Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre
Ich habe heute das Buch zu Ende gelesen und ich muss sagen, ich bin erstaunt über den untypischen Schreibstil von Charles Dickens, was sicherlich mit der Thematik zusammenhängt. Der Schreiststil ist recht trocken, wenig fantasievoll, recht gefühlsarm, dafür keine Sentimentalitäten und keine Gefühlsduselei... In diesem Buch fließen fast keine Tränen... Die darin beschriebene Welt ist absolut auf Sachlichkeit und Tatsachen gebaut.
Die Schule von M´Choakumchild war durchgehends Tatsache; die Zeichenschule sei durchgehendst Tatsache und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren lauter Tatsachen. Alles war auch Tatsache, von der Entbindungsanstalt bis zum Kirchhof. Was man also nicht mit Zahlen beweisen dartun konnte, das auf dem billigsten Markt zu kaufen und auf dem teuersten zu verkaufen war, das hatte keine Existenzberechtigung, das sollte niemals sein, bis zu aller Welt Ende, Amen.
Es war verboten, Kindern Märchen und
Geschichten zu erzählen. Wenn
Kinder von solchen Gestalten träumten oder gar erzählten, wurde ihnen diese
sehr bald von ihren Lehrern ausgetrieben. Selbst bunte Blumenmuster auf Teppich
und Tapeten wurde ihnen ausgeredet, da diese keine echten Blumen seien… .
"Hierin beruht die Springfeder der mechanischen Kunst und des Geheimnisses, die Vernunft zu erziehen, ohne sich zur Ausbildung der Gefühle und Neigungen herabzulassen. Man muss sich nie wundern! Bringe alle Sachen vermittels Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division in Ordnung und wundere dich nie. "Gibt mir ein Kind", sagt M`Choakumchild, "das wenigstens allein gehen kann, und ich werde es dahin bringen, dass es sich niemals mehr wundert!"
Menschen werden zu Maschinen erzogen, alles ist genau berechnet. Literatur, Poesie, Kunst... gibt es keine, da sie nicht erlaubt ist. Die Menschen haben keine Träume. Die Menschen sind alle gleich... . Die Welt in England beruft sich lediglich auf Zahlen und Statistiken. Die Kinder in der Schule werden nicht mit Namen aufgerufen, sondern mit Nummern... . Die Städte und Dörfer sind durch die vielen Fabriken voller Nebel, Dreck, die Luft voll Ruß.... Die Menschen sind keine Menschen, sondern lediglich Fabrikarbeiter, die den Dreck für die hohen Bosse, Fabrikanten, Bankiers etc. tun und deren schwere Fabrikarbeit an lebensgefährlichen Maschinen gebunden ist... .
Es gibt eine Romanfigur, die sich gegen das System auflehnt... . Stephen Blackpool, der eine Unterredung mit dem Fabrikanten Mr. Bounderby sucht:
" Sir, ich möchte mich niemals darüber auslassen, obwohl ich mein Teil mitgelitten habe. Wir stecken in der Tat in tiefer Bedrübnis, Sir. Blickt in der Stadt umher - so reich sie auch ist - und betrachtet die Zahl der Leute, die nur dazu geboren scheinen, um zu weben und Wolle zu krämpeln, und die das Leben alle in gleicher Weise fristen - von ihrer Wiege bis zu ihrem Grab. Seht doch, wie wir leben, wo wir leben und in welcher Anzahl, unter welchen Aussichten und mit welcher Gleichförmigkeit; seht nur, wie die Maschinen immerfort arbeiten und wie sie uns doch nie einem fernen Gegenstand näher bringen - außer stets dem Tod. Seht nur, wie ihr uns beurteilt und über uns schreibt und spricht und unseretwegen eure Deputationen zum Staatssekretär schickt, und ihr stets Recht habt und wir stets Unrecht, und wie wir kein Funken Verstand in uns haben, seitdem wir geboren wurden. Seht nur, wie das zugenommen hat, Sir, stärker und stärker, immer weiter und weiter und immer schwerer und schwerer, von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation. Wer kann das alles betrachten, Sir, und einem Mann kühn sagen, dass es kein trauriger Zustand ist?"
Doch nicht nur die Fabrikarbeiter sehnen sich nach mehr Menschlichkeit, nein, auch die Kinder der Bankiers leiden auf ihre Weise. Das Geschwisterpaar Tom und Luise Gradgrinds z.B., Kinder aus wohlhabendem Hause, versuchen sich gegenseitig beizustehen, wenn sie in familiäre, seelischen Nöte geraten. Ganz besonders Luise, die ältere von den beiden, kümmert sich mit viel Hingabe um ihren recht sorgenvollen Bruder, es ihr aber, ohne Ideale dastehend, an jugendlicher Weisheit fehlt:
"Sieh, Tom, da ich immer älter und größer werde, sitze ich oft da, mich wundern und nachdenken, wie unglücklich ich doch bin, dass ich dich mit unserem elterlichen Hause nicht besser versöhnen kann. Ich weiß nicht was andere Mädchen können. Ich kann dir nicht vorsingen oder vorspielen. Ich kann kein Gespräch mit dir führen, um deinen Geist zu erheitern; ich sehe nichts Unterhaltendes und ich lese keine unterhaltenden Bücher, dass es dir zum Vergnügen gereichen könnte, wenn ich mit dir darüber spreche, wenn du der Ausspannung bedürftig bist."
Und gerade diese Ödnis, durch den Mangel an
Literatur und an Kunst, Mangel an Spiele und Freuden spürt man ganz deutlich in
dem Buch, wie geistig eintönig die Menschen durch das System, das sich nur auf
Tatsachen stützt, dort leben... .
Luise, zwanzig Jahre alt, wird mit einem um dreißig
Jahre älteren Mann verheiratet, der sowohl Bankier als auch Fabrikant ist.
Luise willigte der Vermählung nur aus Liebe zu
ihrem Bruder Tom zu, der allzu verschuldet ist. Sie erkennt kurze Zeit darauf ihren groben Fehler, ihren Bruder, der
immer mehr auf Abwegen gerät, konnte sie nicht retten, und hat sich zudem in einen jungen Mann verliebt. Sie
reißt auf dieser Ehe heraus, flieht in ihr Vaterhaus und bittet um eine
Unterredung. In dieser Unterredung bringt sie diplomatisch alles zur Sprache,
was der Vater den Kindern in der
Erziehung versäumt hat ihnen für das Erwachsenenleben mitzugeben. Mitunter
wurde auch die unglückliche Ehe thematisiert, zu der Luise nicht mehr
zurückzukehren beabsichtigte:
"Nun, mein Vater, der Vorzug, den sich Kinder untereinander zu geben pflegen und von dem ich selbst gehört habe, hat in meiner Brust nie einen unschuldigen Sitz aufgeschlagen. Sie sind so vorsichtig mit mir gewesen, dass ich nie das Herz eines Kindes besaß. Sie haben mich sowohl erzogen, dass ich niemals den Traum eines Kindes geträumt. Sie sind, mein Vater, von meiner Wiege bis zur gegenwärtigen Stunde so weise mit mir verfahren, dass ich niemals einen kindlichen Glauben oder eine kindliche Furcht empfand."
Glaube und Furcht zählten auch nicht zu
Tatsachen, sondern zu Erfindungen.
Luise, eine recht sensible junge Frau, mit
einer ausgeprägten Intuition ausgestattet, spürt sehr wohl in sich, dass sie
etwas ganz Wesentliches, etwas ganz Elementares vermisst, so bringt sie auch
dies ihrem Vater zur Sprache:
"Wie konntest du mir Leben geben und mich alle meiner unschätzbaren Dinge berauben, die es über den Zustand bewussten Todes hinaufheben? Wo ist die anmutige Sicherheit meiner Seele? Wo sehen die Gefühle meines Herzens? Was hast du getan, o Vater, was hast du getan mit dem Garten, der einst hier in dieser großen Wildnis blühen sollte? (…) und dennoch, Vater, wenn ich stockblind gewesen wäre, wenn ich meinen Weg hätte tappend finden müssen und die Freiheit besessen hätte - da ich die äußere Form und die Oberfläche der Dinge kannte, meine Fantasie dabei als Richtschnur zu nehmen-, so würde ich jetzt um vieles weiser, glücklicher, liebevoller, unschuldiger unmenschlicher in jeder Beziehung gewesen sein, als ich jetzt mit meinen Augen bin. (…) Mit einem Hunger und Durst, Vater, die keinen Augenblick gestellt wurden - mit einem inbrünstigen Verlangen nach einer Region, wo Regeln, Zahlen und Definitionen nicht alles sind - bin ich aufgewachsen und habe mir meinen Lebenspfad Zoll für Zoll erkämpft."
Der Vater zeigt sich recht erstaunt über die
Worte seiner Tochter. Sie stimmen ihn traurig und nachdenklich. Er bestätigt,
dass es Menschen gibt, die davon reden, dass es sowohl eine Weisheit des
Herzens als auch eine Weisheit des Kopfes gäbe. Er dagegen habe nur an die Weisheit des Kopfes geglaubt:
Wie kann ich diesen Morgen zu behaupten wagen, dass es so ist. Wenn die andere Art von Weisheit das sein sollte, was ich vernachlässigt habe, und der Instinkt, der vonnöten ist, dann Luise…".
(...)
So, Ich mache nun hier Schluss, da meine Buchbesprechungen nichts anderes als Fragmente sein sollen, auch, weil ich nicht alles
verraten möchte. Mir geht es vielmehr um die vielen schönen Zitate, in denen so
viel Weisheit steckt, die ich nicht nur lesen möchte, sondern versuchen, sie
auch im Leben umzusetzen. Und am besten geht das, wenn man diese Textstellen
immer wieder nachschlagen kann.
Zum Schluss wird es in dem Buch wieder
dickerisch. Tränen sind reichlich geflossen, und nicht nur bei der Frau, bei
Dickens weinen nämlich auch die Männer... . Ich habe vergessen zu erwähnen,
dass es noch andere Merkmale in dem Buch gibt, die ich als typisch
Charles Dickens bezeichnen würde. Eine junge Frau, Luise, s. o., die sich für
ihren jüngeren Bruder aufopfert... . Das hat man oft in bei Dickens,
aufopfernde junge Frauen, die von wohlhabenden Männern gerettet werden... . Des
Weiteren taucht auch eine elternlose Figur auf, die von einem wohlbegüteten
Vater von mehreren Kindern aufgenommen wird. Ich bin auf diese nicht
eingegangen... und verweise auf das Buch, es selber zu lesen.
Das Fazit des Romans ist dieses, dass die
Weisheit, die ausschließlich aus dem Kopf stammt, unmenschlich macht. Sie ist
arm an Bildern, arm an Kreativität, und vor allem arm an Menschlichkeit. Nur
eine Ballance zwischen der Weisheit des Kopfes und der Weisheit des Herzens
macht den Menschen zu einem wahren und vollkommenen Wesen.
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„Die rechte
Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)
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Amin: Der Klang der Sehnsucht
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