu werden, hatte sogar Atatürk (seit 1922) eine westliche Kleiderordnung vorgeschrieben... . Viele europäische Schriftsteller, besonders Franzosen, würdigten die aus dem Islam geprägten Kleider total herab... .

Pamuk störte sich an den zu hohen Anpassungsdruck:
Wie kommt es, dass die Melancholie und der "hüzün" darüber, dass das Osmanische Reich zerfallen und Istanbul dabei war, seine Seele an den Westen zu verkaufen?
Interessant fand ich das düstere Stadtbild, völlig heruntergekommen und verarmt und trotzdem hat Istanbul ein Gesicht, eine eigene Seele, ein eigenes Leben, wie der Autor sich ausdrückt. Nur wenige Schriftsteller waren aber in der Lage, die Seele der Stadt zu erblicken bzw. diese zu ergründen. Die meisten waren nur außenorientiert, sahen außer der Fassade nichts anderes und desto abwertend fielen dann die Reiseberichte aus... . Mich ziehen ehrlich gesagt solche dunklen Städte und Dörfer total an, weil sie mehr zum Ausdruck bringen als Gegenden, die nur mit Villen bestückt sind und wie geleckt aussehen :D. 

Diese heute größtenteils verschwundene melancholische Baufälligkeit war zu meiner Kindheit schlichtweg die Seele Istanbuls. Dass es aber zu einer "Entdeckung" dieser Seele kam, dass man plötzlich fand, sie sei schön und ein "grundlegendes Merkmal", das vollzog sich auf recht verschlungen Wegen voller Zufälle und Gegenreaktionen.
Franzosen, die recht abfällig und als ein rückständiges Istanbul sich äußerten, obwohl die Stadt schon damals recht vielsprachig und mutlikulturell belebt war, sprachen außer ihrer eigenen Sprache keine andere und weist auf ihren eigenen Nationalismus und auf eine Verherrlichung ihrer eigenen Kultur hin :D . Es ist immer einfach mit den eigenen Maßstäben zu reisen, und den anderen Ländern mit einem gehobenen Zeigefinger zu begegnen. Solche Reisenden sollten besser zu Hause bleiben, da wo es sich doch sowieso besser lebt als anders wo.

Pamuk selbst identifizierte recht stark mit Istanbul, das durch seine Baufälligkeit und seine Düsternis etwas Melancholisches in sich verbarg und klagte über eine innere, seelische Zerrissenheit bei sich selbst und bei der Stadt, die er als nichts Ganzes und nichts Halbes beschreibt. Sie sei nicht mehr orientalisch aber auch nicht westlich. Eine unfertige Stadt, unter der er litt. 
Bei Leuten wie mir, die in Istanbul mit einem Bein in der einen Kultur und mit dem zweiten in einer ganz anderen leben, ist dieser "westliche Beobachter" nicht unbedingt eine echte Person, sondern vielleicht eine Fiktion, ein Traum, eine Selbsttäuschung.
Erst bewunderten die jungen Leute in Istanbul Amerika, aber gleichzeitig wurden sie auch desillusioniert, da die Amerikaner sich durch den Atomkrieg in Hiroshima 1945 und durch den Vietnamkrieg 1968 schuldig machten. Auch hier entsteht eine Zerrissenheit zwischen Idealisierung und Abwertung... .

Ich denke, dass diese Zerrissenheit, unter der Pamuk so sehr leidet, nach sechshundert Jahren Osmanischer Geschichte normal ist. Es benötigt einfach sehr viel Zeit, bis eine neue Verwandlung als Ganzes abgeschlossen ist... .

Aber was heißt schon Verwestlichung? Auch der Westen lebt Multukulti, auch der Westen ist geprägt von verschiedenen Religionen und Nichtgläubigen und so eine einseitige Welt existiert nur in der Vorstellung von Menschen, die Vielfältigkeiten und Differenzen nicht vertragen können... . 
Ich bin  sicher, dass auch der Islam seine Stärken hat. Und dass auch der Islam von einem gütigen Gott spricht... . Es kommt darauf an, welche Dogmen daraus gesponnen werden, und den Menschen starke Vorschriften machen. 

Als eine Tierschützerin muss ich auch dies einbringen:

Auf den Straßen Istanbuls grassierte auch eine Horde von Straßenhunden. Statt diese zu töten wurden sie auf die unbewohnte Insel Sivriada verfrachtet, doch die Hunde fanden immer wieder in die Stadt zurück :D.

Zum Schluss hin ging es nochmals darum, dass Pamuk gespalten war, was seine berufliche Laufbahn betraf. Als großer Melancholischer, wie schon gesagt bezeichnete er die Stadt selbst  auch als melancholisch, als "hüzün", fühlte er sich dadurch immer mehr der Malerei hingezogen. Zum einen wollte er Maler werden, zum anderen sollte er Architektur studieren. Er war zwar schon an der Technischen Universität in Istanbul eingeschrieben, aber er haderte immer wieder mit dem Studium und war oft nah dran abzubrechen. Die Mutter warnte ihren Sohn immer wieder, da in der Türkei Künstler nicht gut angesehen seien, anders in Europa, wo aber auch nur die Besten durchkämen... . Auch die Mutter idealisiert  stark Europa, was bei vielen Türken der Fall war, die bestrebt sind, sich westliche Standards anzueignen. In Europa wird die Kunst zwar geliebt, doch auch dort wollen Eltern, nicht anders wie in der Türkei, dass ihre Sprösslinge etwas Handfestes lernen. 

Aus der weiteren Recherche geht hervor, dass Pamuk das Architekturstudium abgebrochen hat, aber Politikwissenschaften studierte und zum Journalismus überwechselte... . 

So, hier mache ich mal Schluss. Ich möchte nur noch erwähnen, dass ich viele andere Punkte, die auch wichtig waren, aber des Umfanges wegen unerwähnt lassen musste.

Zu Erinnerung: Ich führe keine literaturwissenschaftliche Diskussion, sondern ein Lesetagebuch fragmentarischer Art... . Ich habe von meinen Eindrücken geschrieben, mehr nicht. Ich möchte andere LeserInnen ermutigen, das Buch selbst zu lesen!


Mit dem gelesenen Buch habe ich ein wichtiges Ziel erreicht, in dem es mir die Welt in Istanbul nahe gebracht hat und ich viel von dem Autor Orhan Pamuk lernen durfte. 

Ich freue mich auf ein weiteres Buch von ihm, das noch ungelesen im Regal steht. 
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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“
(Theodor Fontane)

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